Unterdrückt
Wer sagt, wie die Welt auszusehen hat? In einer Welt voller Fenster, durch die Menschen in dein Leben hineinsehen oder die Wände Ohren haben und du pausenlos kritisiert wirst.
Selbst die Nachrichten werden immer bedrohlicher in ihrer Ausdrucksweise. Die japanische 'Tagesschau' haben sie abgeschafft, weil sie als große Sendung dennoch keine Fakenews geschaltet haben. Vor ein paar Jahren hätte man meinen können, dass die Menschheit sich weiterentwickelt hätte und Faschisten in den Hintergrund gerückt seien. Doch ich machte andere Erfahrungen gemacht.
Heute Morgen habe ich das erste Mal seit Tagen meine Wohnung verlassen. Seitdem sie das Land hartnäckiger kontrollieren, sind riesige Mehrfamilienhäuser entstanden. Sie reichen gefühlt unendlich weit und keiner kennt ihre genaue Höhe. Der Großteil der Bevölkerung wurde aus ihrem Zuhause verjagt und in diese Wolkenkratzer gequetscht, so auch ich. Als ich den Flur zum Fahrstuhl entlanglaufe, kann ich durch die bodenlangen Panzerglasfenster an den Wänden die Stadt überblicken. Soweit das Auge reicht, hauptsächlich diese hässlichen grauen Gebäude, nur in der Ferne sieht man noch 'normale' Häuser der reichen Familien. Die Reichen werden wohlhabender und die Armen finanziell immer schwacher. Auf der anderen Seite des Gangs schaut man in den Innenhof... Wenn man ihn den sehen kann. Meine Wohnräume befinden sich im 71. Stock und so habe ich nicht viel Teilhaben daran. Ich drücke auf die Fahrstuhltaste. Normalerweise herrscht in der Gegend einer gewaltiger Lautstärkenpegel, sodass man kaum einschlafen, geschweige denn sich konzentrieren kann. Doch heute morgen hört man nur unter ein paar Türen die elektronischen Hightech-Geräte der Menschen durchschallern, die stetig Gehirnwäsche betreiben und Lügen verbreiten.
Als die Aufzugtüren sich schließen, höre ich jemanden rufen. "Nazomeita-chan! Warte!" Ich erkenne die Stimme. "Odo-chan? Was machst du denn schon hier?" Reflexartig schiebe ich mein Bein zwischen die Fahrstuhltüren, damit sie sich wieder öffnen. Am Ende des Gangs eilt mir eine Figur entgegen, doch sie ist überraschend klein. Doch so schlimm? Sie hetzt nicht laufend auf mich zu... sie rollt. Odoriko-chan ist eine Profitänzerin, trotzdem lebt sie in diesem Drecksloch, weil sich das Verständnis von 'reich' sehr gesteigert hat und die Inflation stetig mehr wächst. Vor ein paar Wochen fanden die Olympischen Spiele statt, an denen Odo-chan ebenfalls teilnahm. Bei ihrer finalen Figur stürzte sie jedoch und verletzte sich schwer. Die Medien berichteten, dass es wohl nichts Unheilbares sei, sie dennoch länger auf den Sport verzichten müsse, oder sogar für immer. Ich hatte gedacht, dass sie sie im Krankenhaus heilen würden und nicht, dass sie so schnell wieder hier wäre und dann auch noch behindert. Hätte man sich lieber noch einige Zeit um sie gekümmert, dann würde sie auskurierter zu Hause ankommen. Aber da erhalte ich schon meine Antwort: "Die Krankenhäuser sind so überfüllt! Es fehlt ihnen mehr an Personal denn je, weshalb sie uns möglichst schnell wieder verjagen. Ich bin mir jedoch nicht sicher, ob meine Heilung jetzt noch so gut voranschreiten wird wie auf Station. Vermutlich gar nicht." Ich schaue sie bestürzt an. Wir lernten uns vor einem Jahr kennen, als diese grauen Bauten errichtet wurden und der jetzige Diktator das Parlament abschaffte. Er schiebt alle mit anderer Herkunft ab und drückt die arme und mittlere Bevölkerung in die Hochhäuser, um Aufstände zu vermeiden. Dennoch gibt es hier genug Idioten, die seinem Regime folgen und dies auch laut herumerzählen. Mit so einem hirnverbrannten Typen hatte ich mich angelegt und es so weit getrieben, dass der Kerl auf mich losgegangen wäre, wenn Odo-chan ihn nicht abgehalten hätte. Unsere Freundschaft wuchs schnell, da sie nicht zu diesen arroganten exreichen Promis gehörte, obwohl sie als berühmte Tänzerin nicht in der Fabrik arbeiten musste. "Das tut mir leid, ehrlich", antworte ich. "Das glaub ich dir, Nazo-chan. Aber lass uns jetzt gehen, ich rede noch nicht so gerne darüber." "Verständlich", stimme ich zu und helfe ihr in den Aufzug.
"Hast du gehört, dass sie jetzt auch die Waschbären ausrotten wollen, weil sie unser Obst und unsere Nüsse wegessen würden? Ich weiß ja nicht, was das soll, aber zu viele Tiere sind vom Aussterben bedroht und es sieht auf der restlichen Welt auch nicht viel besser aus. Nur einige größere Länder haben sich nicht vom Faschismus anstecken lassen und pflegen noch eine Demokratie!" Odoriko-chan schaut mich entsetzt an. "Wie? Wirklich? Aber woher weißt du das?" Ich beiße mir auf die Lippe. Verdammt! Ich beuge mich zu ihr hinunter und flüstere durch die Geräusche des Fahrstuhls: "Ich kann ausländische Medien empfangen, obwohl sie unser Land abgekapselt haben." Odo-chan starrt mich an. Wir wissen beide, wie gefährlich das ist. Wir kämpfen anonym in den Netzen gegen die Regierung und machen uns damit zu Staatsfeinden. "Aber..., wenn sie dich finden!", kreischt sie auf. Ich lege ihr die Hand auf den Mund. "Pst! Wer weiß, ob sogar hier Abhörgeräte eingepflanzt sind..."
Nach einer gefühlten Ewigkeit kommen wir unten an. Es herrscht so früh am Morgen ununterbrochene Stille und man kann nur leises Motorenrauschen vernehmen. Ich schiebe Odoriko-chan durch die Stadt und versuche nicht an ihren Unfall zu denken. Dass sie damit so gefasst umgehen kann, beeindruckt mich echt. Ich bewundere diese Frau einfach, vielleicht sogar mehr, als ich dürfte. Doch Rassismus und Homophobie stehen an der Tagesordnung. Ich muss es unterdrücken. Wir reden kaum. Auf unserem Weg sehen wir immer nur die gleiche, trübe Gegend. An einer Kreuzung beschließe ich, nicht in die Innenstadt, sondern, in den Park abzubiegen. Nach kurzer Zeit stehen wir vor einer großen Wiese mit Bäumen und einem Fluss. Wenigstens etwas, das uns nicht genommen wurde. Traurig schaue ich die Wiese an. Dort saßen wir immer und haben uns über irrsinnige Dinge ausgetauscht. "Möchtest du an den Fluss?", frage ich Odoriko-chan, woraufhin sie nickt. Sie nimmt das Band von ihren Beinen, welches verhindert, dass sie aus dem Rollstuhl kippt, und ich hebe sie in meine Arme, trage sie ans Ufer.
Als wir wieder im 71. Stockwerk ankommen, ist es bereits später Nachmittag. Wir haben den ganzen Tag so wie früher verbracht, während es um uns herum gänzlich lauter wurde, da die Stadt zu erwachen schien. Ich möchte nur kurz in meine Wohnung, um etwas zu holen, danach habe ich vor, mit zu Odo-chan zu gehen. Wir kommen vor meinen Räumen an. Ich öffne die Tür. Ich erschrecke, als ich Abgesandte der Regierung sehe. "Miura Nazomeita-san, sie sind auf dringenden Verdacht von Homosexualität, Hetze gegen den Herrscher und illegalem Empfang von ausländischen Medien festgenommen." Ich spüre nichts, als die Handschellen an meinen Armgelenken. Odoriko-chan dürfen sie aufgrund ihres sozialen Standes nicht festnehmen. Sie entfernen sie von mir. Ich weine nicht, ich fühle nichts. Odo-chan wurde mir genommen, meine Rechte wurden mir genommen.
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hatte ein bisschen probleme mit der tagesschau, weil das ja nicht in deutschland spielt HAHAH, ich hoffe aber, es hat euch trotzdem gefallen (ich weiß, ich bin zu spät, aber hatte ein konzert und bin in zwei schulorchestern und im chor *heult*)
chan: im japanischen verniedlichende form für weibliche personen
san: anrede wie "herr"/"frau", nicht die förmlichste anrede, aber oft benutzt
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1010 Wörter (nur wegen den anreden, hoffe das zählt nd HAHA) - 15.12. 2023 - 21:04 Uhr - leanutpeanut
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