
Kapitel 72
Julias Sicht:
Fünf Tage, fünf Nächte und jetzt schon zum fünften Mal ließ ich mich abends weinend ins Bett fallen. In meiner Hand lag Namjoons Jacke, die ich tagsüber immer in der letzten Ecke des Kleiderschrankes versteckte. Ich wollte nicht, dass sie mir auch noch das letzte nehmen würden, was ich von den Jungs hatte. Was sie wohl jetzt machten? Schließlich war ja Sonntag. Ob sie mich vermissten?
Tzz. Als ob dich jemand vermissen würde.
Alles, alles war zerstört. Die ganze Selbstsicherheit, die Freude, alles, was ich bei den Jungs gelernt, bei ihnen aufgebaut hatte, war zerstört. Wir ein Kartenhaus war ich wieder in mich zusammengefallen. Und wäre da nicht Luise, die regelmäßig meine Arme zu Gesicht bekam, weiß ich nicht, ob ich nicht auch längst wieder zum Messer gegriffen hatte.
Tagsüber hatte ich keine Zeit, mir groß Gedanken zu machen. Mein Tag war strikt durchgeplant: Aufstehen, Frühstück, Theorie, Mittagessen, Praxis, Abendessen. So war ich zwar die meiste Zeit relativ abgelenkt und konnte nebenbei auch Jason mehr oder weniger aus dem Weg gehen, abends trafen mich meine Gedanken, Ängste und Zweifel dann allerdings mit voller Wucht.
Und wenn mir eins in den letzten Tagen bewusst geworden war, dann war es die Tatsache, dass ich hier raus musste. Schnell. Am besten noch heute. Ich wusste nicht wohin, aber es spielte auch keine Rolle. Weg. Hauptsache weg. Wie hatte das meine Mutter nur so lange ausgehalten?
Tja, die war eben nicht so schwach, wie du.
Musst du mich auch noch runter machen?
Dafür bin ich da. Ich werde so lange bei dir bleiben, bis du es beendest.
Das mache ich bald freiwillig.
Was anderes hast du auch nicht verdient.
Ein Geräusch riss mich aus meinen Gedanken. Das Klopfen an der Tür vererbte. Schniefend wischte ich mir die Tränen aus dem Gesicht und versuchte ein Lächeln aufzusetzen, bevor ich de Person antwortete.
Ich hatte Glück. Es war nur Luise, deren Lächeln direkt in sich zusammenfiel, als sie mich sah. „Oh Gott, was ist denn mit dir passiert?!" Mein aufgesetztes Lächeln verschwand binnen Sekunden in der letzten Ecke, aus der ich es wenige Sekunden vorher noch herausgekramt hatte. Auch mein Blick wendete sich wieder meinen Händen zu - ich hatte gar nicht gewusst, wie interessant diese seien konnten.
Erst war das Schließen der Tür zu hören, dann das sumpfe Klackern der Schritte, als die Blonde zu mir herüberkam. Dort setzte sie sich auf die Bettkante und begann, mir vorsichtig über den Rücken zu streichen. „Du hast Heimweh oder?" Kurz nickte ich. Das beschrieb es wohl ganz gut. „Und sonst?" Ich zuckte mit den Schultern. Die Lust zum Reden war mir nicht vergangen, sie hatte nie existiert. Ich war wieder zu dem schüchternen, kleinen Mädchen geworden, welches damals vor ihrer Vergangenheit aufs Internat geflohen war.
„Du willst nicht darüber reden, hm?" Wieder nickte ich. Dann spürte ich, wie sich zwei Arme um mich schlangen und Luise mich näher zu sich zog, während ich wieder angefangen hatte zu weinen. „Wenn du nicht willst, ist das okay. Aber falls du doch irgendwann jemanden brauchst, kannst du immer zu mir kommen, ja?" Immer noch schluchzend nickte ich jetzt zum wahrscheinlich tausendsten Mal.
„Warum bist du überhaupt gekommen?" Langsam löste sie sich von mir. „Ich sollte dich eigentlich zu Sir Monts schicken, aber ich werde ihm ausrichten lassen, dass es dir gerade nicht gut geht." „Denkst du, er wird sich damit zufriedengeben?" Nicht gerade überzeugt sah ich zu meiner Freundin auf, doch diese zuckte lediglich mit den Schultern. „So wie ich das Arschlo-"
Sie unterbrach sich selber und sah mich geschockt an. „Was ist? Er ist ein Arsch. Das auszusprechen ist doch nichts Schlimmes." Luise fing an zu kichern. „Ich wusste nicht, dass du so über ihn denkst." Nun stimmte auch ich etwas in ihr Lachen ein. Und zart, nur ein wenig. Doch es tat so unglaublich gut. „Ich hasse diesen Typen." „Na dann tut es mir zwar umso mehr leid für dich, aber wenigstens kann ich ihn dann so nennen, wie ich will", einen Moment schien Luise in Gedanken versunken zu sein, bevor sie sich wieder fasste, „Naja, wie dem auch sei. Jedenfalls... So wie ich ihn kenne, wird er, wenn du Pech hast, vielleicht noch einmal zu dir kommen. Aber am besten stellst du dich einfach schlafend, dann sollte das schon funktionieren."
Dieses Mal war ich diejenige, die die Kleinere in eine Umarmung zog. „Danke. Ich wüsste nicht, wie ich das hier ohne dich aushalten würde." Wieder fing sie an, mir über den Rücken zu streicheln. „Du scheinst es ja auch so schon schwer genug zu haben. Und jetzt mach dich schnell Bettfertig. Ich versuch dir so viel Zeit, wie möglich zu verschaffen, aber ich denke, mehr als 15 Minuten werden es auf keinen Fall."
Kaum war meine neue Freundin weg, sprang ich förmlich auf, um mir meinen Pyjama anzuziehen. Dann noch schnell Haare aufmachen, einmal Wasser ins Gesicht klatschen und Zähne putzen. Das waren die Momente, in denen ich entdeckte, wie schnell ich eigentlich im Bad seien konnte, wenn ich nur wollte. Etwas über diesen Gedanken schmunzelnd, krabbelte ich schnell ins Bett und zog die Bettdecke so über mich, dass beinahe mein gesamtes Gesicht durch diese und meine Haare verdeckt war.
Das Ganze geschah keine Sekunde zu früh. Im nächsten Moment konnte ich schon schnelle Schritte auf dem Gang hören. Kurz darauf klopfte es an meiner Tür, weshalb ich direkt die Augen schloss und nicht antwortete.
Ich konnte hören, wie die Tür stürmisch geöffnet wurde, bewegte mich allerdings keinen Zentimeter und versuchte meine Atmung gleichmäßig zu halten. Ich hörte das leise Klicken des Schlosses und dann genau so vorsichtige Schritte die in meine Richtung kamen. Man konnte spüren, wie sich die Matratze an einer Stelle etwas senkte, weshalb ich davon ausging, dass sich die Person, von der ich jetzt mal behauptete, dass es sich Wohl oder Übel um Jason handelte, auf dieses gesetzt hatte.
Meine Vermutung bestätigte sich, als ich eine Hand an meinem Kopf wahrnahm, die mir ein paar Strähnen aus dem Gesicht strichen. Der Drang in mir, aufzuspringen, um seine Hand wegzuschlagen, war riesig, doch stattdessen blieb ich komplett ruhig liegen und ließ alles über mich ergehen.
Warum ging der nicht wieder? Es waren bestimm schon 10 Minuten vergangen. Trotzdem bewegte ich mich kein Stück. Ich hatte immer noch die Hoffnung, dass er einfach wieder gehen würde.
Als wenn meine stillen Gebete erhört worden wären, merkte ich noch, wie mir der Schleimbolzen einen Kuss auf die Stirn drückte und dann zu einem Glück endlich wieder aus dem Zimmer verschwand. Sofort schlug ich die Augen auf und rieb mir angeekelt über die Stirn. Was ein Arschloch!
* * * * *
Ich musste zwar meinem Großvater und Jason am nächsten Tag erzählen, ich hätte Kopfschmerzen und Übelkeit gehabt und wäre deshalb so früh ins Bett gegangen, aber ansonsten war die Sache glücklicher Weise ziemlich schnell wieder vom Tisch.
Auch meinen zugegebenermaßen nicht gerade schlechten Unterricht hatte ich erfolgreich überstanden, was bedeutete, dass sich ein weiterer Tag bereits dem Ende neigte. Und obwohl ich mir sicher war, Namjoon hätte mir nicht so viel beibringen können, hätte ich trotzdem lieber weiter in dem kleinen, versteckten Trainingsraum trainiert, als hier, in einem der großen, modernen Zimmer dieses verfluchten Schlosses.
Der Tag schein wohl wirklich nicht der schlechteste bislang zu sein, denn das Krankheitsalibi vom vorherigen Tag hatte nun dazu geführt, dass mein Großvater beim Abendessen gemeint hatte, ich solle heute am besten noch einmal früher schlafen gehen, damit ich nicht doch ernsthaft krank werden würde. Der Vorteil für mich: Ruhe, Ungestörtheit und Zeit. Alles drei Eigenschaften, die mir definitiv zu einer Fluch verhelfen würden.
Im Gegensatz zu Richards Vorstellungen stand ich nämlich nun, wieder in Namjoons schwarze Jacke eingepackt und mit festen Schuhen an den Füßen, an der Tür. Ich dachte mir, wenn ich es wirklich schaffen sollte, könnte ich ihm die wenigstens noch vorbeibringen, bevor ich danach verschwinden würde. Vielleicht zu Emily? Durch die Teleportation klappte das ja...
Aber darüber konnte ich mir auch später Gedanken machen. Viel wichtiger war es jetzt, mich darauf zu konzentrieren, nicht entdeckt zu werden. Es dämmerte erst, was die ganze Sache für mich noch einmal erschweren würde, doch mit Einbruch der Nacht würden die Tore geschlossen werden und es würde definitiv unmöglich für mich werden, auszubrechen.
Den Anfang hatte ich bereits geschafft. Und ich würdewirklich gerne sagen, dass es sich dabei um das schwierigste Stück gehandelt hatte, doch dem war leider nicht so. Momentan befand ich mich erst im Erdgeschoss und musste es dementsprechend noch irgendwie über den Hof und aus dem Tor schaffen. Danach hieß es nurnoch rennen.
In der Theorie hatte ich mit meinem Lehrer mal irgendwann besprochen, wo der nächste Übergang zu finden war und wie ich diesen zu benutzen hatte, doch ob ich dies dann auch wirklich schaffen würde, war nur zu hoffen.
Vorsichtig lugte ich aus einem Fenster, durch welches ich den gesamten Hof überblicken konnte. Ich hätte Freudensprünge machen können, als ich bemerkte, dass dieser erstens gerade leer war und ich zweitens am Rand eine Hecke entdeckte, die es mir möglich machte, ungesehen in Richtung des Tores zu kommen. Na dann mal los.
Mein Hand zitterte, als ich die Türklinke herunterdrückte. Ein lauter Seufzer der Erleichterung entfloh mir, als ich bemerkte, dass sie tatsächlich offen war. Sofort schlug ich mir die Hand vor den Mund und blickte mich panisch um.
Nichts. - Puh das war knapp.
Die Türe öffnete ich nur einen winzigen Spalt und schob mich durch diesen hindurch. Dann sprintete ich hinüber zur Hecke, um hinter dieser Schutz zu suchen. Immer noch leicht zitternd spähte ich über das dichte Grün hinweg. Mehrfach sah ich mich um, blickte nach rechts, blickte nach links, doch es war tatsächlich niemand zu sehen. Okay, Julia. Dann weiter. Du schaffst das!
Du schaffst garnichts.
Halt die Klappe! Dich kann ich jetzt wirklich nicht gebrauchen.
Zu meiner Verwunderung blieb die Stimme auch wirklich mal mucksmäuschenstill. Wenigstens etwas Positives...
In der Hocke robbte ich weiter voran. Langsam. Ganz langsam. Dabei lag meine Prioritär auf dem Punkt, so wenig, wie nur mögliche Geräusche zu machen. Denn auch wenn ich niemanden sah, wurde ich die Angst nicht los, jemand könnte mich hören oder gar sehen.
Gerade als ich an der Mitte der Hecke angekommen war, brach etwas Trubel auf dem Hof aus. Wahrscheinlich wäre es das beste gewesen, ich hätte mich noch kleiner gemacht, als sich das Tor öffnete und ein Auto hineinfuhr. Doch stattdessen blieb ich einfach stocksteif in meiner Position.
Ich wagte nicht hinzuschauen, als ich eine Autotür schlagen hörte. Erst, als ich das Klackern von Absätzen vernahm, traute ich mich, ganz vorsichtig über die Hecke zu spähen, was zu meinem Bedauern eine unglaublich schlechte Idee gewesen war, wie sich Sekunden später herausstellte.
Sobald ich bemerkte, dass die rothaarige Frau direkt in meine Richtung sah, zog ich sofort den Kopf zurück. Jetzt machte ich mich klein. Und wie. So gut es ging, kauerte ich mich am Boden zusammen.
Das Klackern wurde lauter.
„Jetzt ist es vorbei." Das war alles, was in meinem Gehirn Platz hatte. Ich wollte nicht wissen, was mein Großvater tun würde, wenn er von meiner Aktion Wind bekommen würde. Aber gut würde es für mich sicherlich nicht ausgehen, das war klar.
Ich weiß nicht, wie groß der Stein war, der in dem Moment von meinem Herzen fiel, als sich die Schritte wieder entfernten. Hatte sie mich wirklich nicht gesehen? Sollte ich wirklich Glück gehabt haben und damit eine Chance, hier raus zu kommen?
Langsam hob ich meinen Kopf wieder. Ich blickte über den Hof. Nichts. Niemand. Er war genauso ausgestorben, wie auch wenigen Minuten zuvor. Dann richtete ich meinen Blick auf das Tor. Auf mein Ziel. Und weiter.
Genauso vorsichtig, wenn nicht sogar noch mehr darauf bedacht, keine Aufmerksamkeit auf sich zu ziehen, robbte ich weiter, bis ich am Ende der Hecke angelangt war. Jetzt gab es nurnoch eine Möglichkeit: Ich musste so schnell es ging zum Tor rennen und einfach beten, dass es offen war. Falls nicht, war ich höchstwahrscheinlich im Arsch.
Ich holte nicht nur einmal tief Luft, bevor ich mich zum Start bereit machte. Immer wieder Atmete ich tief ein und aus, machte einen zögerlichen Start, nur um diesen dann abermals abzubrechen. Doch viel Zeit blieb mir nicht, das war mir bewusst. Ich musste handeln, ich musste rennen, jetzt!
Und los!
Ich versuchte wirklich, so wenig wie möglich Geräusche zu machen, als ich über das Pflaster sprintete, doch anscheinend war mein Bestes nicht genug. Nach nicht einmal dem ersten Schritt hörte ich das altbekannte Klackern von schnellen Schritten hinter mir.
Fuck! Ich dachte gar nicht mehr. Meine Füße rannten einfach von alleine weiter. Das sorgte nur dafür, dass auch die Schritte hinter mir immer schneller wurden. Schneller, rasender, immer hektischer. Klack, Klack, Klack, Klack.
Beinahe hatte ich Mein Ziel erreicht. Beinahe war ich in Freiheit. Beinahe hatte ich es geschafft. Aber eben nur beinahe.
Zwei Hände schlossen sich um meinen Bauch. Hinderten mich daran weiter zu laufen. Das war der Moment, in dem mein Gehirn komplett aussetzte. Ich gab keinen Ton von mir, aber die Tränen liefen mir in Strömen über die Wangen. Was würde jetzt passieren? Wie stark würden sie mir weh tun?
Die Arme in denen ich gefangen war, drehten mich herum. Mein Blick galt dem Boden. Ich wollte ihm nicht ins Gesicht sehen. Wollte nicht sehen, wie Jason mich zurückbrachte.
„Sieh mich an."
Bạn đang đọc truyện trên: Truyen247.Pro