Prolog | Sam
Wenn man mich fragt, ob mein Leben immer einfach gewesen ist, sage ich die Wahrheit.
Wieso sollte ich lügen? Wieso sollte ich erzählen, dass es mir gut geht, obwohl es mir absolut nicht gut geht und ich mich jeden Morgen aus dem Bett quäle, um einen erneuten Tag durchzustehen?
Äußerlich lass ich mir nicht anmerken, dass ich kaputt bin. Kaputt durch den Verlust meines Sohnes, kaputt durch meine tägliche Arbeit, kaputt durch sämtliche andere Dinge die mir im privaten Umfeld passiert sind: die Scheidung meiner Eltern, und noch so vieles mehr.
Innerlich bin ich ein Wrack. Einsam. Fertig mit der Welt und mit mir selbst.
Aber ich kann nicht aufgeben. Ich kann nicht, auch wenn ich so sehr wollte.
Ich habe noch immer meine Familie, ob meine Eltern geschieden sind, oder nicht. Ich habe meine kleine Schwester. Meinen Neffen.
Leute die mich lieben und brauchen. Leute die nicht wissen, wie es im Inneren wirklich in mir aussieht. Schwarz und leer.
Ich funktioniere nur noch für die anderen, nicht mal für mich selbst und ich bin so widerlich erschöpft.
Ich kann nicht gehen. Ich muss bleiben und muss für alles eine Lösung finden.
Ich fühle mich absolut lächerlich, so wie jedes Mal, wenn ich meinen Lieblingskugelschreiber zur Seite lege und auf die geschriebenen Worte hinabblicke, die ich zuvor zur Papier gebracht habe.
Lächerlich, weil ich, als Kerl, der Kriminellen zu gern eine reinhaut, meine Gedanken niederschreibe, als sei ich ein fünfzehn Jahre altes Mädchen in mitten der Pubertät. Ein fünfzehn Jahre altes Mädchen, was von niemanden verstanden wird. Nicht von seinen Eltern, Freunden, von seinen Geschwistern.
Niemanden.
Mich wird auch keiner verstehen. Ich verstehe mich selbst nicht mal- und das ist schon traurig genug.
Ich verstehe nicht, wieso ich automatisch den innerlichen Schalter umlege und so tun kann, als sei alles in bester Ordnung, obwohl ich innerlich, mal für mal, immer mehr zerbreche.
Seufzend fasse ich mir ans Kinn und spüre die unangenehmen und kratzenden Stoppeln, während ich noch immer auf das weiße Papier mit meinen Gedanken blicke.
»Was soll's«, murmle ich und greife nach den braunen Umschlag, in dem bereits alle anderen Einträge versteckt sind, und füge nun auch noch dieses Schreiben hinzu.
Dann stehe ich auf und begebe mich in die Küche meines Apartments, in dem ich eines meiner selbstgebauten Geheimverstecke habe.
In diesem ist nicht nur ein bisschen Bargeld, sondern auch dieser eine dickliche Umschlag mit meinen negativen Gedanken, welchen ich schnell verschwinden lasse.
Als ich die Holzdiele im Schrank unter dem Waschbecken wieder auf ihre Position lege, klingelt mein Handy auf.
Durch das Klingeln meines Handys werde ich augenblicklich zurück ins Hier und Jetzt befördert und schon wieder fange ich an zu funktionieren, anstatt Trübsal zu blasen.
Ich schlage die Schranktür zu und eile von der Küche ins angrenzende Esszimmer, um mit Bauchschmerzen nach meinem Handy zu greifen.
Hoffentlich ist es nicht Voight der mich mitten in der Nacht zu einem Fall beordert. Der Arbeitstag heute ist schon stressig genug gewesen und für heute habe ich wirklich genug. Körperlich sowie auch seelisch.
Gespannt starre ich auf den aufleuchtenden Bildschirm.
Nora
Zögerlich nehme ich das Gespräch an und halte mir das Handy ans Ohr. »McGowan«, spreche ich in den Hörer hinein und warte auf eine Antwort.
»Ich bin's... Ähm... Nora wie man unschwer hören kann.« Noras helle und hohe Stimme werde ich unter Tausenden stimmen wieder erkennen.
»Oh, hi«, sage ich gespielt freundlich und setze mich aber genervt auf dem Rand meines Esstisches. »Was gibt's denn?«
»Ich wollte fragen, ob wir was essen gehen wollen. Oder in eine Bar?«
»Die Arbeit hat mich heute echt geschafft«, erzähle ich- das ist auch wahr. Die Arbeit heute ist wirklich mehr als anstrengend gewesen. »Ein anderes Mal«, füge ich noch schnell hinzu.
»Hm, komisch, dass sagst du seit zwei Wochen durchgehend«, kommentiert Nora zähneknirschend und in ihrer Stimme höre ich heraus, dass sie irgendwie verletzt schien.
Ich fange an in der Wohnung auf und ab zu gehen und blicke auf die Mappe mit den anderen Unterlagen, die auf meinem Esstisch liegt.
»Ziemlich wichtiger Fall an dem wir arbeiten. Dann Überstunden und so weiter. Der Fall hat gerade höchste Priorität. Tut mir leid.«
Der aktuelle Fall auf der Arbeit ist wirklich nicht gerade einfach, aber der zweite Fall in dem ich in meiner Freizeit bearbeite, hat es auch in sich.
Hätte ich nicht in Noras Tagebuch geschnüffelt, wäre ich jetzt nicht in mitten einer heimlichen Ermittlung. Eine Vergewaltigung die vor etlichen Jahren passiert ist. Die Vergewaltigung von Nora Holland, einer Schulfreundin meiner kleinen Schwester.
»Tut mir leid. Ehrlich«, wiederhole ich mich. Nora tut mir schon leid- wirklich.
Ich Idiot versuche sie seit zwei Wochen zu meiden, damit ich ihren damaligen Peiniger finden kann. Ja, dass ist lächerlich- und wie lächerlich das ist.
Vor allen Dingen mag ich Nora sehr, weshalb ich sie nicht wegen dem Vorfall befragen kann.
Wie soll ich ihr erklären, dass ich in ihrer Wohnung herumgeschnüffelt habe und dann auf ihr Tagebuch gestoßen bin?
»Ist okay«, murrt sie enttäuscht. »Melde dich, wenn du Zeit hast... oder... warte... lass es einfach bleiben, Sam...«
Ich will gerade zur Widerrede ansetzen, da hat Nora schon aufgelegt.
»Fuck«, fluche ich und starre auf mein Handy. Nora hat das Gespräch tatsächlich beendet.
Ich lasse mich zurück auf den Stuhl fallen und ziehe die Mappe zu mir, um abermals die wenigen Informationen zu den Vorfall durchzugehen.
Da steht nicht viel, weil ich erstens, Nora nicht so einfach befragen kann und zweitens meine Schwester, die damals dabei gewesen ist, auch nichts Weiteres darüber weiß.
Daraus eine offizielle Ermittlung zu machen steht auch nicht zur Verfügung. Dann würde Nora die Wahrheit erfahren, dass ich durchgeknallter Vollidiot ihre Wohnung durchwühlt habe.
Wohin man mit seinen Vertrauensproblemen gegenüber Frauen immer wieder hingelangt ist nicht zu beschreiben. Für mich auf jeden Fall nicht.
Ich lese alles immer wieder durch. Immer und immer wieder.
Erster Vorfall; 03. September 2001
•Braidwood Dunes and Savannah Preserve, unter der 113, Essex Road, verlassener See, Waldgebiet, eine Stunde und 64 Meilen von Chicago entfernt
•Nora, Holly, Lydia
•Täter: schwarze Maske, Messer, muskulös-dick, groß, behaart, Wurstfinger
•Vermutliche Verletzung an der Stirn und dem Hinterkopf von einem Stein. Narben?
•Täter fotografierte die Mädchen beim Nacktbaden...
Wie naiv und dumm ist meine Schwester damals eigentlich gewesen?
Irgendwo in der Pampa, als Teenager, mitten in der Nacht in seinem See schwimmen und das nackt.
Das lockt doch schon die größten Perverslinge an- so wie eben der unbekannte Täter.
Obwohl... Holly wäre selbst nicht auf solch eine Idee gekommen. In dem Fall ist es wieder mal Lydia Martin zuzuschreiben- kein Wunder.
Lydia ist nicht gerade der hundertprozentige perfekte Umgang für meine kleine Schwester gewesen- ob sie beste Freundinnen gewesen sind, hin oder her.
•Holly und Lydia flüchten vor Schreck, lassen versehentlich Nora zurück, kommen Nora zur Hilfe
•Nora wird vom Täter vergewaltigt
•Holly greift Täter mit einem Stein an, verletzt diesem am Hinterkopf und an der Stirn
•Mädchen flüchten
»Das Glück ist mit den doofen und naiven Teenagern«, brumme ich und lese weiter.
Zweiter Vorfall, 06.09.2001
•Holly geht mit Parker spazieren
•Typ, mit derselben Maske, Statur- verfolgt sie durch Canaryville, fasst sich an die Stirn (Zeichen wegen den Verletzungen?)
•Holly gerät in Panik und läuft vors Auto.
•Typ verschwindet und wird nicht mehr gesehen
•Keine weiteren Vorfälle
•Vermisstenfälle, Schülerinnen der Tilden Highschool: Cassie, Maddie und Esther- Zusammenhang?
Seufzend reibe ich mir die Stirn und klappe die Mappe mit einem Schwung zu. Um mich diesem Fall zu widmen fehlt mir gerade die Lust, weshalb ich mich mit einer Flasche Bier vor die Flimmerkiste setze und Family Feud gespannt verfolge.
Innerlich frage ich mich, wie ich wohl am besten an die alten Akten von Cassie, Esther und Maddie kommen kann, ohne im Server meiner Arbeit auf mich aufmerksam zu machen.
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