Kapitel 41
Julias Sicht:
Dunkelheit umgab mich. Elende Dunkelheit. Hier war nichts. Einfach nichts. Ich hörte nichts, spürte nichts, sah nichts. Bewegen konnte ich mich auch nicht. Wobei das bei dem Meer aus Nichts auch wenig geändert hätte...
„Komm zu mir." Wer war da? Und wo war derjenige? Ich holte tief Luft. "Wer bist du?" Endlich konnte ich die Frage aussprechen, die mich seit meinem ersten 'Aufeinandertreffen' mit der unbekannten Gestalt beschäftigte.
„Ich bin du."
Wow, das war mit Abstand die unhifsreicheste Information seit langem. "Wie meinst du das?" Niemand antwortete mir. „Hallo?"
Diese Stille, diese Gefühllosigkeit. Es machte mich verrückt.
Ich versuchte es noch einmal. „Wo bist du?" „Schließe deine Augen." Ich verstand nicht, was das bringen sollte. Ich meine, dunkler konnte es ja nicht mehr werden. Trotzdem tat ich, wie mir befohlen. Ich wollte den Kontakt so lange wie möglich halten.
Wie vermutet „sah" ich keinen Unterschied. „Und jetzt?" Wieder keine Antwort. Ich seufzte, blieb aber mit geschlossenen Augen stehen.
Es dauerte einen kurzen Moment, vielleicht stand ich auch Ewigkeiten hilflos in der Dunkelheit – Zeit existierte an diesem Ort genauso wenig, wie alles andere, bis ich plötzlich ein kleines Licht bemerkte. Wie konnte das sein?
Ich stand mit geschlossenen Augen in einem stockdunklem Raum und trotzdem war ich mir zu einhundert Prozent sicher. Da, dort vorne, ganz schwach, da war ein Licht zu erkennen.
„Komm." Wie? Und vor allem wohin? "Du musst es nur wollen." Der Satz nervte mich langsam. Ich wollte es doch. Ich wusste nur nicht, wohin.
Schließlich überwand ich mich und machte vorsichtig einen Schritt. Wohin, wusste ich nicht. Meine Beine zitterten. Meine Mund war staubtrocken. Meine Augen ließ ich geschlossen. Würde sowieso keinen Unterschied machen.
Dann wagte ich es, den nächsten Fuß vor den anderen zu setzten. Ich spürte keinen Untergrund. Aber ich fiel auch nicht – jedenfalls hoffte ich das.
Da ich nirgendwo das Gefühl hatte, einen Widerstand zu haben, ging ich einfach weiter. Langsam, ganz langsam. Das komische war, dass das Licht an der gleichen Stelle blieb, obwohl es ja nur ein Bild meiner Fantasie war, sodass ich meinem Ziel immer näher kam.
Ich hatte bestimmt zwei Drittel meines Weges zurückgelegt, als ein Ruck durch meinen Körper ging. Wie das letzte Mal, zog etwas an mir. Nein, dieses Mal nicht. Ich wollte wissen, was da nach mir rief. Ich wollte es verstehen. Ich wollte selber entscheiden, wohin ich ging und was ich tat. Ich wollte mir nicht vorschreiben lassen, was mein Weg war. Ich wollte nicht an Fäden hängen, wie eine wehrlose Marionette. Ich wollte ICH sein, ohne dass mich jemand daran hinderte.
„Du schaffst das."
Ja, ich schaffte das. Ich ging weiter. Mit jedem Schritt wurde das Ziehen an mir stärker. Aber dieses Mal war ich nicht so schwach. Ich wollte mich nicht in meinem eigenen Leben herumschubsen lassen. Nicht mehr.
Immer weiter lief ich. Langsam. Aber ich lief.
Je näher ich kam, desto greller wurde das Licht. Es blendete mich. Naja, so gut man eben mit geschlossenen Augen geblendet werden konnte.
Endlich hatte ich es erreicht. Reflexartig streckte ich meine Hand aus. Woher dieser Impuls kam, wusste ich nicht. Aber er kam. Und er schien richtig zu sein. Ich berührte etwas. Glatt und kalt. Ein Stein? Vorsichtig schloss ich meine Hand um ihn.
„Du hast mich."
In rasender Geschwindigkeit breitete sich das Licht aus, flutete die Dunkelheit, ließ alles hell werden. Viel zu hell. Ich riss die Augen auf. Nun rechnete ich mit der gewohnten Dunkelheit, doch sie war verschwunden. Es gab einen Funken Licht. Im Zentrum, in der Mitte.
Ich.
ICH war der Funken an Licht, ICH leuchtete in der Dunkelheit.
Mein Hand war noch immer ausgestreckt. Zitternd nahm ich sie zu mir, öffnete sie und sah ihn: Einen hellblauen, glasigen Stein. „Du hast eine Bestimmung, Kleine. Folge ihr."
Vor Schreck, umklammerte ich den Stein in meiner Hand und presste ihn ans Herz. Wärme breitete sich in mir aus. Ich fühlte mich wohl, geborgen, richtig.
Dann erlosch das Licht.
* * * * *
Meine Augenlieder fühlten sich an, als würde jemand mit aller Kraft versuchen sie zuzudrücken. Es schien mir eine unmögliche Aufgabe, sie auch nur einen Millimeter zu öffnen. Doch ich musste sagen... abgesehen von der tonnenschweren Last auf meinen Lidern, ging es mir relativ gut. Ich hatte keine Schmerzen, kein Schwächegefühl, keine Übelkeit oder Kopfschmerzen.
Von meinem Herzen ging noch immer diese Wärme aus und schien sich in meinem Körper zu verteilen. Vorsichtig versuchte ich ein Auge zu öffnen. Es brauchte einen Moment, bis sich meine verklebten Augen lösten. Zu meinem Glück war es angenehm dunkel – ein heller Sonnenstrahl wäre das letzte, was ich jetzt hätte gebrauchen können. Und trotzdem konnte ich ganz genau erkennen, wo ich war.
Scheiße.
Mit einem Ruck setzte ich mich auf. Sofort war ich hellwach. Panisch blickte ich mich um. Ich saß kerzengerade auf Yoongis Bett, in Yoongis Zimmer.
Gerade wollte ich erleichtert ausatmen, da ich niemand anderen im Raum erkennen konnte, als mein Blick auf das nahestehende Sofa fiel. Sofort verschnellerte sich meine Atmung, sobald ich mich daran erinnerte, wie er mich an die Wand gedrückt hatte. Reflexartig wanderte meine Hand an meine Lippen. Als ich diese langsam wieder entfernte, überkam mich der nächste Schock. Mein Pulli war am Handgelenk etwas hochgerutscht. An diesem waren zwei rote Punkte. Blut klebte an ihnen. Ich wollte mit meiner linken darüberfahren, aber stockte abermals.
War ich immer noch im Traum? Ich zwickte mich einmal. Nein, war ich nicht. Das konnte doch nicht echt sein. Das war einfach nicht möglich... In meiner linken Hand lag der Stein. Der Stein, aus dem Traum. Der Stein, den ich gesehen hatte, nach dem ich gegriffen hatte, mit dem ich in der Dunkelheit geleuchtet hatte und der so viel Wärme ausgestrahlt hatte.
Okay, Julia. Jetzt nicht durchdrehen. Ein paar Mal atmete ich tief ein und aus. Das half schon einmal um wenigstens die nötigste Ruhe in meinem Körper zu bringen.
Jetzt musste ich hier nur irgendwie rauskommen, ohne, dass mich Yoongi bemerkte. Im Moment konnte ich auf jede weitere Konversation mit dem Blonden verzichten. Ob die Jungs von dem ganzen wussten?
Ich entschloss mich, mir später darüber Gedanken zu machen und erstmal aus diesem Raum zu flüchten. Antworten auf meine Fragen würde ich sowieso nicht bekommen, solange ich mich weiter auf diesem Bett, in diesem Zimmer befand.
Gesagt, getan.
Mit zitternden Händen streifte ich die Decke von meinen Beinen. Diese stellte ich dann vorsichtig auf den Boden. Vorsichtig und darauf bedacht, bloß kein Geräusch zu machen, richtete ich mich auf und machte auf Zehenspitzen den ersten, wackeligen Schritt.
„Wo willst du denn hin, Sweetie?"
Erschrocken viel ich wieder zurück aufs Bett. Mein Blick fokussierte sich starr aufs Sofa. Yoongi hatte ein Auge geöffnet und sah mich aus diesem leicht schmunzelnd an. Seelenruhig legte er seine Kopfhörer beiseite, nur um sich aufzurichten. Mit langsamen Schritten kam er auf mich zu.
Mein Körper reagierte schneller, als mein Verstand. Ich löste mich aus meiner Starre und krabbelte auf dem Rücken nach hinten, bis ich mit diesem am Kopfende und damit am Ende meiner Fluchtmöglichkeiten ankam.
Starr saß ich da. Nur meine Augen verfolgten jede der Bewegungen des Blonden. Er war mittlerweile bei seinem Bett angekommen, auf welchem er sich niederließ. Zu meiner Verwunderung kam er mir allerdings nicht näher, sondern blieb genau dort sitzen.
„Wie geht's dir?" Yoongis Stimme war ruhig, so wie sonst immer und doch jagte sie mir eine Gänsehaut über den Rücken. Ich schluckte schwer. „G...gut." Ach du heilige Scheiße. Meine Stimme klang, als hätte ich Halsschmerzen, aber was für welche.
Kaum hatte ich die Worte ausgesprochen, kam Bewegung in den Älteren. Ehe ich mich versah, war sein Gesicht dem meinem, wie schon, für meinen Geschmack viel zu oft davor, ziemlich nahe. „Hast du Angst?" Mein Schweigen reichte meinem Gegenüber, denn er grinste leicht. „Bin ich dir zu Nahe?" Die Frage kam unerwartet, wenn man die Tatsache betrachtet, dass er mich geküsst hatte. Und zwar zwei Mal, ohne das ich das wollte.
Ganz vorsichtig nickte ich. „Schade." Er machte einen Schmollmund. Wie konnte jemand in einem Moment so bedrohlich auf einen wirken und im nächsten unglaublich süß? - Warte was???
Ganz langsam entfernte sich mein Mitbewohner wieder. Dann streckte er mir seine Hand entgegen. Fragend schaute ich zu ihm. Was sollte das jetzt? "Jetzt nimm schon. Ich beiß- tu dir schon nichts." Da war ich mir ja mal nicht sicher.
Mein Verstand hatte wiedereingesetzt. Ohne die Hand anzunehmen, robbte ich zum Rand des Bettes und ließ meine Beine auf den Boden gleiten. Mein Blick war nach unten gesenkt.
Er seufzte. „Falsche Entscheidung, Sweetie." Wie konnte man nur so provozieren? "Nenn mich nicht so." Ich konnte hören, wie er anfing zu lachen, sah aber nicht auf. „Darüber reden wir denke ich ein anderes Mal, Sweetie. Ich sag mal eben den anderen Bescheid, dass du aufgewacht bist." Mit diesen Worten verschwand er aus dem Zimmer.
Also wussten die anderen Bescheid? Und war das überhaupt gut? Wollte ich denn, dass sie wussten, dass er mich geküsst hatte und dass er- Stopp. Stopp. Stopp. Was hatte er eigentlich noch gemacht. Hatte er mich wirklich GEBISSEN?! Meine Hand wanderte reflexartig an meine Schulter. Ich strich über meine Haut, als mich an einer Stelle ein stechender Schmerz durchzog. Also wirklich...
Mein Blick war auf meinen Schoß gerichtet, auf dem nun wieder beide Hände lagen. Die eine war noch immer zu einer Faust. In ihr, der Stein. Sollte ich den Jungs davon erzählen? Aber wie klang das, bitte? „Also der Stein, den ich hier habe, den habe ich aus einem Traum mitgenommen." - Psychiatrie willkommen, würd ich mal sagen. Es war ja schon ein Wunder gewesen, dass sie mir die Sache mit der Narbe geglaubt hatten. Darüber hatten wir aber irgendwie auch nie wieder gesprochen... Komisch, dass mir das erst jetzt wieder auffiel.
Die Tür schwang auf und ein aufgedrehter Tae stürmte hinein. Ich reagierte gerade noch rechtzeitig und ließ den Stein in meiner Hosentasche verschwinden.
„Juliiii." Keine Sekunde später hatte ich sowohl Hobi, als auch Tae an meinem Hals hängen. „Wir haben uns solche Sorgen gemacht!" Ich musste direkt Lächeln. „Jetzt übertreibt nicht."
„Sagt das Mädchen, was beinahe einen ganzen Tag verschlafen hat." Verwirrt blickte ich zu Namjoon. Bitte was? "Ja, du hast schon richtig gehört, wir haben schon Freitagabend." „Oh."
„Naja, aber jetzt bist du ja wieder wach." Hobi lächelte mich an. „Ja und das bedeutet, es gibt jetzt erstmal etwas zu Essen." Wer könnte das wohl gesagt haben?
* * * * *
Natürlich hatten die Jungs wissen wollen, was passiert war, doch an diesem Abend war ich so stumm, wie schon lange nicht mehr. Zum einen musste ich selber noch einmal über alles nachdenke und zum anderen war mir die Situation verdammt unangenehm. So hatte ich den Jungs beim Abendessen nur halb zugehört, als diese, vor allem natürlich Tae und Hobi, versucht hatten, die Stimmung etwas zu bessern. Meine Konzentration lag eher darauf, wie ich Yoongis Blicken ausweichen konnte, beziehungsweise nicht in seine Augen sah.
Jin hatte mich danach direkt ins Bett geschickt. Ist ja nicht so, dass ich anscheinend gerade einen ganzen Tag verschlafen hätte.
Obwohl ich überhaupt nicht müde war, ging ich ohne Protest nach oben. Dadurch war ich wenigstens ungestört und konnte in Ruhe nachdenken.
Nun saß ich hier. Mit meinem Kopfhörern und einer beruhigenden Playlist auf der Fensterbank und sah mir den Sonnenuntergang an.
Warum hatte Yoongi das gemacht? Wieso hatte er mich geküsst? Spielte er nur mit mir? Ich schüttelte den Kopf. Ich sollte meine Gedanken nicht an so einen Kuss verschwenden. Dafür hatte ich genug andere Probleme. Wobei auch die ja mit dem komischen Blonden zu tun hatten... Wieso hat er mich gebissen? Ich meine... GEBISSEN!!! Haaalloo??? I
In meinem Kopf schwirrten viele Fragen herum. Zu viele! Ich sah einfach keinen Grund, warum er das tat. Anfangs sind wir doch auch gut miteinander ausgekommen. Haben uns nicht genervt. Hatten keinen Streit. Warum verwirrte er mich jetzt so? Und warum vermisste ich das Gefühl von seinen Lippen? Ein weiteres Mal schüttelte ich den Kopf. Okay, jetzt reicht's! Yoongi ist ein Arsch, den ich ab jetzt einfach meiden werde! Eine Weile saß ich da und versuchte mir genau das einzureden, was auch halbwegs funktionierte.
Aber eben nur halbwegs...
Mir fiel der Stein wieder ein. Schnell kramte ich das gläsern wirkende Ding aus der Hosentasche und hielt ihn in das schwache Licht der untergehenden Sonne. Das Hellblau glänzte und funkelte, während ihn das Licht wiederum trüb wirken ließ. Wie, wenn man versucht durch Nebel zu sehen. Und doch, war er wunderschön.
Wieder breitete sich diese Wärme in mir aus. Ich schwang mich von der Fensterbank, um das Licht in meinem Zimmer anzuschalten. Dann suchte ich meine Regale ab, bis ich fand, wonach ich suchte: Ein silbernes, kleines Kästchen, mit dezenten Verzierungen. Emily hatte es mir zu meinem 14. Geburtstag für meine „kleinen Schätze" geschenkt. Und das passte doch perfekt.
Er leuchtete nicht mehr und dennoch strahlte er etwas Beruhigendes und gleichzeitig Anziehendes aus. Mit einem Lächeln verschloss ich das Kästchen und legte alles zusammen weg. Mit einem friedlichen Gefühl im Herzen wollte ich mein Licht wieder ausschalten, als mein Blick in den Spiegel fiel.
Yoongis Sicht:
Ich hatte ja schon geahnt, dass die Diskussion mit meinen Freunden mehr als nur ein wenig anstrengend werden würde, aber dass sie so hartnäckig blieben, damit hatte ich nicht gerechnet. So versuchten sie mir alles, wirklich alles, mit ihren nervigen Fragen aus der Nase ziehen.
Ich antwortete meist nur knapp – wenn überhaupt. Aber das sollten die Jungs ja eigentlich über die Jahre von mir gewöhnt sein. Im Prinzip wussten sie ja auch alles, was sie wissen mussten. Den Kuss ließ ich natürlich aus. Ob sie merkten, dass ich ihnen etwas verheimlichte oder nicht, war mir relativ egal.
Mit meinen Gedanken war ich eh sowieso bei der Braunhaarigen. Wie gerne ich sie jetzt gerade in meinen Armen halten würde...
Gut, dass mir mein Vater gezeigt hatte, wie man sich vor so nervigen Gedankenleser, wie Namjoon schützen konnte. Das war zwar für mich ziemlich kraftauftreibend, nahm ich aber gerne in Kauf, um jetzt gerade nicht den Kräften des Silberhaarigen ausgeliefert zu seien.
Unsere Diskussion oder eher die Diskussion der anderen und meine Gedanken wurden durch einen hohen, lauten Schrei unterbrochen.
Julia!
Bạn đang đọc truyện trên: Truyen247.Pro