#08 Ein Picknick machen [Teil 1]
Samstag, 28. Oktober – 12:25 Uhr
"Ich hoffe du hast Hunger?", fragte Jay und seine dunklen Augen musterten mich, als er etwas abseits vom Wanderweg seinen Rucksack von den Schultern hievte und vor sich abstellte.
Ich nickte neugierig, woraufhin Jay den Reißverschluss seines Rucksacks aufzog und eine große Picknickdecke auspackte.
"Ein Picknick?", fragte ich aufgeregt.
"Yes!"
Er schüttelte die Decke aus und ich half ihm beim Ausbreiten und Glattstreichen.
"Du hättest was sagen sollen, dann hätte ich auch was mitgebracht. Jetzt kann ich dir nur ein Brötchen und einen Apfel anbieten", brachte ich entschuldigend hervor.
"Wenn ich vorher was gesagt hätte, wäre es ja keine Überraschung gewesen, oder?"
Nach und nach packte Jay Behälter mit geschnittenem Brot, Käse, Aufschnitt, Tomaten und Gürkchen aus, dann noch einen Behälter mit Obst und eine Tafel Schokolade. Zum Schluss kramte er noch zwei Teller hervor. So langsam wurde mir klar, weshalb sein Rucksack so groß und prall gefüllt war.
Beeindruckt ließ ich meinen Blick über die mittlerweile großräumig bedeckte Picknickdecke schweifen.
"Ach ja, und zum Trinken habe ich Tee mitgebracht. Etwas langweilig, ich weiß, aber ich dachte, für Cocktails ist's noch etwas zu früh", fügte er augenzwinkernd hinzu.
"Das...", ich wusste nicht, was ich dazu sagen sollte. "Wow!"
"Überraschung gelungen?"
"Definitiv, danke!"
"Setz dich!" Mit einer einladenden Handbewegung deutete er auf eine freie Stelle auf der Picknickdecke. "Ich hoffe, es ist was für dich dabei. Bedien' dich!"
Ich war gerührt - noch nie hatte sich ein Junge so für mich ins Zeug gelegt. Ich versuchte mir jedoch nichts darauf einzubilden oder mich fälschlicherweise in etwas hineinzusteigern, das ich mir zwar irgendwie erhoffte, was aber vielleicht rein platonisch gemeint war. Also konzentrierte ich mich auf das Essen.
Als wir fast alles aufgegessen hatten - die Tafel Schokolade hatten wir uns noch aufgespart - räumte Jay die leeren Behälter wieder in seinen Rucksack und wir machten es uns auf der Decke gemütlich. Nachdem er sie geöffnet hatte, legte Jay die Schokolade zwischen uns. Wir nahmen uns abwechselnd ein Stückchen und ließen es uns auf der Zunge zergehen, während wir in der Sonne lagen und die Wolken beobachteten.
Nebeneinander in der Stille zu liegen, nicht weil man nichts zu sagen hat, sondern weil allein die Anwesenheit des anderen bereits für sich spricht, ist eine Eigenschaft, die ich an einem Menschen sehr schätze. Bei vielen Menschen habe ich das Gefühl, diese Stille durch Worte füllen zu müssen, aus Angst, ich könnte sonst langweilig wirken. Aber in Jays Gegenwart traute ich mich, Stille zuzulassen. Stille, die mir ausnahmsweise nicht unangenehm war. Stille, die zu innerer Ruhe und Sicherheit führte. Seit langem hatte ich das Gefühl, genug zu sein und mich nicht beweisen zu müssen.
Selten habe ich mich so wohl mit jemandem gefühlt. Es war mir unerklärlich, wieso ausgerechnet Jay es war, der mir innerhalb so kurzer Zeit meine Unsicherheiten und Ängste zu nehmen und durch ein Gefühl von Stärke zu ersetzen schien. Stück für Stück stellte er dadurch das Vertrauen in mich selbst wieder her. Verdammt, wie sehr hoffte ich, dass das alles nicht nur rein platonisch war!
"Tim?"
"Ja?"
Ich wandte den Blick von der Wolke ab, der vermutlich die "Schäfchenwolken" ihren Namen verdankten und drehte meinen Kopf, bis mein Blick den meines Gegenübers traf und ich in das dunkle Braun blickte, in dem ich mich bestimmt irgendwann einmal verlieren werde.
"Darf ich dir eine persönliche Frage stellen?"
Etwas überrascht nickte ich. "Klar!"
"Wie geht's dir... also mit der sozialen Phobie? Ich meine... naja, also ich habe ein bisschen recherchiert, aber es hieß, dass die Symptome von Person zu Person unterschiedlich sind. Und dass es auch unterschiedliche Auslöser dafür gibt. Ich weiß, die Frage ist sehr persönlich und du musst auch nicht antworten. Ich..." Er suchte nach den richtigen Worten. "Ich würde dich gerne besser verstehen. Und besser verstehen, wieso manche Dinge auf deiner Liste für dich herausfordernd sind..."
Mit dieser Frage hatte ich nicht gerechnet. Noch nie hat mich jemand direkt nach meiner Angststörung gefragt. Hannah hatte vieles mitbekommen, aber auch ihr habe ich nie so richtig erzählt, was in mir vorging. Ich hatte in den letzten Wochen, seit ich mich genauer in das Thema, vor allem aber in das Thema Selbstheilung eingelesen hatte, wiederholt Gedanken dazu gemacht. Dennoch habe ich das Ganze noch nie ausgesprochen. Es fühlte sich komisch an, darüber zu reden. Andererseits empfand ich es als sehr aufmerksam von Jay und ich war positiv überrascht, dass er mich direkt darauf ansprach. Jay gab mir das Gefühl, ihm davon erzählen zu können, auch wenn es mich viel Kraft und Überwindung kostete, darüber zu sprechen. Ich atmete tief durch.
"Alles begann letztes Jahr an Silvester. Ich war mit Anton auf einer Silvesterparty..."
Nachdem ich Anton mitten in Aktion mit Sarah erwischt hatte, schlug ich die Autotür zu und lief wie in Trance nach Hause. Es ist mir bis heute ein Rätsel, wie ich mitten in der eiskalten Winternacht die knapp zehn Kilometer zu Fuß zurückgelegt habe und heil zu Hause angekommen bin. Die Tage, die ich anschließend im Bett verbrachte und die dauerhaft geröteten Augen, konnte ich leider nicht auf eine Erkältung schieben, was mir tausendmal lieber gewesen wäre.
Anton mit Sarah zu sehen war, als ob man mir das Herz herausgerissen hätte. Ich war am Boden zerstört und ignorierte die gefühlt 100 Anrufe und Nachrichten, die die kommenden Tage von Anton eingingen, bis sie schließlich verstummten. Ich hatte eine Woche Zeit, mich darauf vorzubereiten, Anton in der Schule zu begegnen. Wir waren zwar nicht in derselben Klasse, aber auf derselben Stufe und wir waren beide im Abschlussjahr. Es war nur eine Frage der Zeit, bis sich unsere Wege wieder kreuzen sollten. Und bis dahin würde ich mir mein Krönchen wieder zurechtrücken und ihm mit erhobenem Haupt entgegentreten. Er sollte sehen, was er verloren hatte. Ich hatte mich viel zu lange ihm zuliebe versteckt. Klar, die Leute wussten, dass ich schwul war, aber niemand wusste, dass ich vergeben war und dass Anton es war, der die letzten Monate an meiner Seite war.
In dieser Zeit versuchte ich in meinem Verhalten nicht zu laut zu sein, keine unnötige Aufmerksamkeit auf mich zu lenken. Als Schülersprecher war das nicht immer einfach, aber immerhin wurde mein Auffallen dadurch nicht auf meine Sexualität beschränkt.
Am Morgen nach den Weihnachtsferien wusch ich mir alle Tränen der letzten Tage aus dem Gesicht und machte mich auf den Weg in die Schule. So, als ob nichts vorgefallen wäre, denn wenn man es genau nahm, war für alle um mich herum tatsächlich nichts vorgefallen.
Doch als ich den Schulhof betrat, waren ungewohnt viele Augenpaare auf mich gerichtet. Unsicher, was es damit auf sich hatte, suchte ich nach Hannah, die mich sofort am Arm packte und beiseite zog.
"Was ist los? Wieso starren alle so?"
"Das, was ich dir gleich zeige, wird dir nicht gefallen. Versprich mir, dass du dir das nicht zu Herzen nimmst, okay? Das Video und das, was da steht,..."
"Hannah!", unterbrach ich sie. "Um was geht es? Wovon redest du?"
"Alex hat gestern Abend die Fotos von seiner Silvesterparty veröffentlicht. Darunter war auch ein Video von Anton. Anscheinend hat euch jemand zusammen gesehen..."
Ich nahm meiner Freundin ihr Handy aus der Hand und versuchte mich auf das Video mit der Bildunterschrift "Das neue Dream-Couple🔥" zu konzentrieren. Ich war zwar stolzer Social-Media-Meider, aber in diesem Fall machte ich eine Ausnahme.
Das Video zeigte Anton, der am Silvesterabend alleine auf dem Balkon stand. Vermutlich wurde es aufgenommen, kurz nachdem ich auf die Toilette ging. Er schien nicht zu realisieren, dass er gefilmt wurde.
"Trau dich! Du wirst sehen, das wird voll romantisch!", hörte man eine weibliche Stimme hinter der Kamera. Kurz darauf kam Sarah ins Bild und stolzierte auf ihn zu. Sie schien schon etwas angetrunken.
"Hi, Anton!" Er drehte sich überrascht zu ihr um.
"Sarah? Was machst du denn hier?"
"Das ist eine Party, schon vergessen? Und ich bin hier, um Spaß zu haben." Sie zwinkerte Anton zu, der sie nur fragend ansah.
"Ich habe lange über uns nachgedacht und ich denke, wir sollten es nochmal zusammen versuchen."
"Ich glaube nicht, dass...", begann er.
"Wieso denn nicht? Du bist Single, ich bin Single... wir scheinen doch zu matchen, oder?"
"Sarah, das mit uns..."
"Was denn? Hast du etwa eine andere?"
Anton sah Sarah nervös an, antwortete aber nicht.
"Ich habe dich heute mit unserem Schülersprecher gesehen. Sag bloß, er ist der Grund, wieso du mich abserviert hast?"
"Ich denke, du bist schon etwas angetrunken", versuchte Anton das Thema zu wechseln.
"Also habe ich recht?" Nun sah sie in die Kamera. "Ist das der Grund, wieso unser Fußball-Kapitän sich nicht mehr gemeldet hat? Dann liegt's also nicht an mir, sondern daran, dass er..."
"Was macht ihr da?", fragte er sichtlich aufgebracht. "So ein Quatsch! Tim und ich sind..."
"Freunde?", kicherte sie. "Und wieso bist du dann so nervös?"
"Ich bin nicht... Mach das aus!"
Sarah trat an ihn heran. "Oder mache ich dich etwa nervös?"
"Um ehrlich zu sein, ja!"
"Und wieso? Willst du mich etwa küssen? Du musst dich nicht zurückhalten. Beim letzten Mal hast du mich auch geküsst..."
Plötzlich traten weitere Personen ins Bild. Ich erkannte Alex, der die Silvesterparty organisiert hatte und weitere Kumpels von Anton.
"Da bist du ja, Alter! Wir suchen dich und du versteckst dich hier mit deiner Freundin."
"Sie ist nicht..."
"Wir wollten auch gar nicht stören. Macht einfach weiter, wo ihr aufgehört habt." Der blonde Junge zwinkerte Anton zu und drehte sich dann zu dem Mädchen mit der Kamera: "Komm, Schatz!"
An dieser Stelle brach das Video ab.
"Es kommt noch schlimmer." Hannah sah mich vorsichtig an. "Lies die Kommentare!"
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