Der Tag der Tage
Lily stand vor dem abgenutzten Lagerhaus, dessen rostige Tore kaum noch in ihren Angeln hingen. Es war später Abend, und die Straßen um sie herum waren leer und still. James hatte den Ort für das Treffen vorgeschlagen, und obwohl sie sich unwohl fühlte, hatte sie zugestimmt. Es war ein abgelegener Ort, und genau das war vermutlich der Grund, warum er ihn gewählt hatte.
Mit einem letzten tiefen Atemzug schob sie die Tür auf. Ein schwaches Licht flackerte im Inneren, und der muffige Geruch von Öl und Staub drang ihr in die Nase. Sie hörte Stimmen – gedämpft, aber eindringlich – und ging vorsichtig weiter, ihre Schritte hallten leise auf dem Betonboden.
James wartete bereits. Neben ihm standen zwei andere Männer, die Lily nicht kannte. Der eine war groß und schlaksig, mit einem unrasierten Gesicht und nervösen Augen, die ständig durch den Raum wanderten. Der andere war breiter gebaut, mit kurzen Haaren und einem kalten, berechnenden Blick.
„Da bist du ja," sagte James und trat einen Schritt auf sie zu. Er wirkte erleichtert, sie zu sehen, aber auch angespannt. „Ich wusste, du würdest kommen."
Lily verschränkte die Arme vor der Brust. „Das hier ist kein Spiel, James. Ich bin nur hier, weil ich sehen will, was du geplant hast. Das heißt nicht, dass ich definitiv zusage."
James nickte langsam. „Ich verstehe. Aber hör dir erst einmal an, was ich zu sagen habe."
Er deutete auf einen der alten Stühle, die im Kreis um einen improvisierten Tisch standen. Zögernd setzte Lily sich, während James begann, den Plan zu erklären.
„Das Ziel ist eine Transportfirma," sagte er und breitete eine handgezeichnete Skizze auf dem Tisch aus. „Sie transportieren regelmäßig Geld für Banken und kleine Unternehmen, und nächste Woche gibt es eine Lieferung, die nicht allzu stark bewacht sein wird."
Der breite Mann, den James als „Mitch" vorgestellt hatte, fügte hinzu: „Das Timing ist perfekt. Sie wechseln gerade ihre Sicherheitsprotokolle, also sind sie anfälliger als sonst. Wir brauchen nur zwei Autos: eines, um die Aufmerksamkeit abzulenken, und das andere für den eigentlichen Transport."
Lily hörte aufmerksam zu, aber ihr Magen zog sich zusammen. „Und wie genau soll das funktionieren? Was ist meine Rolle dabei?"
James sah sie an, seine Stimme sanft, aber bestimmt. „Du fährst das zweite Auto. Deine Aufgabe ist es, die Ladung sicher aus der Gefahrenzone zu bringen. Wir übernehmen den riskanten Teil – du bist nur der Rückhalt."
„Nur der Rückhalt," wiederholte Lily trocken. Sie spürte, wie sich ein Knoten in ihrer Brust bildete. Sie war Fahrerin, das war ihr Talent, aber der Gedanke, in einen Überfall verwickelt zu sein, ließ sie nicht los.
Der schlaksige Mann, den James als „Kyle" vorgestellt hatte, kicherte nervös. „Ach, das wird ein Kinderspiel. Wir haben alles geplant."
Lily warf ihm einen scharfen Blick zu. „Und was passiert, wenn etwas schiefläuft? Was ist der Plan B?"
Mitch zuckte mit den Schultern. „Wir sind Profis. Es wird nichts schieflaufen."
Doch genau diese Selbstsicherheit ließ Lily noch mehr zweifeln. Sie drehte sich zu James. „Warum ich? Du hast sicher andere Kontakte, die besser in dein...Team passen."
James senkte den Blick für einen Moment, bevor er antwortete. „Weil ich dir vertraue. Und weil ich weiß, dass du es kannst. Außerdem brauche ich jemanden, der einen kühlen Kopf bewahrt. Die anderen hier..." Er warf einen Seitenblick auf Mitch und Kyle. „...sind nicht unbedingt die Zuverlässigsten."
Die Worte ließen Lily für einen Moment schweigen. Trotz allem war da ein Teil von ihr, der ihrem Bruder vertrauen wollte – der Teil, der sich nach einer Verbindung zu ihm sehnte, die sie in ihrer Kindheit geteilt hatten.
„Ich brauche Zeit, um darüber nachzudenken," sagte sie schließlich und stand auf.
James nickte. „Natürlich. Aber du weißt, dass die Uhr tickt. Ich brauche eine Antwort bis morgen Abend."
Ohne ein weiteres Wort drehte Lily sich um und verließ das Lagerhaus. Die kühle Nachtluft schlug ihr entgegen, als sie nach draußen trat, und sie atmete tief durch, um die Beklemmung loszuwerden, die sie drinnen gespürt hatte.
Auf dem Weg nach Hause gingen ihr tausend Gedanken durch den Kopf. Sie wusste, dass James' Plan riskant war, aber sie konnte auch nicht ignorieren, wie dringend sie das Geld brauchten. Ihr Team steckte in der Klemme, und wenn sie es nicht bald schafften, ihre Schulden zu begleichen, würden sie alles verlieren, wofür sie gearbeitet hatten.
Doch war sie wirklich bereit, so weit zu gehen?
Als sie in ihre Wohnung zurückkehrte, war sie zu erschöpft, um eine Entscheidung zu treffen. Sie legte sich ins Bett, aber der Schlaf wollte nicht kommen. Stattdessen starrte sie die Decke an, während die Worte ihres Bruders immer wieder durch ihren Kopf hallten.
Am nächsten Morgen fühlte sie sich nicht viel klarer. Sie ging in die Küche, um sich einen Kaffee zu machen, als ihr Blick auf das Stück Papier mit James' Telefonnummer fiel. Es lag noch immer auf dem Tisch, genau da, wo sie es gelassen hatte.
Lily griff nach ihrem Handy und wählte die Nummer. Sie hatte ihre Entscheidung getroffen.
„James? Ich bin dabei," sagte sie, kaum dass er abgehoben hatte. „Aber ich mache das zu meinen Bedingungen. Wir machen das sauber, und wenn ich sehe, dass einer deiner Männer unzuverlässig ist, bin ich raus."
James lachte leise. „Das wusste ich, Lil. Du wirst es nicht bereuen."
Einige Tage später war der Tag des Überfalls gekommen. Die Nacht war kühler geworden, und Lily zog ihren Mantel enger um sich, während sie hinter dem Lenkrad saß und in die Dunkelheit starrte. Der Treffpunkt war still, abgesehen vom leichten Rauschen des Windes, der über die verlassene Straße strich. Ihre Finger trommelten nervös auf dem Lenkrad.
Das schwarze SUV, in dem sie saß, war viel größer, als sie es für diese Mission gebraucht hätten. James hatte darauf bestanden, aber Lily hatte sich von Anfang an gefragt, warum. Wir sind doch nur zu dritt. Wozu brauchen wir so ein riesiges Ding? Doch sie hatte die Zweifel beiseitegeschoben, wie sie es immer tat, wenn James einen Plan hatte.
Sie sah auf die Uhr. James war spät. Eine leichte Unruhe kroch in ihr hoch. Sie griff zum Handy, doch es gab weder Anrufe noch Nachrichten. Typisch, dachte sie grimmig.
In der Ferne tauchten plötzlich Scheinwerfer auf. Ein schwarzes Auto bog um die Ecke und fuhr in ihre Richtung. Zuerst war Lily erleichtert, aber dann bemerkte sie, dass es nicht das Fahrzeug war, das James angekündigt hatte. Es war ebenfalls ein SUV, fast identisch mit ihrem, was sie stutzen ließ.
Was zum Teufel...?
Das andere Auto hielt direkt vor ihr, und bevor sie reagieren konnte, sprangen die Türen auf. Sieben Männer stiegen aus. Sie trugen Masken, und ihre Bewegungen waren schnell und zielgerichtet. Lily spürte, wie sich ihr Herzschlag beschleunigte.
Einer der Männer rannte zu ihrer Seite und klopfte an das Fenster. Lily zögerte, öffnete aber schließlich einen Spalt.
„Was soll das?" fragte sie scharf.
Der Mann sagte kein Wort. Stattdessen hob er die Hand, machte eine deutliche Geste in Richtung der Türen und rief nur ein einziges Wort: „Go!"
Lily runzelte die Stirn. Ihre Augen wanderten zu den anderen Männern, die sich bereits in Bewegung gesetzt hatten. Zwei öffneten die hinteren Türen und stiegen ein. Einer sprang auf den Beifahrersitz, die anderen drei setzten sich hastig auf die Rückbank. Der siebte Mann, der zuvor ihr Fenster erreicht hatte, stieg ebenfalls ein, knallte die Tür zu und nickte in ihre Richtung.
„Was zum...?" Lily schüttelte den Kopf, ihre Gedanken rasten. James hätte mir Bescheid geben müssen! Wer sind diese Leute? Warum sind es so viele?
„Go, go, go!" wiederholte der Mann auf dem Beifahrersitz ungeduldig und deutete auf die Straße vor ihnen.
„Verdammt, James!" murmelte Lily wütend, startete den Motor und trat das Gaspedal durch. Das Auto schoss nach vorne, und die Männer hinter ihr hielten sich an den Griffen fest.
Sie fuhr schnell, nahm scharfe Kurven, während sie in den Rückspiegel blickte, um sicherzustellen, dass sie nicht verfolgt wurden. Okay, Fokus. James muss das erklärt haben. Vielleicht habe ich es überhört?
Doch während sie weiterfuhr, wurde ihre Wut immer größer. „James hätte mir das sagen müssen!" rief sie schließlich laut. Ihre Stimme hallte durch das Auto, aber keiner der Männer antwortete.
Lily warf einen Blick in den Rückspiegel. Die Männer saßen still da, ihre Masken noch immer aufgesetzt. Sie sah keine Anzeichen von Kommunikation zwischen ihnen. Niemand sprach ein Wort, nicht einmal untereinander.
„Hey!" rief sie und sah kurz zur Seite, wo der Mann auf dem Beifahrersitz saß. Er antwortete nicht, sein Blick blieb auf die Straße gerichtet.
Lily presste die Lippen zusammen. „Könnt ihr nicht reden, oder was?" fragte sie scharf, obwohl sie keine Antwort erwartete. Sie biss sich auf die Unterlippe, während sie in Gedanken versuchte, die Situation zu verstehen.
Nach ein paar weiteren Minuten hielt sie schließlich an einer dunklen Seitenstraße. Sie drehte sich zu den Männern um, ihre Hände immer noch fest um das Lenkrad geklammert.
„Okay, Schluss damit. Wer seid ihr?" fragte sie mit Nachdruck.
Die Männer reagierten nicht. Einer auf der Rückbank hob kurz den Kopf, aber niemand sagte ein Wort.
„Was ist los? Warum redet keiner von euch? Ich will wissen, was hier los ist!"
Plötzlich nahm der Mann auf dem Beifahrersitz seine Maske ab. Lily starrte ihn an und wartete auf eine Erklärung, aber er sagte nichts. Sein Gesichtsausdruck war ernst, seine Augen fixierten sie, ohne einen Hinweis auf Freundlichkeit oder Feindseligkeit.
Lily schluckte schwer, als die anderen Männer begannen, ebenfalls ihre Masken abzunehmen. Ihre Gesichter waren jung, sie alle hatten asiatische Züge, und keiner von ihnen kam ihr bekannt vor.
In dem Moment traf es sie wie ein Schlag. Das sind nicht James' Leute.
Ihr Herz begann schneller zu schlagen, und sie atmete scharf ein. „Oh mein Gott," flüsterte sie. „Ich habe die falsche Gruppe eingesammelt."
Die Männer sahen sich gegenseitig an, dann richteten sich ihre Blicke wieder auf sie. Lily spürte, wie ihr kalter Schweiß über den Rücken lief.
„Ihr seid nicht von James," murmelte sie, mehr zu sich selbst als zu ihnen.
Keine Antwort. Einer der Männer zuckte mit den Schultern, als ob er die Sprache nicht verstand.
Lily warf die Hände in die Luft. „Wunderbar! Ihr versteht mich nicht mal! Was mache ich jetzt?"
Die Männer schienen ihre Panik nicht zu teilen. Sie saßen ruhig da, ihre Haltung entspannt, als ob sie genau wüssten, was zu tun war.
Lily atmete tief durch und legte die Hände wieder ans Lenkrad. Sie konnte jetzt nicht einfach stehenbleiben. Die Gegend war zu unsicher, und wer auch immer diese Männer waren, sie sahen nicht so aus, als würden sie einfach aussteigen, wenn sie es ihnen befahl.
„Okay," murmelte sie. „Ihr habt gewonnen. Aber ich schwöre, wenn ihr Mist baut, bereue ich das hier."
Sie startete den Motor erneut und fuhr los. Die Männer sagten immer noch nichts, und Lily fühlte sich, als hätte sie die Kontrolle komplett verloren.
Die Nacht war still, bis auf das leise Dröhnen des Motors. Doch in Lilys Kopf tobte ein Sturm. Wer sind diese Typen? Wie zum Teufel bin ich in diese Situation geraten? Und was mache ich jetzt?
Eines wusste sie sicher: Das würde nicht gut ausgehen.
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