
Prolog
Es war stockdunkel draußen. Im flackernden Licht der alten Straßenlaterne konnte man drei Gestalten erkennen. Nur das leise Klackern ihrer Schuhe auf dem Asphalt war zu hören.
Das kleine Mädchen zitterte. Sie verstand zwar nicht, was hier vor sich ging, aber es war, als könnte sie die Angst ihrer Eltern spüren. Ihr einst weißes Nachthemd war mit Blut und Dreck übersät und wehte im kalten Wind. Die Frau nahm die Kleine hoch, um sie an ihrer Brust zu wärmen, doch auch ihr eigner Körper war kalt wie Eis. Und trotzdem klammerte sich das Kind an die langen braunen Haare der Mutter, als wäre es das einzige, was sie noch am Leben hielt. Denn auch wenn es nicht viel brachte, brauchte das Kind etwas, woran es sich festhalten konnte. Etwas, was ihr Halt gab und die Hoffnung, dass doch noch alles gut werden würde.
Eine Wahl hatten sie nicht. Ein Zurück gab es nicht. Sie hatten keine andere Möglichkeit, als nach vorne zu schauen, als nach vorne zu gehen, als zu versuchen, dieser Hölle zu entrinnen. Nicht nur um ihre Willen... Nein! Es war das Kind, welches sie beschützen wollten. Ob sie dabei starben oder davon kommen würden, spielte keine Rolle, solange das Mädchen in Sicherheit war.
Es grenzte an ein Wunder, als die kleine Gruppe es tatsächlich geschafft hatte, unbemerkt durch die Gassen zu streichen. Niemand hatte etwas mitbekommen, etwas gesehen, etwas gehört. Jedenfalls hofften sie das.
Und jetzt standen sie hier. Direkt hinter ihnen das kleine Dorf. Vor ihnen, das Ziel. Etwas abseits, dort, wo nur noch das Licht des Mondes zur Sicht verhalf, stand eine kleine Hütte. Wenn man sie hier so sah, hatte man das Gefühl es würde wie ein Kartenhaus allein bei der Berührung zusammenfallen. Aber für die Flüchtenden bedeutete es Rettung. Egal, wie zerbrechlich diese war, wie geschwindend gering die Wahrscheinlichkeit, dass ER ihre Tochter nicht finden würde, sie mussten das Risiko auf sich nehmen. Eine andere Wahl hatten sie nicht. Und auch eine zweite Chance würde sich ihnen nicht bieten... nicht in diesem Leben.
Es war eine schwere Entscheidung. Aber sie wussten, sie hatten keine andere Möglichkeit, als ihr Kind abzugeben, es zu verlassen und wahrscheinlich nie wieder zu sehen. Ermutigend legte der Mann seiner Geliebten seine Hand auf die Schulter. Er wusste, wie schwer dieser Moment für sie war. Und auch für ihn war es kein leichter Schritt, aber er wollte stark sein, für seine Ehefrau, für seine Tochter.
Für einen Augenblick war das tiefe Ein- und Ausatmen der Frau zu hören. Sie wusste es, sie war bereit. Die Braunhaarige wollte gerade ihre zitternde Hand heben, um der morschen Holztüre das beruhigend hohle Klopfen zu entlocken, als diese von innen geöffnet wurde und eine weitere Frau erschien. Sie sah die Angst in den Gesichtern der Eltern, spürte ihre Panik. Sie wusste, was sie zu tun hatte und dass ihr nicht viel Zeit blieb. Sie musste handeln...jetzt!
Ohne zu zögern nahm sie den Flüchtenden das Kind ab. Die Kleine begann zu schreien. Sie wollte nicht weg, wollte zurück zu ihrer Mutter. Diese zog ihre Tochter in eine letzte Umarmung und wischte ihr die Tränen weg. Auch wenn das Mädchen nicht verstand, dass es eine Verabschiedung für immer sein würde, konnte sie die angespannte Stimmung spüren und wurde langsam ruhiger. Kaum hatte sie aufgehört, sich zu wehren, wurde ihr zierlicher Arm umschlossen und das Mädchen wurde ins Innere des Hauses gezogen.
Die Tür schloss sich. Sie stand wie eine schwere undurchdringbare Mauer zwischen der kleinen Familie. Und dass, obwohl sie so leicht zu durchdringen war. Die beiden Zurückgebliebenen hatten keine Ahnung was sie sagen sollten. Jetzt war es vorbei. Ihr Kind war weg. Für immer.
Man konnte das leise Schluchzen der Frau hören und die tiefe Stimme ihres Mannes, welcher sie in den Arm nahm und beruhigend auf sie einredete. Natürlich hatten sie gewusst, was ihr Handeln für Konsequenzen mit sich tragen würde und was passieren würde, wenn sie diesen Schritt nicht getan hätten. Der Gedanke an ihn, ihren Feind, ihren Tod, war das einzige, was die Entscheidung ein wenig leichter machte.
Würde sich ihr Kind an sie erinnern? Würde es wissen, wer ihre Eltern waren? Und wenn ja, würde es ihnen verzeihen? Konnte die Kleine überhaupt in Frieden aufwachsen? Würde sie ein Leben haben? Oder waren ihre Bemühungen um sonst gewesen?
Was wäre, wenn er das Mädchen finden würde? Sie zurück brächte und sie zu seinem machte? Sie kontrollierte, so wie er es auch bei ihrer Mutter versucht hatte. Würde sie dem Ganzen standhalten? Würde sie erkennen, was für ein Monster er war? Und würde sie dem Ganzen ein weiteres Mal entkommen können?
Das laute Rufen mehrerer Männer schallten durch die Nacht. Ihre schnellen Schritte kamen immer näher. Die Zeit um sich Sorgen zu machen war vorbei. Alles, was sie jetzt noch tun konnten, war hoffen. Hoffen, dass ihr Kind glücklich werden würde - auch ohne die Eltern. Dass es sicher aufwachse würde - ohne IHN. Dass es lernen würde, was es bedeutete, Verantwortung zu übernehmen und auf sein Herz zu hören - ohne Einflüsse.
Während die Frau noch immer wie erstarrt war, reagiert ihr Mann sofort. Er nahm ihre Hand und zog sie hinter sich her, bis sie schließlich ohne irgendein Ziel durch das kaum beleuchtete Dorf rannten. Weg. Einfach weg. Das ist alles, was sie wollten. Und doch sollte ihnen selbst dieser Wunsch nicht erfüllt werden.
Ein grelles Licht, ein Spitzer Schrei und dann...
...nichts als Dunkelheit.
Als die Braunhaarige ihre Augen wieder öffnete, war sie in Ketten gelegt. Sie kniete nicht am Boden, sie lag nicht auf hartem Stein, da war nichts, was sie berührte. Gerade so erreichten ihre Fußspitzen den Boden, während ihre Hände an der Decke festgemacht waren und somit, dass gesamte Körpergewicht trugen. Leicht benebelt konnte sie im rechten Augenwinkel die schwarzen Haare ihres Mannes erkennen. Auch er war an Ketten gefesselt. Seine Augen... geschlossen. War er Tod? Er durfte nicht Tod sein!
Und dann... sah sie es. Nur ganz klein, beinahe unmerklich, aber sie sah es: Seine Brust hob und senkte sich. Langsam. Aber sie tat es. Nun öffnete er auch seine Augen. Vorsichtig. Er war nicht tot... noch nicht... aber viel fehlte nicht mehr und der seidene Faden, an dem sein Leben hing, würde reißen.
„Dachtet ihr wirklich ihr könntet so leicht abhauen?"
Das war sie. Die Stimme, die beide so sehr fürchteten. Der Alptraum, vor welchem sie ihre Tochter hatten beschützen wollen. Aber wo war der Träger dieser Stimme? Suchend blickte sie sich um, konnte jedoch nichts erkennen. Eine raue, kehlige Lache ertönte: „Such nur, Süße. Du wirst mich ja doch nie finden", das Lachen verstummte, die Stimmung wurde bedrohlich ernst, „Aber kommen wir zum eigentlich wichtigen Thema: Wo ist SIE?"
Stille.
Keiner antwortete. Die Erwachsenen suchten mit angsterfüllten Augen vergeblich nach denen des jeweils anderen. „Hat es euch die Sprache verschlagen?" Wieder keine Antwort. Sie würden es ihm nicht sagen, das wussten beide. Sie hatten es nicht ausgesprochen. Nie. Nicht einmal. Und doch, wussten sie, dass beide für ihre Tochter sterben würden, wenn es seien müsste.
„Wollt ihr jetzt reden oder muss ich nachhelfen?" Die Stille beherrschte weiterhin den Raum. Dem Unbekannten riss der Geduldsfaden. Sie wollten nicht reden? Sie müssten doch wissen, wozu er im Stande war. Was er tat, wenn er eine Information haben wollte. Und dass er vor nichts zurückschreckte.
Aber gut..., wenn sie nicht hören wollten, dann mussten sie eben fühlen... Für einen Augenblick, nicht länger als der Flügelschlag eines Kolibris, konnte man das helle Licht eines Blitzes sehen, welcher sich kurze Zeit später in die Körper der Gefangenen bohrte. Ein stechender Schmerz durchzog diese, doch es kam kein Ton über ihre Lippen. Nur die schmerzverzerrten Gesichter deuteten an, was für Qualen sie erleiden müssten.
„Und jetzt?"
Keine Antwort. Nichts.
Ein weiterer Blitz folgte.
Und noch einer. Und noch einer. Immer mehr.
Eine Stunde...
..Nie hätten die beiden gedacht, dass eine Stunde so lang sein konnte. Aber das konnte sie. Gerade so am Leben, praktisch an der Schwelle zum Tod, aber doch noch fit genug, um alles deutlich mitzubekommen. Ihre Körper hingen schlaff hinunter. Sie waren nicht mehr, als eine Hülle, eine schwache, leblose, durchlöcherte Hülle. Ihr Inneres war schon komplett zerstört und schrie nach Erlösung. Das einzige Lebenszeichen gab der Herzschlag, der für den Unbekannten leise zu hören war.
„Ich Frage euch nun ein letztes Mal: WO IST DAS MÄDCHEN?" Seine Stimme hallte in dem ansonsten leeren Raum. Nur dumpf verstanden die beiden, was er gesagt hatte. Zu sehr waren ihre Gedanken bereits dabei, abzudriften, zu verschwinden, nie wieder zu kehren. Sie wussten, was sie zu tun hatten. Sie sahen keinen Sinn mehr im Leben. Es gab keine Hoffnung mehr dem Tod zu entkommen. Alles, was sie wollten, war sterben. Im Himmel vereint sein und von dort auf ihre Tochter wachen.
„In Sicherheit vor dir...
...Vater."
Es war nicht mehr als ein Flüstern. Vielleicht war es nicht einmal mehr das. Aber der Fremde hatte es trotzdem verstanden. Und genau das war auch das Ziel seiner Tochter gewesen. Er sollte sie verstehen. Sie wollte ihn provozieren, damit er es endlich beendete. Sie kannte ihn. Sie wusste, wie er tickte und was sie sagen musste.
„Glaubt mir, euer Schweigen wird sie nicht retten. Ich finde, was mir gehört!" Noch einmal war sein furchteinflößendes Lachen zu hören, bevor man ein rotes Licht erkennen konnte, welches die Körper traf.
Das war er. Der Moment, auf den die beiden gewartet hatten. Nicht nur ihr Inneres war nun Tod. Auch ihr Hülle, ihr Körper brannte nun lichterloh. Die Flammen fraßen sich ihren Weg durch das zerstörte Wrack, welches einmal einen Menschen dargestellt hatte, bis von den Umrissen seiner Tochter nichts mehr erkennbares übrig war. Und auch von ihrem Mann, ihrem Geliebten, seinem Schwiegersohn, war nicht mehr, als die schwarz verteilten Aschespuren.
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