
Kapitel 20
Julias Sicht:
Ich wusste nicht wirklich, was ich sagen sollte. Mein Gehirn brauchte noch einige Minuten, bis es realisierte, was da gerade passiert war. Warum hatte ich mich nicht bewegen können? Das hatte einfach keinen Sinn ergeben. Stand ich einfach zu sehr unter Schock?
Auch wenn ich diese Idee nicht besonders einleuchtend fand, konnte ich mir das Geschehene einfach nicht besser erklären, weshalb ich diese Frage damit abhakte. Aber da war ja noch so viel mehr...
„und lass Julia gefälligst in Ruhe, sonst bekommst du's mit mir zu tun." Dieser Satz schwirrte in Dauerschleife in meinem Kopf herum. Ich dachte er würde mich hassen. Warum half er mir auf einmal? Das ergab doch keinen Sinn. In der Hoffnung irgendeinen Hinweis auf sein Verhalten zu finden, schielte ich zu meinem Sitznachbarn. Jimin schien allerdings genauso in Gedanken, wie ich und es sah auch nicht so aus, als würde sich dieser Zustand in den nächsten Sekunden ändern. Naja... was hatte ich mir auch erhofft? Als ob jetzt auf seiner Stirn alle Antworten auf meine Probleme stehen würden...
Trotzdem wollte ich die Situation einfach nicht so Enden lassen, weshalb ich mich nach langem hin und her doch dazu überwand, den Schwarzhaarigen anzusprechen. „Danke." Kurz hob er den Kopf und sah etwas verwirrt zu mir. „Für grade eben", versuchte ich mich zu erklären. Der Versuch, irgendein Gespräch anzufangen scheiterte allerdings kläglich. So wie es schien, wusste Jimin selber nicht, weshalb er das getan hatte. Nachdem er mir mit einem kurzen Nicken zu verstehen gegeben hatte, dass er mein Gesagtes zur Kenntnis genommen hatte, setzte er wieder seinen emotionslosen Blick auf und drehte sich weg.
Meine Aufmerksamkeit wurde, durch den Lehrer, der wenig später auch mal den Raum betrat, an die Tafel gelenkt. Dort entschuldigte sich der Neuankömmling erst für seine Verspätung, bevor er mit dem Unterricht begann. Und dieser wurde durch die unangenehme Stille zwischen Jimin und mir auch nicht gerade spannender. Ja, ich war ihm dankbar für das, was er getan hatte, aber jetzt, hier neben ihm zu sitzen sorgte bei uns beiden für eine kalte Stimmung.
* * * * *
Als wir endlich von der Schulglocke erlöst wurden, bestätigte sich meine Vermutung, dass es meinem Sitznachbar genau so unangenehm gewesen war, wie ich. So schnell konnte ich garnicht gucken, da hatte Jimin sein Zeug zusammengepackt und war förmlich aus dem Klassenzimmer gerannt. Immer noch etwas verwirrt von allem, räumte auch ich meine Sachen vom Tisch und folgte dem Schwarzhaarigen aus dem Raum. Dabei hatte ich anscheinend so lange in meinen verwirrten Gedanken festgehangen, dass ich, als ich in Richtung Ausgang lief, die einzig Verbliebene im Gang war. Am besten würde es wahrscheinlich sein, wenn ich meinen Sitzplatz einfach akzeptierte und Jimin nicht weiter darauf anspräche.
Während ich so in Gedanken war, merkte ich garnicht, wie ich von jemandem verfolgt wurde. Erst als mein Nachhauseweg von einem kräftigen Ruck an meinem glücklicherweise rechten Handgelenk, unterbrochen wurde, drehte ich mich um, um zu erfahren, wer dieser jemand war. Naja... besser gesagt, ich WOLLTE mich umdrehen. Denn bevor ich irgendetwas machen konnte, wurde ich gegen die Wand hinter mir gedrückt, weshalb ich meine Augen vor Schreck reflexartig zusammenkniff.
Nachdem ich sie wieder geöffnet hatte, sah ich in die meerblaue Augen, der Person, für die ich gerade wirklich keinen Nerv mehr übrighatte. Direkt vor mir stand Jason und grinste, für meinen Geschmack, etwas ZU überheblich. „Tut mir leid, wegen vorhin. Aber wenn ich mich recht erinnere, hast du mir meine Frage noch nicht beantwortet. Also, was ist? Gehst du mit mir am Samstag auf ein Date." Nein! Sicher nicht! Er sollte mich einfach loslassen! "Ähhm... Also..." Warum konnte ich nicht einfach mal aussprechen, was ich dachte? "Ach komm schon. Ein Nachmittag mit mir bringt dich schon nicht um." „Ähhm..." Scheiße, was sollte ich sagen???
„Julia, kommst du?"
Verwirrt drehte Jason seinen Kopf zur Seite, sodass auch ich erkennen konnte, wer da nach mir gerufen hatte. Namjoon stand auf der anderen Seite des Ganges und sah auffordernd zu uns beiden herüber. „Tut mir leid, ich muss los." Ich sprach zwar nicht laut, aber der Braunhaarige konnte mich durch unsere Nähe trotzdem ohne Probleme verstehen. Schnell nutzte ich den Moment, in dem er immer noch etwas verwirrt von der unerwarteten Wendung dieses Geschehens war, zog meinen Arm aus seinem Griff und flitze zu Namjoon rüber.
„Was war los?", wollte der Silberhaarige wissen, sobald wir aus dem Gebäude traten. Um ehrlich zu sein war das eine gute Frage. Nachdem ich ja immer noch damit beschäftigt gewesen war, die vorherige Situation zu begreifen, brauchte ich jetzt die restlichen funktionierenden Fünkchen meines Gehirns, um das Geschehen von vor wenigen Minuten zu realisieren. Wahrheitsgetreu zuckte ich nur kurz mit den Schultern. Namjoon sah mich zwar etwas skeptisch an, sagte allerdings zu meinem Glück nichts dazu und lies mich in Ruhe nachdenken.
In der Hoffnung, dass würde meinem Gehirn ein wenig helfen, alles zu sortieren, ließ ich den Tag in Gedanken noch einmal Revue passieren. Was war das im Klassenzimmer? Warum hatte mir Jimin geholfen und mich verteidigt? Hasste er mich doch nicht so? Aber weshalb war er danach trotzdem wieder so... so kalt? Würde sich Jason mit meiner Antwort abfinden oder würde ich ihn jetzt fürs erste nicht mehr los werden? Mein Kopf tat weh. Das waren einfach zu viele Fragen und ein zu großes Chaos. Die Idee, dieses durch nachdenken zu beseitige war wohl gründlich schiefgelaufen. Aber viel wichtiger war: Was sollte ich jetzt machen? Ich überlegte. Sollte ich es Hobi erzählen? Oder doch nur Emmy um Rat fragen?
Hoseok würde sich sicher freuen, wenn ich mit ihm reden würde. Nach dem letzten Gespräch dachte ich nicht mehr, dass er mich auslachen würde oder so. Ich meine, das andere hatte er ja auch relativ gut aufgenommen. Während Namjoon und ich weiterhin schweigend nebeneinander her liefen dachte ich weiterhin darüber nach: Hobi oder Emmy? Hin und wieder konnte ich erkennen, wie der Ältere etwas schmunzelte. Mich würde zu sehr interessieren, woran er manchmal dachte. Gedankenlesern wäre manchmal echt etwas Praktisches. Namjoon fing an zu kichern, weshalb ich ihn fragend ansah, doch er winkte nur kurz ab.
Nein, ich glaube ich war froh, dass ich keine Gedanken lesen konnte. Schließlich waren Gedanken etwas, was nur einem selbst gehörte. Wenn ich wüsste, was andere Leute so dachten, würde ich mich wahrscheinlich die ganze Zeit schlecht fühlen, da dies über eine Grenze der Privatsphäre ging, an die ich nicht einmal ansatzweise kommen wollte.
* * * * *
Ich wollte gerade nach oben gehen und meine Sachen wegbringen, um mit Emily zu telefonieren, aber daraus wurde nichts. „Wo willst du hin." „In mein Zimmer." „Ohne Essen???" „Ich wollte mit meiner Freundin telefonieren." „Nichts da! Bevor du nicht zu Mittag gegessen hast, gehst du NIRGENDWO hin!" Jins Ton klang lieb, duldete aber trotzdem keinen Widerspruch.
Wiederwillig setzte ich mich zu den anderen an den Tisch. Anscheinend hatte donnerstags niemand Nachmittagsunterricht, weshalb wir alle gemeinsam aßen. Die Jungs redeten über die Schule, während ich mich aufs Essen konzentrierte. Deshalb blickte ich auch nur auf meinen Teller, bis etwas hart gegen mein Bein stieß. Erschrocken sah ich nach oben, nur um in Hoseoks Gesicht zu schauen. Und auch wenn er nichts sagte, sprach sein Lächeln für sich: „Du schaffst das!" Dankbar erwiderte ich das Lächeln. Ja, es war gut gewesen, ihm alles zu erzählen, da war ich mir mittlerweile sicher.
* * * * *
Kaum in meinem Zimmer, schnappte ich mir mein Handy und warf mich aufs Bett.
Ich
Hey😊
Wie geht's? 💕
Emmy💕
Naja, vermiss dich halt...💕😘
Ich
Ja, ich dich auch😔
Hast du Zeit zu tele?☺️
Emmy💕
Ist grad schlecht, sitze im Zug😅
Ich
Oh, okay
Wohin geht's? 🤓
Emmy💕
Innenstadt
Ich
Ach was, wär ich nicht von alleine drauf gekommen🤦♀️
Aber was machst du dort? 😂
Emmy💕
Ich schau mir etwas an
Ich
Waaaaaas? 🤪
Emmy💕
Etwas🤓
Ich
Dein Ernst jetzt? 😒
Emmy💕
Ja.
Ich darf es dir nicht sagen, okay...😶
Ich
Ist alles in Ordnung? 🤨❤️
Bist du irgendwie sauer auf mich? 😢
Emmy💕
Nein😳
Warum sollte ich sauer sein
Such die Schuld nicht immer bei dir😠💕
Ich
Hm
Emmy💕
Mach dir keine Sorgen um mich😘
Ich
Okay...
Sagst du's mir, sobald du kannst? ❤️
Emmy💕
Jaja
Sry, muss off
Hab dich lieb❤️
Ich
Ja, ich dich auch❤️
Schreib mir später, wenn du Zeit hast
Bye❤️
Auch wenn Emily meinte, ich solle mir keine Sorgen machen, glaubte ich ihr nicht, dass alles in Ordnung sei. Seit wir Freundinnen waren, also seit mehr als zehn Jahren, hatte wir uns noch NIE angelogen oder etwas verheimlicht. Wir wusste, dass wir dem anderen blind vertrauen konnten. Also warum jetzt? Was war so wichtig und so geheim, dass sie es mir nicht sagen konnte? Ich schüttelte einmal den Kopf. Wahrscheinlich hatte sie recht und ich machte mir mal wieder viel zu viele Gedanken. Stattdessen sollte ich versuchen mich abzulenken... Ich könnte Hausaufgaben machen, die musste ich sowieso noch erledigen...
* * * * *
„Das kann doch nicht sein, verdammt!" Frustriert und wütend haute ich mit der einen Hand auf den Tisch - der ja nun wirklich nichts für meine Stimmung konnte - während mein Kopf auf meinen Arm abgestützt war. Normalerweise war ich niemand, der schnell sauer wurde und vor allem nicht bei Aufsätzen, die ich sonst immer relativ schnell schrieb, aber langsam reichte es mir. Ich versuchte WIRKLICH mich zu konzentrieren, aber es klappte einfach nicht. Immer, wenn mir ein guter Satz eingefallen war und ich diesen aufschreiben wollte, wechselten meine Gedanken wieder zu Emily. Egal, wie oft ich es versuchte, ich kam einfach nicht voran.
Ich hatte definitiv keine Lust mehr, mich auf irgendeinen dämlichen Aufsatz zu konzentrieren. Müde und genervt legte ich meinen Kopf auf den Tisch. Und selbst wenn ich noch etwas Motivation hätte, ich sah ja was dabei heraus kam... Genau. Nichts.
*Bing*
Das Geräusch meines Handys lies mich augenblicklich hochfahren. So schnell ich konnte lief ich zu meinem Nachttisch, um zu schauen, was Emmy geschrieben hatte. Meine plötzliche Freude verflog komplett, nachdem ich die Nachricht gelesen hatte.
Emmy💕
Sorry, kann heute nicht mehr telefonieren und die nächsten Tage wird wahrscheinlich auch schlecht. 😞
Hab dich lieb ❤️❤️
Warum? Warum nur? Ich schmiss mich aufs Bett, mein Handy landete neben mir. Wow, was ein genialer Mittag. Frustriert verdeckte ich mir meine Augen mit meinen Handflächen.
Siehste, jetzt hat sie auch endlich begriffen, dass du nur Unglück bringst.
Ach, dich gibt's auch noch?
Tu doch nicht so, als seist du stark. Du kannst nichts! Garnichts!
Sei du still!
Ich sage nur, wie es ist. Deine Eltern wollten dich nicht, den Betreuern warst du scheiß egal und jetzt hat deine so genannte „Freundin" auch kapiert, dass du nur eine Plage bist.
Sie ist meine beste Freundin, seit ich 4 bin! Sie würde mich niemals verlassen!
Denkst du es war schön für sie, sich Tag ein, Tag aus nur mit deinen Problemen zu beschäftigen?
Sie hat gesagt, dass sie das gerne für mich macht, weil sie mich liebhat. Sie ist meine Familie.
Ich wette, sie ist glücklich, dass du weg bist und will den Kontakt jetzt ein für alle Mal beenden!
Niemals.
Warts nur ab.
Nein!
Mein Zeitgefühl hatte mich verlassen und so war es mir auch ein Rätsel, wie lange ich noch hier auf dem Bett lag und Löcher in die Luft starrte. Ich konnte nicht mehr. Alles in mir zog sich zusammen. Alles schrie danach! Mein Kopf weigerte sich, doch meine Füße fanden von ganz alleine den Weg zum Bad. Panisch suchte ich in meinem Beutel nach dem Kästchen. Dem Kästchen, mit dem drinnen, was den Schmerz in mir linderte.
Doch, es war weg. Warum war es weg? Es durfte nicht weg sein!
Da viel es mir wieder ein: Hoseok! Er hatte die Klingen mitgenommen. Genau für diesen Fall.
In dem Moment, wo ich das Begriff, setzte mein Gehirn wieder ein und erlangte die Kontrolle über meinen Körper zurück. Ich wusste jetzt, was ich zu tun hatte. Ich musste zu ihm. Ich musste zu Hobi. Aber nicht um mich zu schneiden, sondern um zu reden.
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