19
Lily hätte das kleine Hotel kaum wieder erkannt, hätte Mrs. Renigton, Eugenias Mutter, nicht hinter dem Tresen gestanden.
Es herrschte Hochbetrieb. Koffer standen im Flur, Treppen knarzten und irgendwo gab eine Eule Geräusche von sich. Verdutzt blieb Lily noch in der Tür stehen, die Klingel hatte in dem Gewusel ohnehin niemand gehört. Mrs. Renigton bemühte sich unterdessen, auf einer fremden Sprache, es klang verdächtig nach französisch, aber da war Lily sich nicht sicher, zwei Zauberern mit langen marineblauen Mänteln und farbig dazu passenden Spitzhüten, zu erklären, dass sie keine Zimmer mehr frei hatte.
„Meine Damen und Herren, ich habe bereits den Dachboden vermietet", sagte sie langsam und deutlich, aber ein scharfer Unterton hatte sich in ihre Stimme geschlichen. „Sie sind zu spät", sie deutete auf die zierliche Uhr, die um ihr schmales Handgelenk lag. „Das trimagische Turnier beginnt heute." Die Zauberer unterhielten sich schnell und ungehalten sprechend in fremder Sprache.
Immer, wenn Mrs. Renigton gestresst war, standen ihre Haare noch wuseliger und lockiger von ihrem Kopf ab. Gerade wirkte sie, als hätte sie mehrere Stunden in Folge über einem brodelnden Zaubertrank gearbeitet. Die roten Locken tanzten wie ein Leuchtfeuer um sie herum.
Die Zauberer zwischen hinter vorgehaltener Hand ein paar letzte Worte, dann rauschten sie mit wallenden Umhängen an Lily vorbei zurück auf die Straße. Mrs. Renigton verbarg den Kopf in den Händen und seufzte leise. „Ziemlich viel los", bemerkte Lily und schloss die Tür hinter sich.
Sofort wurde es ruhiger. Die dicken Teppiche schluckten den Lärm der oberen Etagen, das wilde Kreischen der Eule hatte sich gelegt.
„Ich glaube draußen hängt noch das Schild Zimmer frei", sagte Lily vorsichtig. Mrs. Renigton seufzte wieder. „Ja, ich hätte es schon längst abhängen müssen. Aber wir waren in den vergangenen Jahren noch kein einziges Mal ausgebucht. Seitdem Madam Rosmerta die Drei Besen übernommen hat, vermieten wir höchstens noch zwei, drei Zimmer gleichzeitig. Und jetzt alle sechs, sogar den Dachboden. Und dort sind mehr Motten als Daunen in den Betten!"
Mrs. Renigton lachte, Lily fiel mit ein. Ihre Locken beruhigten sich wieder etwas und legten sich in gewohnter Fülle um ihr herzförmiges Gesicht. „Setz dich doch, Lily und erzähl mir ein bisschen wie es dir und deinem Vater geht." Mit einer eleganten Bewegung nahm sie ihren Zauberstab hervor und zeichnete eine weiche Kurve in die Luft. Lily trat einen Schritt beiseite und augenblicklich erschien ein gemütlicher Sessel neben ihr.
Sie ließ sich in die waldgrünen Polster sinken und es wunderte sie nicht, als nur einen Moment später eine Tasse mit dampfendem Tee vor ihrer Nasenspitze schwebte. Mrs. Renigton war eine Zauberin größter Exzellenz, es kam nicht aus dem Nichts, dass sie sich so gut mit Sev sowie mit Dumbledore verstand.
Neben ihrem Hotel, das aber niemals all ihre finanzielle Bedürfnisse und schon gar nicht die von Eugenias Augenbehandlungen, deckte, war Mrs. Renigton ein Geheimtipp unter Bibliothekaren. Sie handelte besondere Bücher, Bücher, die handschriftlich verfasst worden waren, Bücher, über schwarze Magie, seltene Bücher. Manchmal fragte Lily sich, ob Sev sie darüber kennengelernt hatte.
„Ich denke mir schon, dass du eigentlich zu Eugenia wolltest. Aber sie ist gerade in London und erst in ein paar Tagen zurück."
Lily nickte und nippte an ihrem Tee. Das feine Bergamotte-Aroma stieg in ihre Nase. „Schade", sagte sie, „ich hatte gehofft, mit ihr über... ein Haustier reden zu können." Mrs. Renigton zog die Augenbrauen hoch. „Ein Haustier", wiederholte sie und Lily senkte den Kopf.
„Unter der Voraussetzung, dass sie das nicht... bei meinem Vater durchblicken lassen", begann sie und wartete auf Mrs. Renigtons zustimmende Geste. Mrs. Renigton legte den Kopf schief, lächelte und gab nach. „Unter keinen Umständen." Lily lächelte und senkte die Stimme.
„Nun gut. Ein Freund von mir", begann sie und fuhr über die samtige Polsterung des Sessels, „hat Hundewelpen, die er gerne an vertrauenswürdige neue Besitzer abgeben würde. Es waren einmal sechs, jetzt haben wir schon fünf vermittelt bekommen, nur Mette-", Lily stockte und sah auf um Mrs. Renigtons Gesichtsausdruck zu beobachten.
Aber Mrs. Renigton teilte in dieser Hinsicht Sevs Fähigkeiten und verzog keine Miene. Also fuhr Lily fort: „Also Mette, das steht für Limette und das ist ihr... hm, Name." Der Obstsalat brachte sie kurz aus dem Konzept. „Jedenfalls ist Mette ein-" Lily suchte nach Worten. Schließlich war Mette nicht unbedingt für ihre Manieren bekannt.
„Hat Mette es verdient, bei netten Menschen zu leben und ich dachte vielleicht würde Eugenia sich freuen, einen vierbeinigen Gefährten zu haben..."
Lilys Stimme verblasste und wurde von den unzähligen schweren Teppichen geschluckt. Sie kam sich auf einmal albern vor.
„Weißt du, warum Eugenia im Moment in London ist?", fragte Mrs. Renigton, kurz bevor die Stille unangenehm werden konnte. Lily schüttelte den Kopf.
„Sie besucht in London Freunde von mir." Mrs. Renigton wickelte sich eine Locke um den Finger. „Oder besser gesagt, Bekannte. Ein Ehepaar, Muggel. Sie haben eine Tochter etwa in Eugenias Alter. Auch mit Sehbehinderung." Sie starrte in ihre Teetasse, als sei in ihr etwas verborgen, dass Lily nicht erkennen konnte.
„Sie hat dort diesen Sommer einige Wochen verbracht, als ich auf Reisen war." Lily nickte. Eugenia fühlte sich nicht wohl dabei, ihre Mutter auf Reisen zu begleiten. In unbekannten Gebäuden tauchten aus dem nichts Stufen auf, konnte man in Menschenmengen verloren gehen. Außerdem war die Suche nach seltenen Büchern auch ohne Seheinschränkung schon gefährlich genug.
Lily erinnerte sich an einen Winternachmittag, als Sev einen Tag lang seinen Unterricht ausfallen ließ, um einen Wundheiltrank für Mrs. Renigton zu brauen, die von einer Reise mit Verbrennungen dritten Grades am gesamten Oberkörper zurückgekehrt war, gegen die keine üblichen Heilmittel zu helfen vermochten.
„Für Sophia, so heißt das Mädchen, wurde jetzt ein Blindenhund ausgebildet. Das sind Tiere, die die Menschen in ihrem Alltag begleiten und ihnen helfen, die richtigen Wege zu finden", erklärte Mrs. Renigton. „In der Muggelwelt durchaus verbreitet", fügte sie hinzu. „Manchmal frage ich mich, ob wir Zauberer überhaupt auf solche Ideen kommen würden. Einen Hund jahre- oder monatelang darauf vorzubereiten, einen Menschen in seinem Alltag zu begleiten. In unserer Welt muss alles immer mit einem großen Knall, nach wenigen Sekunden und mit möglichst viel Wucht eintreffen."
Ihr Blick verlor sich auf dem farbig abstrakten Gemälde in Lilys Rücken. „Aber das ist eine andere Diskussion." Lily zuckte mit den Schultern. „Das hat Sev auch immer gestört. Er ist der Meinung, dass deshalb nur so wenige gut in Zaubertränke sind." Mrs. Renigton lächelte. „Und er hat Recht, schätze ich. Es braucht Geduld, Präzision, kein wildes Zauberstab-" „Zauberstabgefuchtel", ergänzte Lily grinsend, „ich weiß schon, das ist auch eine seiner Parolen."
„Eugenia hat Tiere nie sonderlich gemocht, weißt du", fuhr Mrs. Renigton fort. „Wir hatten einmal zwei Kanarienvögel. Sie haben immer urplötzlich Geräusche von sich gegeben, damit konnte Eugenia nicht gut umgehen. Also haben wir sie weggegeben. Aber seitdem Eugenia aus London zurück ist, hat sie häufiger von Sophias Hund erzählt. Vielleicht, wenn du es in ein paar Tagen nochmal probierst, wirst du Glück haben."
Lily versprach, wiederzukommen und wünschte Mrs. Renigton viel Erfolg mit den ganzen Gästen. Kurz bevor sie das Hotel wieder verließ, drückte ihr Eugenias Mutter noch ein Buch in die Hand. Es war mit einer metallenen Kette gesichert, sodass es sich nicht einfach öffnen ließ.
„Für deinen Vater", sagte sie und überreichte es Lily. „Keine Versuche, es auf dem Weg zu öffnen und lass dich bei Merlins Bart nicht von Filch kontrollieren." Lily hatte es kaum entgegen genommen und den Mund geöffnet, da hatte Mrs. Renigton auch schon mit einer zackigen Bewegung ihres Zauberstabes Lilys Kinn dazu gebracht, dass beide Zahnreihen wieder aufeinander lagen.
„Keine Fragen", sagte sie bedauernd, dann vorwurfsvoll: „Du kennst doch die Regeln."
Lily verdrehte die Augen. „Herzliche Grüße an Eugenia, bitte", sagte sie also stattdessen. Mrs. Renigtons strenge Miene wandelte sich augenblicklich. „Werde ich ausrichten." Lily erhob sich und im selben Augenblick verschwand der Sessel.
„Auf Wiedersehen, Mrs. Renigton", sagte Lily und ließ das Buch mit gebührendem Abstand zu ihrer Haut, unter ihrem Umhang verschwinden, als sie aus der Tür trat.
*
Als Lily die Treppen zum Schloss erklommen hatte, wäre sie fast in Hagrid hineingelaufen. „Lily, du bist's! Spät dran für's Festbankett, würd' ich meinen", brummte er, nachdem er ihr das Eingangsportal aufgehalten hatte. „Festbankett?", fragte Lily vollkommen durch den Wind, bis ihr einfiel, dass die Beauxbatons- und Durmstrangschüler heute ankommen würden.
„Na also das richtige Festbankett ist wohl erst morgen, wenn der Feuerkelch die Auswahl der Champions trifft. Aber heute gibt's auch schon allerlei, geh' nur, damit dir die Gryffindors nicht alles wegessen! Ron sah aus, als könnte er ein ganzes Wildschwein verspeisen!" Hagrid lachte und wischte sich seine Hände an der Hose ab.
„Und warum bist du nicht beim Bankett?", fragte Lily erstaunt. Hagrid hob die Schultern. „Nun ja, Auftrag von Dumbledore." Er streckte den Rücken durch und wirkte noch größer als sonst. „Meine Fähigkeiten als Wildhüter werden gebraucht. Sieh' mal, da hinten."
Er deutete auf die Ländereien. Unweit seiner Hütte stand ein riesiges Pferdegespann. „Die Franzosen sind mit einer fliegenden Kutsche angereist. Stilvoll, will ich meinen. Aber die Pferde brauch'n jemand'n, der sie im Schach halten kann." Lily grinste. „Ich könnte mir niemand besseren als dich vorstellen", sagte sie und falls überhaupt möglich hatte sie den Eindruck, dass Hagrids Brust noch ein bisschen anschwoll.
So gut gelaunt hatte sie ihn selten erlebt, Lily glaubte sogar ihn pfeifen zu hören, als er sich auf den Weg über die Wiesen nach unten machte.
Lily wählte nicht den direkten Weg zum Festbankett, stattdessen nahm sie den Umweg über Sevs Büro. Sie fühlte sich unwohl bei dem Gedanken, ein ganzes Essen lang mit einem eventuell schwarzmagischen Buch unter dem Umhang am Gryffindortisch sitzen zu müssen.
*
„Wo zur Hölle warst du?", fragte Laureen, als Lily sich zwischen sie und Ginny quetschte. Sie räusperte sich. „Draußen, ich... ich habe komplett die Zeit vergessen."
„Was du nicht sagst", bemerkte Ginny sarkastisch. „Du hast jedenfalls eine ganz schöne Show verpasst. Die Durmstrangs sind mit einem riesigen Schiff aus dem Schwarzen See aufgetaucht und du wirst es nicht glauben", sagte Madison und senkte verschwörerisch ihre Stimme, „einer der Schüler, der sich fürs Trimagische Turnier bewerben wird, ist Viktor Krumm!"
„Der Quidditchspieler?", fragte Lily und versuchte bestmöglich Interesse vorzugaukeln. Laureen verdrehte die Augen. „Natürlich der Quidditchspieler", antwortete sie an Madison Stelle. „Und die Beauxbatons", fuhr Hillary fort, „sind mit einer Kutsche angereist. Einer fliegenden Kutsche." „Ja, das wusste ich schon", murmelte Lily. „Hab Hagrid auf dem Weg getroffen."
„Aber was du vielleicht nicht wusstest", sagte Ginny und blickte zum Ravenclawtisch, „ist, dass die von Beauxbatons eine Veela dabei haben. Und die unterhält sich zufällig gerade mit Jasper."
Unauffällig versuchte Lily sich umzudrehen, leider saß sie auf der falschen Seite des Tisches. „Und mit Noah, zugegebenermaßen", ergänzte Ginny. „Sicher, dass das eine Veela ist?", fragte Lily, nachdem sie einen kurzen Seitenblick riskiert hatte.
„Ohne Frage", antwortete Madison. „Als die Veela sich zwischen die Ravenclaws gedrängt hat, sahen mindestens zehn Jungs so aus, als könnten die ihr in den nächsten zehn Sekunden einen Heiratsantrag machen." Sie schnaubte und starrte ungehemmt zum Ravenclawtisch.
„Aber keine Sorge, Jasper scheint unbeeindruckt", bemerkte Laureen und verpasste Lily unter dem Tisch einen Fußtritt, der stärker weh tat, als vermutlich beabsichtigt.
„Aua", beschwerte Lily sich und sah, sich das Schienbein reibend ein zweites Mal zum Ravenclawtisch. Jasper wirkte tatsächlich unbeeindruckt von der Veela. Was vor allem daran lag, dass er sich angeregt mit einem anderen Mädchen unterhielt, das neben der Veela saß und Lily plötzlich zuwinkte.
„Meint sie dich?", fragte Ginny erstaunt. „Wer ist das andere Mädchen?" „Ähm", machte Lily nur und hörte auf sich wie eine Idiotin über ihr schmerzendes Bein zu streichen. „Das ist Rosalie schätze ich. Französin, eine Freundin von Jasper."
„Oh", gab Ginny von sich. „Ich will ja nicht pessimistisch sein, aber vielleicht ist es doch nicht so ein gutes Zeichen, dass die Veela Jasper nicht die Bohne interessiert." Lily schluckte und auf einmal hatte sie selbst beim Anblick der ganzen Speisen vor sich den Appetit verloren.
Bạn đang đọc truyện trên: Truyen247.Pro