Neues Leben 1
"Wie geht es dir, Liebling?", fragte Mum nun zum dritten Mal während unseres mittlerweile vierzig minütigen Telefonats.
"Mir geht es gut, Mum. So wie vor zehn Minuten auch schon.", murmelte ich mit einem kleinen Lächeln auf den Lippen.
Irgendwie war es ja schon süß, dass sie so oft nachfragte.
"Ich mach mir doch nur meine Gedanken, Spatz. Du bist jetzt ganz alleine in dieser Wohnung. Fühlst du dich nicht einsam?" Auch diese Frage hatte ich schon viel zu oft zu hören bekommen.
Mum und Dad hatten meine Trennung von Timo und den Umzug anfangs nicht sehr gut aufgenommen. Beide waren der Meinung, dass wir bald heiraten würden und hatten nur noch auf den Anruf gewartet. Keiner hätte damit gerechnet, dass es so schlecht um unsere Beziehung stand.
Mum war nicht damit einverstanden, dass ich alleine in eine Wohnung zog und wollte mich unbedingt dazu bringen, dass ich wieder in mein Elternhaus einzog.
Das ich mich so vehement dagegen gewehrt hatte, konnte sie nicht verstehen.
Meine Argumente, dass ich erwachsen und fast Dreißig war, dass ich ein gutes Gehalt bekam, dass ich mehr Platz brauchte als nur mein altes Kinderzimmer, ließ sie alle samt nicht zählen.
Nicht einmal, dass mein Bruder fünfzehn Minuten zu fuß weg wohnte, war gut genug um mich guten Gewissens alleine irgendwo wohnen zu lassen.
Immerhin hatte ich noch nie alleine gelebt und ich würde auf der Stelle vereinsamen, sobald auf dem Klingelschild einzig und allein mein Name stand.
Das wollte sie mir zumindest einreden.
Ich wusste, dass sie sich nur Sorgen um mich machte. Sie wusste, wie viel mir an der Beziehung gelegen hatte und sie hatte wohl Angst, dass ich alleine nicht zurecht kommen würde, nachdem ich von meinem Elternhaus direkt mit Timo zusammengezogen war und tatsächlich in meinem gesamten Leben noch nie alleine gelebt hatte.
Sie hatte Angst, dass ich in Selbstmitleid und Trauer versinken würde, deswegen rief sie mich auch beinahe täglich an um sich mit mir zu unterhalten.
Es fühlte sich eher an wie eine Psychoanalyse, ob ich nicht vielleicht depressiv geworden war.
Generell meine gesamte Familie reagierte schockiert auf die Neuigkeiten, dass ich nun Single war.
Meine Großmutter hatte sogar zu weinen angefangen, als ich ihr die schlechten Nachrichten übermittelt hatte und seit dem rief sie ausschließlich meinen Bruder an um sich nach ihrer Urenkelin zu erkundigen. Sie war mir etwas beleidigt, aber ich wusste, dass das nicht allzu lang anhalten würde.
Ich musste immerhin ihren Verlust verstehen. Sie hatte ihren Lieblingsenkel Timo verloren, auch, wenn er gar nicht ihr wahrer Enkel war.
Meine Nichte Ella war vor mittlerweile schon fast vier Monate alt und bereits jetzt genauso stur wie ihr Papa. Lukas konnte die Vaterschaft wirklich kein Bisschen leugnen. Sie war äußerlich sowie charakterlich sein perfekter Klon.
Sie war wirklich ein goldiges Kind und ich genoss es sehr Zeit mit ihr zu verbringen. Gleichzeitig schoss mein eigenen Babyfieber jedoch wieder durch die Decke und es wurde jedes Mal heftiger, wenn ich sie besuchte.
Aber da ich nun nicht mal mehr in einer Beziehung war, waren Kinder noch weiter weg als die Jahre zuvor schon.
Seit fünf Monaten war ich nun schon Single.
Seit vier Monaten lebte ich nun schon in meiner neuen Wohnung, die ich relativ zeitnah gefunden hatte, nachdem ich meine Sachen von Timo abgeholt hatte. Bill war dabei eine große Hilfe, denn er hatte durch sein weniges Zuhause sein zahlreiche Kontakte und über einen davon war ich dann auch an diese Wohnung gekommen.
Ein schickes Loft mit großen Glasfenstern, die von Außen blickdicht waren, von Innen jedoch einen atemberaubenden Blick über die nächtliche Skyline freigab. Meine Wohnung lag nur im fünften Stock und über mir folgten noch weitere fünf Stockwerke und da der Blick von hier schon so großartig war, wollte ich gar nicht erst wissen, wie es ganz oben aussah.
Ich wusste schon immer, dass die Vorstadt nicht mein Pflaster war.
In der Stadt gefiel es mir immer besser, wodurch ich mich in meiner neuen Wohnung auch auf Anhieb wohl fühlte.
Ich hatte eine geräumige Dusche sowie eine Badewanne mit Whirlpooldüsen. Meine Küche war ausladend geschnitten und ließ mir viel Platz um meinen nächtlichen Kochgelüsten nachgehen zu können, ohne jemals die gesamte Arbeitsfläche vollstellen zu können. Mein Schreibtisch stand direkt an der Glasfront, wodurch ich noch lieber dort saß als ohnehin schon, aber nun konnte ich beim Arbeiten auf ungestört die Aussicht betrachten.
Wobei das ab und an weniger sinnvoll war. Die kleinen Menschen auf der Straße zu beobachten, war manchmal schon sehr ablenkend.
Von meinem Schreibtisch aus brauchte ich etwa dreißig Schritte bis zu meinem Bett, das hinter japanischen Schiebtetüren verborgen war. Von meinem Sofa aus sogar nur fünfzehn.
Ich fühlte mich hier wohl. Sehr wohl.
Dennoch konnte ich nur wenige Nächte gut schlafen.
Oft scheiterte es bereits beim einschlafen. An manchen Tagen, wenn ich gut einschlafen konnte, wurde ich mitten in der Nacht wach und konnte dann nicht mehr schlafen. An anderen Tagen wurde ich zu gottlosen Morgenstunden wach, bei denen ich dann meinen inneren Schweinehund überwand und aufstand, obwohl die Sonne noch nicht aufgegangen war.
Ich vermisste Timo.
Mit jeder Faser meines Körpers.
Egal, was ich machte ich dachte an ihn. Selbst als ich meine neuen Möbel gekauft hatte, war mein erster Gedanke immer, würde Timo das gefallen.
Wenn ich nur spekulierte, was ich abends kochen wollte, ging ich zu aller erst Timos Lieblingsgerichte durch.
Es geschah einfach automatisch. Ich konnte nichts dagegen machen.
Abends wenn ich mich von meiner Arbeit losgerissen hatte und am dem Sofa vorm Fernseher lag, während ein Krimi lief, überlegte ich unweigerlich, ob Timo diesen Krimi gerade auch schaute. Immerhin waren Krimis von Anfang an unsere große Leidenschaft gewesen.
Manchmal hatte ich sogar noch solche Automatismen, wie eine größere Portion kochen, damit Timo etwas davon am nächsten Tag mit in die Arbeit nehmen konnte.
Oder dass ich beim einkaufen seine Lieblingsgummibärchen in den Wagen schmiss, obwohl sie mir nicht schmeckten.
Oder bis zum Wochenende warten, bevor ich die weiße Wäsche wusch, weil Timos Arbeitshemden von der vergangenen Woche mit drinnen waren, die er in der nächsten Woche wieder brauchte.
Jedes Mal, wenn ich dann realisierte, dass das alles sinnlos war und ich damit aufhören und von Timo loskommen musste, wurde es schlimmer.
Ich fühlte mich leer und verlassen. Ich fühlte mich allein. Nicht körperlich, sondern psychisch.
Ich hatte Roman weitestgehend aus meinem Leben geschlossen, Timo war ohnehin Geschichte und selbst meine Freundschaft mit Joni hatte ein jähes Ende gefunden.
Ich versuchte mich mit meiner Arbeit, meiner Nichte, häufigen aufwendigen Kochen und Hausarbeit von meinem tristen Dasein abzulenken, aber schlussendlich half das alles nichts.
Sobald ich im Bett lag, prasselte der Schmerz wieder auf mich ein.
Ich konnte verstehen, warum sich meine Mutter Sorgen machte, aber ich war noch immer guter Dinge, dass es vorübergehen würde. Dass der Schmerz nachlassen würde. Dass alles wieder besser werden würde.
Ich hatte sogar spärlich angefangen mit Männern auszugehen, aber bis jetzt war keiner dabei, der mich wirklich angesprochen hatte.
Jedem fehlte irgendwie was oder er hatte zu viel von etwas. Ich rutschte von einem schlimmen Date in das nächste und während ich es am Anfang noch auf die Männer geschoben hatte, war ich nach einiger Zeit darauf gekommen, dass es an etwas anderem lag.
An mir.
Unterbewusst vergleichte ich all diese Männer mit Timo und da keiner von ihnen so war wie er, waren sie nicht gut genug. Deswegen ging es nie über ein Date hinaus, obwohl viele der Männer wohl nicht abgeneigt von mir waren.
Kurzzeitig hatte ich sogar überlegt von Dates auf One Night Stands umzusteigen, aber warum auch immer kam mir dabei sofort der Mann in den Sinn, mit dem Timo mich betrogen hatte und sofort hatte ich keine Lust mehr auf gefühllosen, anonymen Sex.
Viel lieber saß ich Trübsal blasend zuhause, arbeitete weiter über meine vierzig Stunden Woche hinaus und quälte mich jeden Tag durch ein anstrengendes Telefonat mit meiner Mutter, ehe ich eine viel zu große Portion Abendessen kochte und diese allein vor dem Fernseher verzerrte.
Einerseits schämte ich mich fast für meinen Lebensstil. Andererseits kam ich aus meinem neuen Alltag einfach nicht heraus.
Es war fast, als würde ich ohne Timo nicht funktionieren beziehungsweise nur so weit, dass ich überleben konnte.
Denn mehr als ein Überleben war mein derzeitiges Leben nicht.
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