
Kapitel 73
Julias Sicht:
Ich war so überrascht, dass ich tatsächlich meinen Kopf hob. Nicht vorsichtig und langsam, sondern ruckartig und schnell. Das war nicht Jason Stimme gewesen. Und wie ich wenige Sekunden später feststellen konnte, war das auch nicht Jason Gesicht, in welches ich da blickte. Es war die rothaarige Frau aus dem Auto, die mich komischerweise freundlich und lieb anlächelte.
„Bi... Bitte... erzä... erzähl...l...len S...Sie..." Ich wurde unterbrochen. Von einer Umarmung. Jetzt war ich nicht durch panisch und geschockt, sondern auch noch komplett verwirrt. Was sollte das alles? Wer war diese Frau? Was würde sie mit mir machen?
Es war merkwürdig. Trotz allem, trotz diesem Gefühlschaos in mir, trotz meiner Verwirrung, half die Umarmung. Ich beruhigte mich. Langsam, nicht von einem Moment in den nächsten, doch ich beruhigte mich. Die Tränen hörten auf, wie Wasserfälle über mein Gesicht zu laufen. Meine Atmung normalisierte sich. Mein Körper fuhr herunter.
Als die Frau merkte, dass ich mich sichtlich entspannte, ließ sie langsam von mir ab. „Geht's wieder?" Ein vorsichtiges Nicken reichte ihr aus, sodass sie sich etwas von mir entfernte. „So. Und jetzt fang noch einmal von vorne an."
„Bitte erzählen Sie niemandem, dass sie mich hier gesehen haben." Würde ich bei einem Wettbewerb fürs leise Sprechen mitmachen, würde ich diesen jetzt gerade zu 100% gewinnen. Demnach war es auch nicht verwunderlich, dass die Rothaarige erneut einen Schritt auf mich zu machte. „Tut mir leid, Schätzchen, aber du musst schon lauter sprechen, sonst versteh ich dich nicht." Ihr Lächeln war dabei so aufrichtig und liebevoll, dass ich ganz automatisch die Augen schloss, um mich noch einmal zu sammeln. Ich atmete durch. Tief ein, tief aus. „Können sie bitte niemandem erzählen, dass ich abhau... also, dass ich versuch habe..." Sie unterbrach mich, indem sie meine Hände in ihre nahm und somit meine Aufmerksamkeit auf diese richtete. „Keine Sorge. Von mir erfährt niemand etwas."
Es war, als ließe ich in diesem Moment die gesamte Luft aus meinem Körper und mit ihr verschwand auch meine Anspannung. Jetzt konnte ich mich entspannen, jetzt konnte ich die Angst und die Panik ein wenig in den Hintergrund schieben.
„Und jetzt komm. Nicht das dich noch jemand anderes sieht, dem die ganze Situation nicht so sehr gefällt." Scheiße. Daran hatte ich gar nicht mehr gedacht. Augenblicklich war mein Körper wieder auf Hochtouren. Panisch blickte ich mich u, inspizierte den gesamten Hof, versuchte einen Blick in jedes Fenster zu erhaschen.
Ein leises Kichern riss mich aus meinen Gedanken. Mein Blick heftet sich auf die Frau. „Keine Sorge. Hier ist niemand. Aber wir sollten dich jetzt trotzdem schnell wieder hineinbringen." Als ich nickte, schlang die Fremde ihren Arm um mich und führte mich somit zurück in meine ganz persönliche Hölle. Sie gab mir halt, sie führte mich, sie lies mich nicht alleine. Und irgendwie tat es gut. Es tat gut, zu wissen, dass ich nicht komplett auf mich gestellt seien sollte - auch wenn ich noch gar nicht wusste, auf wen ich da eigentlich meine Hoffnungen setzte.
Die Rothaarige meinte, sie wolle mich noch zu meinem Zimmer begleiten. Nur zur Sicherheit, wie sie sagte. Aber daraus wurde nichts. Beinahe auf der Hälfte hörten wir Schritte, schnelle Schritte. Und auch eine dazu passende Stimme wurde mit der Zeit immer lauter. Ich kannte diese Stimme und ich verstand auch deutlich, was sie sagte.
„Sucht sie. Überall. Ich will sie hier. Bei mir. Sofort."
Panik stieg in mir auf. Das durfte doch nicht wahr sein. Mein kompletter Körper verkrampfte sich. Ich fing an zu zittern. Meine Sicht verschwamm. „Julia?" Nur dumpf drang die Stimme zu mir durch. Jemand rüttelte an meiner Schulter. Nur schwach nahm ich die Berührung war. Mein gesamter Körper verkrampfte sich.
Das Rütteln wurde stärke, meine Sicht langsam wieder schärfer, die Anspannung blieb. Ein Gesicht tauchte vor meinem auf. Es war die Frau. Die Frau, von der ich noch immer nichts wusste. Nichts. Nichts, außer, dass sie mir nichts tun würde. Ich hatte keine Wahl, ich musste darauf vertrauen, dass sie die Wahrheit sagte.
„Julia. Hey Schätzchen." Eine Hand wedelte vor meinem Gesicht herum, was mich endlich wieder komplett zurück in die Realität holte. Woher kannte sie meinen Namen? Ich konnte mich nicht daran erinnern diesen ihr gesagt zu haben.
Ich hatte keine Zeit mir über diese Frage Gedanken zu machen, denn die Fremde sprach direkt weiter, nachdem ich ihr mit einem kurzen Nicken zu verstehen gegeben hatte, dass ich sie hören konnte. Und das, was sie sagte, war definitiv um einiges wichtiger, als diese dämliche Frage in meinem Kopf. „Hör mir zu. Renn so schnell du kannst zu deinem Zimmer. Ich versuch' dir Zeit zu verschaffen, ja?"
Das ließ ich mir nicht zweimal sagen. Noch immer war ich nicht komplett bei mir, noch immer schwankte ich bei den ersten Schritten ein wenig, doch dann riss ich mich zusammen und rannte, so schnell ich konnte, die Gänge entlang. Nicht nur einmal hatte ich mich durch meine Panik beinahe verlaufen, doch ich hatte Glück. Niemand sah mich, niemand kam mir entgegen, niemand versperrte mir den Weg.
Nach einer gefühlten Ewigkeit sah ich die weiße Holztüre, die mir wenigstens für einen kurzen Moment Sicherheit vor Jason, der jetzt wahrscheinlich mit der Fremden Diskutieren würde, geben müsste. Ohne zu zögern riss ich sie auf, huschte hinein und rannte schnurstracks zum Fenster. Luft. Ich brauchte Luft. Dringend. Jetzt.
Meine Hände zitterten, wie verrückt. Noch nie war es mir so schwer vorgekommen, einen Fenstergriff zu umschließen, ihn herumzudrehen, das Fenster zu öffnen. Doch schließlich schaffte ich es. Die kühle Abendluft strömte förmlich in mein Zimmer, durchflutete den Raum mit Sauerstoff.
Komplett erschöpft ließ ich mich auf die, zum Glück breite, Fensterbank sinken. Die Jacke hatte ich beim Reingehen abgestreift. Ich hätte nie gedacht, dass es einmal so ein erleichterndes Gefühl seien könnte, diese frische Luft in meinen Lungen zu spüren. Doch genau das war es. Es war unbeschreiblich, es war genau das, was ich gebraucht hatte, es tat einfach nur gut.
Endlich begann auch mein Gehirn wieder, seinem Job nachzugehen und zu versuchen, die tausenden Fragen in meinem Kopf auf die wichtigsten zu konzentrieren. Wer war diese Frau? Warum hatte sie mir geholfen? Hatte sie die Wahrheit gesagt? War sie doch auf der Seite von meinem Großvater? Kannte sie meinen Großvater überhaupt persönlich? Und woher kannte sie meinen Namen?
Es war unwahrscheinlich, dass ich auch nur eine dieser Fragen alleine beantwortet kriegen würde, weshalb ich sie erst einmal beiseite schob - Ordnung musste sein.
Eine neue Frage schob sich in meinen Vordergrund. Was würde wohl morgen passieren? Ich ging schwer davon aus, dass Jason vorhin im Gang mich geeint hatte. Und er klang wütend. Sehr wütend. Wusste mein Großvater davon? Ungewollt liefen mir wieder vereinzelte Tränen herunter. Die Angst, die panische Angst war zurück.
Heulsuse.
Lass mich doch einfach.
Und schon wieder hast du versagt.
Ich weiß.
Im Prinzip hättest du eine Bestrafung verdient. Dafür, dass du versagt hast, dass du schwach bist und dass du überhaupt lebst. Wenn du schon zu feige bist, dich selber zu bestrafen...
Nein! Das werde ich nicht tun.
Trotzdem kannst du nicht leugnen, dass du es nicht verdient hättest.
...
Siehst du. Du bist so erbärmlich. Wofür lebst du überhaupt?
Ich weiß es nicht.
Sogar deinen tollen Freunden bist du egal. Deine einzige Freundin bin und bleib ich, sieh's ein.
Bevor ich darauf noch „antworten" konnte, hörte ich, wie die Tür aufging. Ich konnte nicht sehen, wer eintrat, da ich mit dem Rücken zur Tür saß. Doch ich hatte Angst. Schreckliche Angst. Was, wenn-
Eine Hand legte sich auf meine Schulter, lies mich meinen Gedanken gar nicht erst zuende denken. Sofort verkrampfte ich mich. Die Hand verschwand zu meiner Verwunderung. „Warum weinst du?"
Mein Kopf schnellte nach oben. Es war die Frau. Die Frau mit den roten Haaren. „Ich dachte, du wärst jemand anderes." „Der aufgebrachte junge Mann vom Gang?" Ich nickte stumm. „Hör mir zu, Julia. Ich will dir nichts Böses. Im Gegenteil. Ich will dir helfen, so gut ich kann." Mit großen Augen sah ich sie an. „Wer bist du?" Sie lachte leicht. „Ich? Ich bin Katharina. Eine sehr gute Freundin deiner Mutter." Jetzt hatte sie mein Interesse eindeutig geweckt. Doch bevor ich weiter fragen konnte, fing sie selbst erneut an, zu sprechen. „Jetzt kommst du erst einmal da von der Fensterbank herunter. Du holst dir ja noch den Tod bei der Kälte." „Abe-" „Nichts aber. Du zitterst ja, wie Espenlaub."
Ich sah auf meine Hand herunter und tatsächlich: nicht nur sie, mein gesamter Körper zitterte, wie verrückt. Komisch, dass mir das nicht aufgefallen war. Ohne noch weiteres zu sagen, schloss ich das Fenster und setzte mich aufs Bett. Doch das war der Rothaarigen anscheinend noch nicht genug. Erst als ich auch noch eine kuschelige Jacke angezogen hatte, gab sie sich zufrieden und setzte sich mir gegenüber auf einen Sessel.
„Okay, ich denke, du hast tausende Fragen in deinem Kopf." Na das konnte sie laut sagen. Um sie nicht groß zu unterbrechen beließ ich es bei einem einfachen Nicken. „Also. Erst einmal das wichtigste. Wie bereits gesagt ist mein Name Katharina. Du musst wissen, deine Mutter und ich kennen uns schon, seit wir kleine Kinder sind. Wir haben immer alles zusammen gemacht und auch, als sie geheiratet hat und später mit dir schwanger wurde, war ich an ihrer Seite. Als es dann angefangen hat, so richtig heftig zwischen Aurelia und ihrem Vater, also deinem Großvater, zu krachen, kam sie eines Tage zu mir. Sie muss geahnt haben, dass es bald eskalieren würde. Und deshalb bat sie mich, auf dich aufzupassen, falls ihr etwas passieren würde. Naja... eine Woche später war sie tot und du... du warst verschwunden. Bis jetzt", sie seufzte einmal, bevor sie sich wieder fing und mit ihrer Erzählung fortfuhr, „Ich weiß, wie grausam Richard seien kann und ich will dir, wie bereits gesagt so gut, wie möglich helfen. Allerdings bin ich nur ein einfacher Engel. Mehr als mit ihm zu reden und für dich da sein, kann ich leider fürs erste nicht tun."
Aha. Sie war also ein Engel. Sofort leuchteten in meinem Gehirn die Karteikarten aus Namjoons Unterricht auf: Die einzigartige Fähigkeit, von Natur aus fliegen zu können; werden in die Elemente Feuer, Wasser, Erde und Luft aufgeteilt; können ihr jeweiliges Element beherrschen - welches Katharina wohl besaß...? Ich war mir sicher, noch mehr über diese Wesen gelernt zu haben, doch egal, wie sehr ich mich anstrengte, die Informationen wollten einfach nicht aus ihren Verstecken kommen.
„Aber bei mir zuhause habe ich noch ein paar Kontakte, die ich auf jeden Fall um Hilfe bitten werde. Ich wollte mir erst einmal selbst ein Bild von der Situation machen. Naja und wenn ich dich jetzt hier so sehe, dann war das wohl eine gute Entscheidung nicht?", holte mich mein Gegenüber aus meinen Gedanken.
Ich wusste nicht, was es war, doch irgendwie glaubte ich der Rothaarigen. Sie... sie wirkte einfach... aufrichtig. Und doch war da ein Punkt, der mich an allem zweifeln lies. „Wenn du mir helfen willst, warum hast du mich dann aufgehalten?" Katharina seufzte einmal tief, bevor sie sich erhob und auf mich zu kam. Dort setze sie sich neben mich, um meine Hände in ihre zu nehmen, sodass ich ihr in die Augen sah. „Liebes, du musst mir glauben. Ich wünsche mir nichts mehr, als dass du mir herauskommst. Aber das Tor ist durch Magie beeinflusst. Du wärst nicht hindurchgekommen. Stattdessen hätte es wahrscheinlich deinen Großvater „informiert" und das wollte ich verhindern."
Ich nickte verständlich. „Danke." Schon wieder schloss Katharina mich in eine liebevolle Umarmung. War es naiv, ihr einfach so zu vertrauen? - Vielleicht. Aber momentan war sie alles, was ich hatte. Eine andere Möglichkeit gab es für mich nicht.
* * * * *
Mit zögerlichen Schritten lief ich den Gang entlang. Obwohl er eigentlich über eine beachtliche Länge verfügte, war es als hätte er sich auf einmal um mindestens die Hälfte verkürzt. Am Ende sah ich schon mein Ziel. Mit jedem Schritt wurde ich langsamer, vorsichtiger, zittriger, bis ich schließlich vor der Tür stehen blieb. Ich hatte Angst. Ich wollte da nicht rein, wollte umkehren, weglaufen, verschwinden, für immer. Würde ich in diese Welt einen anderen Ort kennen, könnte ich mich dahin teleportieren. Doch alles was ich kannte, war dieses verdammte Schloss. Und jetzt hatte ich mich auch noch einer ganz anderen Aufgabe zu stellen.
Flashback
Auch wenn ich innerlich nervös war, versuchte ich äußerlich ruhig zu bleiben. Luise hatte vorhin zwar versucht mit mir zu reden, doch dieses Mal hatte ich komplett abgeblockt. Gestern hatte mir Katharina noch versprochen, dass sie mit meinem Großvater reden würde, doch was würde dabei herauskommen?
Zögernd betrat ich das große Esszimmer. Ich war nicht die Erste. In der Mitte des Raumes standen Katharina und Richard. Sie stritten heftig. Und um was? Natürlich um mich. Was sie genau sagten, verstand ich nicht, doch desto näher ich kam, umso verständlicher wurde die Unterhaltung.
Offensichtlich wollte Katharina, dass ich etwas von der Welt sehe. Raus aus diesem Schloss komme. Doch mein Großvater stellte sich komplett dagegen.
Ich wusste nicht so wirklich, wohin, mit mir. Irgendwie hatte ich das Gefühl, einfach fehl am Platz zu sein. Gerade wollte ich mich umdrehen, um mich wieder zu verziehen, doch die Stimme meines Großvaters hielt mich auf. „Julia, wo willst du hin." Ich zuckte zusammen und drehte mich langsam wieder um. „In mein Zimmer." Doch der Braunhaarige schüttelte den Kopf und machte ein paar Schritte auf mich zu. „Jason erwartet dich in seinem Büro. Er will etwas Wichtiges mit dir besprechen. Was genau, wollte er dir selber sagen. Er hat nur davon gesprochen, dass es um gestern Abend ginge und du wüsstest schon, was er meint."
Ich war wie eingefroren, wagte es nicht, auch nur einen klitzekleinen Muskel zu bewegen. Was hatte das zu bedeuten? Hatte er mich doch gesehen? „Gibt es irgendetwas, was ich wissen sollte?" Ganz langsam und vorsichtig schüttelte ich den Kopf.
Wow. Sehr überzeugend. Echt.
Auch Richard schien meine Unsicherheit bemerkt zu haben - war ja auch nicht so schwer - und zog nicht gerade überzeugt eine Augenbraue hoch.
„Jetzt lass das Mädchen doch gehen." Katharina war wirklich ein Engel. Von Kopf bis Fuß. Mein ganz persönlicher Schutzengel.
Flashback Ende
Und jetzt stand ich hier. Vor Jason fucking Monts' Büro. Ganz vorsichtig streckte ich meine Hand aus. Sie zitterte wie verrückt. Dann nahm ich alles, was von meinem bisschen Mut noch übrig war und klopfte drei Mal vorsichtig gegen die Tür. Es war nicht laut. Aber scheinbar laut genug.
„Ja."
Immer noch am ganzen Körper zitternd, drückte ich die Türklinke herunter und ließ damit meinen bevorstehenden Alptraum beginnen.
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