#08 Ein Picknick machen [Teil 2]
"Es kommt noch schlimmer." Hannah sah mich vorsichtig an. "Lies die Kommentare!"
Ich wusste nicht, ob ich wissen wollte, was dort stand, aber meine Neugier war doch stärker. Die Kommentare unter dem Video zu lesen verdeutlichte mir einmal mehr, wieso ich Social Media so verabscheute. Jeder hat eine Meinung zu etwas, obwohl sie weder wissen, worum es geht und oftmals die Person noch nicht einmal richtig kennen. Ich könnte kotzen.
"Wie süß!! Sind sie jetzt echt zusammen? ❤️"
"Ist er jetzt mit dem Mädel oder dem Schülersprecher zusammen?
Ist Anton etwa auch "schwul"?"
"Das hätte ich zwar nie von ihm gedacht, dass der schwul ist... aber der Schülersprecher und Anton würden schon ein hottes Pärchen abgeben🔥❤️"
"Wenn der echt schwul ist, dann können wir die Meisterschaft knicken!"
"Oder er fährt Zweigleisig... Soviel ich weiß, hat er nämlich mit dieser Sarah die Party verlassen!"
"Dem neuen Foto auf seinem Account nach zu urteilen, ist er wohl mit dieser Sarah zusammen! ❤️🔥"
Ich suchte nach Antons Account und siehe da, ein gemeinsam geteiltes Pärchenfoto mit Sarah, mit dem Titel "Endlich offiziell 👫".
Ich gab Hannah ihr Handy zurück und lehnte mich an die Wand. Ich brauchte einen Moment, um das zu verarbeiten, was ich gerade gesehen hatte. Es ergab für mich alles keinen Sinn. Vielleicht hätte ich Antons Anrufe entgegennehmen sollen? Hätte es einen Unterschied gemacht? Ich war verwirrt.
"Sie hätte ihn geoutet... Er hatte keine Wahl!", dachte ich laut.
"Man hat immer eine Wahl!"
"Ja, schon. Aber er wurde in die Ecke gedrängt... Er war überfordert und ich war nicht da. Wäre ich bei ihm geblieben..."
"Tim, es ist nicht deine Schuld! Er hätte nicht mit ihr mitgehen müssen. Er hätte ihr sagen können, dass er kein Interesse hatte." Eindringlich sah sie mich an. "Er hatte genug andere Möglichkeiten, aber er hat sich für diese entschieden!"
"Ich sollte trotzdem mit ihm reden!"
"Tim, ich weiß nicht, ob das eine gute Idee ist."
"Ich muss seine Version hören, das bin ich uns schuldig!"
An Schulende begab ich mich auf die Suche nach ihm und fand ihn schließlich händchenhaltend mit Sarah bei seiner Freundesclique. Sie lehnten lässig im Schulhof an der Mauer.
Obwohl ich immer noch verletzt war, wollte ich mit Anton reden, wollte seine Version hören. Also ging ich, ohne mir lange Gedanken darüber zu machen, zu ihm hin.
"Hi!"
Anton drehte sich zu mir um und mit ihm auch die anderen.
"Können wir reden?", fragte ich.
Er packte mich am Arm und zog mich etwas zur Seite. Zwischen zusammengepressten Zähnen zischte er: "Nicht hier, okay?"
Anton sah sich nervös um. Weitere Schüler, die sich in unserer Nähe aufhielten, begannen in unsere Richtung zu schielen und zu tuscheln. Ich atmete geräuschvoll aus.
"Wo dann? Ich gebe dir genau EINE Chance, mir zu erklären, was los ist. Ansonsten wars das!"
"Ansonsten war was?", fragte Sarah, die plötzlich neben Anton auftauchte und sich bei ihm unterhakte. Mein Blick fiel auf ihre ineinander verschränkten Arme.
"Okay, dann lass uns irgendwo ruhigeres hingehen! Jetzt!" Ich verlieh meiner Stimme Nachdruck, was weitere Blicke auf uns lockte.
"Schatz, was ist los?" Sarah sah verwirrt zwischen Anton und mir hin und her.
"Nichts, alles okay!", brachte er vermeidlich ruhig hervor. Aber ich kannte ihn besser. Ich sah die Anspannung in seinen Augen. Aber ich brauchte Antworten, musste wissen, was vorgefallen war.
"Also?" Ich hob herausfordernd meine Augenbrauen.
Nun war es Anton, der zwischen Sarah und mir hin und her schaute. Seine Augen verrieten, dass er mit mir mitkommen wollte, aber irgendetwas hielt ihn zurück.
"Okay, was läuft hier zwischen euch beiden?" Ob beabsichtigt oder nicht, erhob Sarah ihre Stimme und machte uns nun zum Zentrum der Aufmerksamkeit.
Antons Blick huschte über den Schulhof. Ich konnte die Panik in seinen Augen förmlich spüren.
"Nichts läuft hier!", brüllte er plötzlich.
Nun waren alle Augenpaare auf uns gerichtet. Für eine Sekunde war es still. Ich konnte Antons Gedanken rasen sehen. Wie gerne hätte ich gewusst, wieso er ausgerechnet folgende Worte wählte.
"Tim will einfach nicht verstehen, dass ich nichts von ihm will!" Sein Blick wurde hart und streifte meinen, während seine Worte direkt in mein Herz trafen.
"Ich habe dir schon oft erklärt, dass wir nicht mehr als Freunde sind... Du tatest mir leid. Du hängst ja ständig nur mit diesen komischen Leuten ab. Kein Wunder, dass du niemanden findest. Ich dachte, vielleicht könnte ich dich auf ein paar Partys mitnehmen, damit du ein paar nette Mädels kennenlernst..."
"Ich bin schwul, Anton. Schon vergessen? SCHWUL! Das heißt, ich stehe auf Jungs!"
"Das ist schön für dich! Aber ICH bin es NICHT, checkst du das endlich?" Er lachte verbittert auf. "Wieso glaubt ihr Tunten eigentlich immer, dass jeder Kerl, der auch nur ansatzweise nett zu euch ist, gleich auf euch steht?"
"Das sah aber vor ein paar Tagen aber noch anders aus!", konterte ich von Schmerz erfüllt.
"Du meinst, als du mich und meine Freundin an Silvester wie so ein Psycho beim Sex beobachtet hast? Du ekelst mich an! Und sind wir mal ehrlich, wenn ich schwul wäre, was ich nicht bin, glaubst du wirklich, dass ich so einen schlechten Geschmack hätte und dann ausgerechnet mit dir was anfangen würde?"
Ich spürte, wie jegliche Farbe aus meinem Gesicht wich. In diesem Moment brach etwas in mir und mir wurde kotzübel. Ich hatte mit allem gerechnet und konnte mit homophoben Kommentaren eigentlich gut umgehen. Aber diese Worte aus Antons Mund zu hören schlugen dem Fass den Boden aus.
"Wieso bist du so besessen von meinem Freund?", schaltete sich plötzlich Sarah ein und stellte sich zwischen uns. "Hattet ihr zwei etwa doch was?"
Ich schaute an ihr vorbei in Antons verzweifeltes Gesicht. Ich sah, wie er erstarrte und ängstlich nach Luft schnappte. Seine Augen sahen mich flehend an. Alles in mir tat weh und zugleich fühlte ich mich leer. Eine Träne rann über meine Wange, als ich meinen Blick von ihm abwandte und so überzeugend wie möglich antwortete: "Nein! Ich habe da anscheinend was falsch verstanden!"
Die folgenden Wochen wurden Memes von mir als "Der Spanner" herumgeschickt. Ich wurde als ekelhaft bezeichnet, bekannt als der Schwule, der sich an Heteros ranmacht und kein 'Nein' akzeptiert. Überall wo ich hinkam, erntete ich Blicke. Meinen Freunden wurde es irgendwann zu viel. Da sie teilweise selbst Teil der LGBTQ+ Community waren, hatten sie Angst, dass die Vorurteile, die sich die Leute über mich gebildet hatten, auch auf sie abfärben würden und so begannen sie, sich immer mehr von mir zu distanzieren.
Irgendwann ertrug ich das alles nicht mehr. Ich fühlte mich ständig beobachtet und verurteilt. Irgendwann ließ es zwar nach, aber immer, wenn jemand auch nur in meine Richtung schaute, malte ich mir aus, was sie wohl über mich dachten oder zu sagen hatten. Der Gedanke, im Mittelpunkt zu stehen, begann mir Angst zu machen. Also trat ich als Schülersprecher zurück, kam in der Früh pünktlich mit der ersten Schulglocke und machte mich direkt nach Schulende wieder auf den Weg nach Hause. Ich begann mich in meinem Zimmer zu verkriechen und soziale Kontakte zu meiden.
Einzig Hannah blieb hartnäckig und kam jeden Tag vorbei. Sie war mein Anker und meine Lebensschnur.
"Und seitdem arbeite ich jeden Tag daran, mich von den Blicken anderer nicht verunsichern zu lassen. Naja... und den Rest kennst du."
Jay drückte aufmunternd meine Hand, die er irgendwann, während ich ihm meine Geschichte erzählte, unterstützend in seine genommen hatte. Und es hatte geholfen - ich war tatsächlich in der Lage gewesen, endlich alles in Worte zu fassen und laut auszusprechen.
"Es tut mir leid!", brachte er mit leicht zittriger Stimme hervor. Seine Worte waren aufrichtig und er wirkte sichtlich mitgenommen.
Ich wischte mit dem Handrücken über meine Augen. "Du kannst ja nichts dafür."
"Nein, aber... es tut mir leid, dass du das durchmachen musstest." Er schluckte schwer. "Ich versteh' nicht, wie Anton dir sowas nur antun konnte. Egal ob er bereit war, sich zu outen oder nicht... aber sowas geht gar nicht! Und diese Sarah..."
"Wir haben alle unser Päckchen zu tragen. Und ich weiß, dass Anton nur aus Angst so gehandelt hat."
"Wir alle haben Angst. Es geht einzig darum, wie wir damit umgehen. Daran erkennt man den wahren Charakter eines Menschen."
Jay drehte sich zu mir und sah mir in die Augen. "Du hättest es aufklären können. Du hättest sagen können, wie es wirklich war. Wieso hast du das nicht gemacht?"
"Weil es mir nicht zustand. Egal wie sehr Anton mich verletzt hat... Hätte ich ihn an diesem Tag geoutet, wäre ich kein Stück besser gewesen als er."
"Du bist ein viel besserer Mensch als er je sein wird!" Erneut drückte er meine Hand. "Und stärker als die meisten Menschen, die ich je kennengelernt habe!"
Obwohl die Gedanken an Anton und das Sprechen über ihn immer noch weh taten, fühlte ich mich leichter, nachdem ich Jay davon erzählt hatte. So schmerzlich diese Erfahrungen für mich waren, lagen sie in der Vergangenheit.
Einmal mehr wurde mir klar, dass ich nach vorne blicken musste. Denn obwohl ich gerade alle Erinnerungen an Anton erneut durchlebte, schwirrte mir in diesem Augenblick nur ein Gedanke durch den Kopf: Wie gerne würde ich Jay in diesem Moment küssen!
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