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4. Türchen

 Heute erwartet euch die Kurzgeschichte der Lieben @grauinbunt
Viel Spaß beim Lesen!

Alle Jahre (Nie) Wieder

Es gab wenig Dinge, denen Thomas Barrow sich sicher war.

Das Leben okay, aber nicht gut. Er wusste es nicht, ob es wieder gut werden konnte. Er rauchte zu viel. Er mochte Uhren, weil sie ihn an eine Zeit erinnerten, in der das Leben noch gut gewesen war. Er hatte seinen Freund nicht verdient. Und Weihnachten war beschissen.

Nicht wegen den Geschenken oder der allgemeinen Stimmung, weil es kalt war oder weil es schneite oder wegen dem Stress. Nicht mal wegen der ganzen furchtbaren Weihnachtsbeleuchtung, die einem überall begegnete. Blinkende Rentiere hier, leuchtende Weihnachtsmänner dort. Aber die Barrows hatten eine langjährige Tradition – einmal im Jahr traf die ganze Familie zusammen. Und wenn es eines gab, das Thomas hasste, waren es Familientreffen.

Er wusste nicht genau, warum er sich das alles immer noch jedes Jahr antat. Vielleicht hasste er sich selbst immer noch. Vielleicht fühlte es sich immer noch verdient an, was er sich jedes Jahr anhören musste. Es war schwer, so etwas loszuwerden.

Aber dieses Jahr war anders.

Thomas warf noch einen Blick auf sein Spiegelbild und fuhr sich zum wiederholten Mal durch die Haare. Das würde seine Frisur höchstens zerstören, das wusste er, und selbst wenn nicht – seine Familie behandelte ihn nicht wegen seines Aussehens wie ein schwarzes Schaf.

Was er ja auch war. Thomas Barrow, Verräter an den traditionellen Werten seiner ach so tollen Familie. Manchmal lachte er darüber. Meistens verdrängte er jede Emotion, die aufkam.

„Du siehst gut aus“, versicherte Edward ihm.

„Als wenn du das wüsstest, Ed.“

„Nicht Ed“, meinte er (Edward, nie Ed, hatte er ihm gesagt, kurz, nachdem sie sich kennengelernt hatten, aber manchmal zog Thomas ihn gerne damit auf), „Und außerdem weiß ich das sehr wohl. Und wir verpassen den Zug, wenn wir nicht gleich losfahren.“

„Wäre vielleicht besser so.“

„Sag das doch nicht.“ Edward legte eine Hand an Thomas‘ Wange und hauchte ihm einen Kuss auf die Lippen. „Und jetzt komm schon, oder deine Familie bringt dich endgültig um.“

Ach ja, auch einer deiner Gründe, aus denen Thomas diese alljährliche Hölle besuchte – Wenn er es wagte, nicht zu erscheinen, würde das vermutlich Konsequenzen haben. Auch, wenn sie ihm alle am liebsten nicht anblickten und ihre Kinder von ihm fernhielten.

Seufzend schob Thomas Edwards Hand von seinem Gesicht und durchsuchte dann seine Jackentasche. „Hey, übrigens, ich hab was für dich.“

„Ja?“ Edward nahm das, was Thomas ihm in die Hand drückte. „Was ist das?“ Vorsichtig tastete er den Umriss entlang und begann, zu grinsen. „Dein Ernst? Sind das diese Mützen am Gestell?“

„Richtig“, bestätigte Thomas und griff ihm die absolut furchtbare Sonnenbrille aus der Hand. Sie war leuchtend rot, und oben auf den Gläsern saßen sehr billige, hässliche Weihnachtsmannmützen. Als er sie gesehen hatte, hatte Thomas sie einfach kaufen müssen.

Gas war Schuld daran, dass Edward sein Augenlicht verloren hatte, und es hatte Spuren hinterlassen. Die Narben in seinem Gesicht machten ihn jedes Mal wieder unsicher, und somit trug Ed so gut wie immer eine Sonnenbrille – Für Thomas war es ein Spiel geworden, die Standardbrille durch die schrägsten Modelle zu ersetzen, die er finden konnte.

„Sieht sie schrecklich aus?“, fragte Edward.

„Ja. Definitiv.“ Thomas setzte seinem Freund die Brille auf und drückte ihm die, die er davor getragen hatte, in die Hand. „It’s Christmas, baby.“

„Das ist toll, aber wir müssen jetzt wirklich los, glaube ich.“

Thomas rollte mit den Augen – der gute, alte, verantwortungsbewusste Ed –, griff aber nach seiner Jacke und verließ bald darauf mit ihm das Haus.

*

Edward hatte viele Narben.

Es hatte gedauert, bis Thomas von denen an seinen Augen erfahren hatte. Das war ein merkwürdiger Moment gewesen. Er hatte die Angst in Edwards Stimme hören können, als er die Brille das erste Mal abgenommen hatte. Obwohl er doch keine Ahnung hatte, wie sie aussahen. („Es gibt da etwas, dass ich dir sagen – zeigen muss. Bitte erschrick dich nicht.“ (Bitte finde mich nicht hässlich, bitte verurteile mich nicht, bitte sei nicht angeekelt, bitte verlass mich nicht verlass mich nicht verlass mich nicht. Thomas kannte sich aus mit ungesagten Worten.)

Immer noch erinnerte er sich an das Gefühl der Narben unter seinen Fingerkuppen. An die geflüsterten Worte – „Würde ich nie.“ Als Antwort auf alles zugleich.

Am nächsten Tag hatte er ihm irgendeine schreiend pinke Brille mit Gläsern in Herzform gekauft und Edward hatte gelacht, als er sie in den Händen hielt, auch, wenn er die Farbe gar nicht sehen konnte.

Aber da waren andere Narben, die er weniger versteckte.

Seine Arme waren zu dem Schlachtfeld geworden, das er verlassen hatte. Der Krieg war von Afghanistan in seinen Kopf gewandert und von seinem Kopf zu einer Klinge.

Edward hatte Thomas von den Gedanken erzählt, die ihn heimsuchten, wenn er die Augen schloss. Von den Narben, die sich nicht nur über seinen Körper zogen, sondern auch über sein Herz.

Zerplatzte Träume. Verlorene Hoffnungen. Tote Freunde. Und die Schuld, weil Edward überlebt hatte. Obwohl er es doch am wenigsten verdient hatte, obwohl er doch jetzt so nutzlos war.

Und Thomas hatte seinen eigenen Kopf für einen düsteren Ort gehalten.

Vielleicht passten sie deshalb zusammen. Weil sie beide ein bisschen kaputt waren. Und weil sie beide heilten. Langsam, aber stetig.

(Auch Thomas hatte viele Narben. Aber darüber sprechen war schwer und jedes ungesagte Wort machte seine Zunge noch mehr zu Blei.)

*

Zuhause.

Thomas‘ Familie war genauso wenig reich wie er, und jetzt stand er in diesem Viertel, das irgendwie Stadt war und irgendwie nicht, und starrte die grauen Plattenbauten an. Seit dem letzten Jahr hatte sich nichts verändert. Aber hier veränderte sich nie was – als wäre die Zeit stehengeblieben in seiner Heimat.

Es hätte geholfen, wenn die Dinge endlich anders wären. Aber so sah jede Ecke nur genauso aus wie in seiner Jugend. Alles hier schrie nach den Zeiten des jungen Thomas Barrow. All die Worte, die zuerst er selbst und dann alle anderen ihm an den Kopf geworfen hatten, kreisten in seinem Kopf. (Falsch. Verdorben. Krank. Tabu. Enttäuschend. Ein Fehler. Verlorener Sohn.)

Zuerst hatte er sich gehasst für das, was er war. Und dann die Welt für das, was sie nicht war.

Thomas drückte Edwards Hand etwas fester und holte tief Luft. „Dann mal auf in den Kampf.“

„Ich verstehe nicht, wie sie dich hassen können.“

Er lachte. Die wenigsten Leute mochten ihn. Vermutlich, weil er einfach kein netter Mensch war – das ging in Hand damit, die Welt zu hassen. Es gehörte einiges dazu, damit Thomas Barrow nett zu einem war. (Alles oder nichts, hatte eine Freundin von ihm es einmal ausgedrückt. Sybil war die sanfteste Person, die er je kennengelernt hatte. Manchmal beneidete er sie darum. Das ist das Ding mit dir, Thomas. Du hasst die Menschen, oder du gehst durchs Feuer für sie.) „Das ist nicht schwer. Sie werden selbst dich nicht mögen.“

„Warum?“

„Weil du mit mir zusammen bist.“ Thomas seufzte. „Weil du mit mir zusammen und keine nette, gesunde, heile Frau bist.“

„Immerhin bin ich nett.“

„Immerhin etwas.“

Edward wusste, wie die Sache mit Thomas‘ Familie war. Aber er bezweifelte, dass er das jemals komplett nachvollziehen konnte. Er hatte Edwards Familie kennengelernt, sie war wunderbar. Ein bisschen zu spießig in manchen Punkten, aber sie liebten ihren Sohn so sehr, dass es wehtat. Und sie liebten auch Thomas, weil Edward ihn liebte. Und das tat noch mehr weh.

War es zu viel verlangt, von der eigenen Familie nicht verachtet zu werden?

„Rede“, unterbrach Edward die Stille zwischen ihnen. „Beschreibe mir die Umgebung. Oder deine Familie. Oder“ – er schien zu realisieren, dass das alles keine guten Themen waren – „Das Wetter. Wie ganz schlimmer Small Talk.“

„Ich hasse Small Talk.“ Trotzdem legte Thomas den Kopf in den Nacken und sah zum Himmel. „Dunkelgraue Wolken. Ehrlich, ich hab die Sonne seit Wochen nicht gesehen. Ich würde sagen, es regnet bald, aber es ist kalt. Also vielleicht Schnee? Wenn schon mal Dezember ist.“

„Meinten sie heute Morgen im Radio auch. Du weißt, diese super nervige Show mit dieser furchtbaren Moderatorin mit der furchtbaren Stimme?“

„Klar. Warum hörst du das überhaupt?“

Edward zuckte mit den Schultern. „Der Wetterbericht ist zuverlässig.“

„Wir sind da“, meinte Thomas dann und starrte für eine Weile die Tür an. Sie feierten bei seinen Eltern. Wie jedes verdammte Jahr. Als hätten seine Tanten und Onkel keine eigenen Wohnungen. Dann suchte er auf den Klingelschildern nach Barrow und drückte einmal kurz den Knopf.

Beim Ertönen des Summens drückte er die Tür auf und führte Edward mit sich hinein. „Überlass das unhöflich Sein mir. Ich will nicht, dass sie einen richtigen Grund haben, dich nicht zu mögen.“

Es war zu spät, um Thomas‘ Familie Sympathie für Edward fühlen zu lassen. Trotzdem hakte Edward nicht nach, warum das Thomas wichtig war. Manche Dinge ließen sich schwer in Worte fassen, sie waren einfach.

Als sie die Tür der Wohnung erreicht hatten, öffnete Thomas‘ Mutter ihnen. Ihr breites Lächeln wich einem zusammengekniffenen Mund, als sie die beiden sah. „Oh, Thomas, schön, dich zu sehen.“ Alles an ihrem Tonfall schrie das Gegenteil. „Du hast –“ Sie warf einen Blick durch die Wohnung. Zu der Familie, die bestimmt nicht sehen sollte, wie Thomas war. Als wenn sie es nicht alle wüssten. „- Freund mitgebracht, schön.“ Das Lächeln kehrte zurück, aber es war falsch.

Thomas sagte nichts dazu. Als er angerufen hatte, hatte er es simpel angekündigt („Ich bringe dieses Jahr meinen neuen Freund mit.“) und sie hatte aufgelegt. Vermutlich hatte sie nicht damit gerechnet, dass er das wirklich tun würde. Aber sie hatte ja nie nein gesagt, richtig?

„Ich bin Edward“, stellte er sich vor. „Edward Courtenay. Schön, sie endlich kennenzulernen.“ Weil er Edward war, lehnte er den Blindenstock kurz gegen die Wand und hielt ihr die freie Hand hin.

Thomas‘ Mutter griff sie zögernd und ließ sie direkt wieder los, als hätte sie sich verbrannt. „Freut mich ebenfalls“, sagte sie nicht erfreut und verschwand schnellstmöglich im Raum. Bloß weg von ihnen. Als wären sie ansteckend.

Edward lächelte amüsiert und rückte die Weihnachtsmützen-Brille zurecht, bevor er wieder nach dem Stock griff. „Gott, wir werden sie alle so schockieren.“

Seinetwillen bemühte auch Thomas sich um ein Lächeln. „Ja. Werden wir.“

Als sie das Wohnzimmer betraten, erstarben die Gespräche. Plötzlich war da dieses Schweigen, dass Thomas schon gewohnt war, das Mustern, die abschätzigen Blicke. Jedes Jahr die gleiche Frage – Kann es wirklich wahr sein?

Dieses Jahr war die Frage eine andere. Passiert das wirklich?

(Und noch so viel mehr, je mehr Zeit verstrich. Vielleicht sind sie nur Freunde? Vielleicht hilft er ihm nur, den Weg zu finden? Ist er wirklich blind? Was ist passiert? Wie soll ich das den Kindern erklären? Vielleicht sind sie nur Freunde?)

„Hi“, brach Edward die Stille, als könnte er spüren, dass sie angestarrt wurden. „Uhm, ich bin Edward. Thomas‘ Freund. Bitte sprecht mit mir wie mit nem normalen Menschen und denkt dran, dass ich auch Sachen alleine hinkriege.“ So in der Art stellte er sich immer vor, aber normalerweise war die Reaktion anders.

Die Stille war greifbar. Ruhe vor dem Sturm.

Vorsichtig rückte Thomas näher an seinen Freund. Eigentlich hatte er das schon hinter sich, die ganze Outing-Sache. Aber er hatte noch nie einen Freund seiner Familie vorgestellt. Das machte es so unausweichlich, dass er schwul war.

Wie lange er dafür gebraucht hatte, sich mit dem Wort anzufreunden. Zuerst nur in ihm selbst. Und dann der Klang auf seiner Zunge. Schwul. Am Anfang war es etwas Beschämendes gewesen. Ein wenig schmutzig.

Er erinnerte sich an das Herzrasen, jedes Mal, wenn er es ausgesprochen hatte. An das Sterben seiner Stimme. An die aufsteigende Panik, der Fluchtreflex, wie die Worte in seiner Kehle stecken blieben.

Manchmal war es heute noch schwer. Aber das war okay. Es wurde besser, jedes Mal. Schwul. Eigentlich war es kein schlechtes Wort. Die Welt hatte es zu etwas Schlechtem gemacht, aber das hieß nichts.

„Es ist nicht so, als wäre das ein großer Schock.“ Da war es wieder. Der Raum voller Menschen, die Augen auf ihm, die Angst. Sekundenbruchteile. Sammeln. Atmen. Es war kein schlechtes Wort. „Ihr wusstet, dass ich schwul bin.“

Der Sturm brach aus.

Im Tumult aus schockierten Ausrufen und Oh, die armen Eltern und verwirrten Kindern zog Thomas Edward mit sich zum Buffet. Die Aufregung würde sich legen. Früher oder später. Das tat sie immer irgendwann.

„Willst du was essen?“

Edward nickte. „Willst du nichts machen? Mit ihnen reden? Es ist nicht so, als könntest du nicht hören, was sie über dich sagen.“

„Das habe ich schon versucht. Tausendmal.“ Thomas packte das, was noch am Genießbarsten aussah, auf einen Teller. In seiner Familie waren nie die großen Köche gewesen. „Hör einfach nicht hin.“

„Ich versuch’s.“

Die Barrows waren sehr gut darin, so zu tun, als wäre alles in bester Ordnung. Und darum lief die Feier ohne weitere Unterbrechungen. Die üblichen Gespräche (all der Stress und die Kinder) von Leuten, die so taten, als würden sie sich kennen und unglaublich gern mögen.

Dass es dabei niemand wagte, auch nur in Thomas‘ Richtung zu schauen, wurde ignoriert. Genauso wie seine halbherzigen Versuche, dann und wann ein Gespräch anzufangen. Die meisten entschuldigten sich schnell mit irgendeiner fadenscheinigen Ausrede. Manche drehten sich einfach direkt weg.

Fast genauso war es an jedem Weihnachten gewesen, an dem er es gewagt hatte, seine Sexualität auch nur zu erwähnen. Alles wie immer.

Es tat Thomas nur leid, Edward da mit hineingezogen zu haben.

„Sind alle in dieser Familie so furchtbar?“

Thomas seufzte. „Viele. Ein paar von meinen Cousinen sind okay. Aber da passt der Rest auf, dass die nicht in meine Nähe kommen. Oh, und die Kinder, aber die dürfen auch nicht mit mir reden.“

„Gott.“

„Du kannst dir vorstellen, wie es war, hier aufzuwachsen.“

Obwohl Thomas wusste, dass Edward das nicht konnte. Nicht mit seiner Familie. Genauso wenig, wie Thomas sich den Krieg vorstellen konnte.

Sie hatten alle ihre eigenen Kämpfe auszutragen.

*

Thomas‘ Vater hatte Uhren gebaut.

Als Kind war er oft mit ihm in der Werkstatt gewesen. Das Geschäft lief nicht mehr gut, seit Digitaluhren auf dem Vormarsch waren, aber damals hatte es noch existiert – ein Raum voller Zeiger und Räder und Pendel. Manchmal hörte er sie noch, wenn er die Augen schloss. Tick-Tack, Tick-Tack, Tick-Tack.

Die Zeit verging so schnell.

Thomas hatte aufgehört, seinen Vater zu besuchen, als er vierzehn gewesen war. Er erinnerte sich an diese Tage. Dieses Gefühl, irgendwie anders zu sein. Er hatte es nicht zuordnen können, aber er hatte es auch nicht abgeschüttelt.

Manchmal dachte er, dass diese Zeit die schlimmste gewesen war.

Es war merkwürdig, ein Wort dafür zu haben, warum er anders war. Aber es war etwas, an dass er sich klammern konnte, wenn er drohte, zu ertrinken. Damals war dort nichts gewesen als er und die Angst.

(Es war das eine, zu wissen, dass er schwul war, und sich zu fürchten. Weil das doch falsch war. Weil seine Familie ihn hassen würde. Weil er Leute belog, wenn er es ihnen nicht erzählte. Weil ihm schlecht wurde vor Angst, wenn es tun wollte. Aber es war eine andere Sache, sich verloren zu fühlen und sich zu fürchten. Auch damals hatte er viele queere Menschen gekannt, die keine Angst vor sich selbst gehabt hatten und Wut auf die Welt. Aber ihre Verlorenheit versteckten auch sie irgendwo tief in sich drin.)

Noch heute erinnerte ihn das Geräusch von Zeigern an die Zeiten, in denen er diese Sorgen noch nicht hatte.

Tick-Tack, Tick-Tack, Tick-Tack.

Er hatte die Werkstatt nicht mehr betreten, seit sein Vater ihm vor fünfzehn Jahren geschworen hatte, sich den Sohn zurückzuholen, den er immer gewollt hatte. Das Vorzeigekind. Allein schon, weil er das Uhrengeschäft kurz darauf hatte aufgegeben hatte. Jetzt arbeitete Thomas‘ Vater als Busfahrer in der nächstgelegenen Stadt.

Thomas war seit fünfzehn Jahren in keinem Bus mehr gefahren.

*

Thomas konnte scharfzüngig sein. Und während Edward mit seiner bescheuerten Brille neben ihm stand und versuchte, ihn zu beruhigen, machte er sich Feinde. Er war nett gewesen, als er jung gewesen war. Aber hätten die Leute einen netten Thomas Barrow gewollt, hätten sie nett zu ihm sein sollen.

Er kannte seine Familie, und wenn er das nicht tat, waren die Probleme offensichtlich. Ein Kommentar zum Outfit. Eine Randbemerkung zur totgeschwiegenen Affäre. Eine Erinnerung an die Peinlichkeit vom letzten Familiendinner.

Wenn sie ihn hassten, dann sollten sie auch Gründe dafür haben.

Aber er war müde. Von all den Blicken und dem Flüstern, dem ständigen Kampf, dem Reflex, sich verteidigen zu müssen. Thomas trug ein Lächeln auf den Lippen, aber er hätte schreien können. (Er war es leid, hier zu sein und er war es leid, er selbst zu sein.) Also verließ er die Feier, die doch eh keinen Sinn hatte, und zog Edward mit sich auf den Balkon. Er brauchte Ruhe. Und eine Zigarette.

„Sie hassen dich wirklich, hm?“, fragte Edward auf das Geländer gelehnt. „Ich verstehe, dass du diesen Ort nicht magst.“

„Sie hassen dich auch.“ Es war windig und er brauchte ein paar Anläufe, um die Zigarette anzuzünden. „Gewöhn dich daran.“

„Wahrscheinlich fragen sie gerade deine Eltern, was die in der Erziehung falsch gemacht haben.“

„Die Frage haben die schon hinter sich. Ehrlich, es ist bescheuert.“

„Hm.“

Thomas rauchte und Edward schwieg. Normalerweise regte er sich auf, weil das so ungesund war und Zigaretten stanken, aber vielleicht verstand er, dass Thomas das brauchte. Er hatte nicht angefangen, weil er gern ein rebellisches Kind sein wollte. Es gab schlimmere Dinge als Nikotin und er war froh, sich damals nicht in diese gestürzt zu haben, um zu fliehen.

„Ich weiß nicht, ob ich das hier könnte.“ Edward hatte den Kopf auf seine Hand gestützt und den Kopf inzwischen in Thomas‘ Richtung gewandt, auch, wenn er ihn eh nicht sehen konnte. „Das hätte mich kaputt gemacht, damals.“

„Es hat mich kaputt gemacht.“ Bis Thomas die Zigarette ausdrückte, schwiegen sie beide. Es war der Balkon einer Wohnung, an der zu viele Erinnerungen für dieses Gespräch klebten – aber es war auch eine Stille, die danach schrie, mit Worten gefüllt zu werden. Auch, wenn Worte schwer waren manchmal. „Jedes Wort. Ich habe es nicht einmal gemerkt, am Anfang. Bis es irgendwann zu spät war und ich plötzlich die ganzen anderen Menschen um mich herum bemerkt habe. Weißt du, als kleines Kind habe ich mich immer gefragt, wie Menschen sich selbst hassen können. Damals habe ich mich gefragt, wie sie das nicht tun. Weißt du, dieser Moment, in dem du realisiert, dass nicht jeder diese Probleme hat, der war so…“ (Thomas war nie gut mit Worten gewesen, besonders nicht mit solchen.)

„Herzlichen Glückwunsch, jetzt bist du kaputt.“

„So in etwa.“

„Warum kommst du noch hierher?“, fragte Edward.

Thomas zuckte mit den Schultern. „Weil ich muss, vielleicht. Für die Kinder. Für das Essen.“

„Du bist nicht mehr sechzehn. Du kannst gehen.“

Langsam nickte er. „Ja. Kann ich.“ Kurzes Schweigen. „Vielleicht sollte ich das auch einfach tun.“

*

Thomas beobachtete, wie sein Atem an der Luft zu Wölkchen gefror. „Was jetzt?“

Es war nicht schwer gewesen, das Haus zu verlassen. Vermutlich waren die Leute froh, sie los zu sein. Aber jetzt standen sie draußen, ohne weiteren Plan, und ihr Zug fuhr erst in drei Stunden.

„Du kennst dich hier aus. Sag du es mir.“

Thomas zuckte mit den Schultern. „Ich war lange nicht mehr hier unterwegs, aber der Weihnachtsmarkt hier soll gut sein.“

Kurzes Schweigen. „Ich weiß nicht. Weihnachtsmärkte sind so voll. Und so laut.“

„Wir könnten uns einen Glühwein holen und in den Park gehen“, schlug Thomas vor.

„Das klingt doch schon viel besser.“

Auf Edwards Gesicht breitete sich ein Lächeln aus und Thomas sah ihn an – mit der furchtbaren Weihnachtsmützenbrille und diesem Grinsen und wie er nach Thomas‘ Hand tastete, um sie festzuhalten – und vielleicht hasste er ja Weihnachten, aber vielleicht konnte er auch aufhören damit.

*

Tatsächlich erinnerte er sich nicht gerne an den Tag zurück, an dem er Edward kennengelernt hatte. Irgendwann im Februar, mit dem Wetter draußen grau und verregnet, aber das spielte keine Rolle. Es war England. Es regnete immer.

Aber Thomas arbeitete in einem Krankenhaus. Edward war nicht die erste Person dort gewesen, die versucht hatte, sich umzubringen. Aber er war der erste gewesen, der auch Thomas‘ Narben gesehen hatte. Und nicht einfach ignoriert.

(„Es ist der Krieg“, hatte Edward ihm erzählt, kurz, nachdem er entlassen worden war. „Drei Jahre her und er ist immer noch da.“ Und ihn angesehen, mit dieser Geste, die fragte – und bei dir? Aber Thomas war zu sehr Thomas, um darauf zu antworten.)

Er dachte ungerne an diesen Tag zurück, aber er dachte gerne an die, die folgten. Wie er anfing, seine Pausen an Edwards Bett zu verbringen. Wie er sich am Tag der Entlassung verabschiedete, mit dem Gedanken im Kopf, ihn nie wieder zu sehen.

Weil es so lief, wie es immer lief.

Eine Begegnung. Und dann war es vorbei. (Thomas verliebte sich zu schnell.)

Aber Edward hatte dieses Lächeln gehabt (dasselbe wie an diesem Dezembertag) und zum Sprechen angesetzt. „Mr Barrow, Sie -“

„Thomas ist okay“, hatte er unterbrochen und sich dafür gehasst. (Jetzt war es merkwürdig geworden, jetzt hatte er ihn vertrieben, jetzt war es endgültig verloren.)

„Dann bin ich für dich Edward.“ Und dann das unangenehme Schweigen, in dem Thomas nicht wusste, wo er hinsehen sollte und Edward sich durch die etwas zu langen Haare fuhr. „Ich wollte nur fragen, ob ich deine Nummer haben kann. Gott, das ist merkwürdig, oder?“

„Ist es nicht“, versicherte Thomas und fühlte sich plötzlich wieder wie ein gottverdammter Teenager und frischverliebt. „Versprich, dass du dich meldest, ja, Edward?“

Edward. Noch klang der Name fremd auf seiner Zunge.

Noch.

*

Vorsichtig reichte Thomas seinem Freund einen der beiden Becher, sobald sie den Park erreicht hatten. „Frohe Weihnachten.“

„Es ist noch gar nicht Weihnachten.“

„Spießer.“

Edward lachte und Thomas fragte sich, womit er diesen Mann verdient hatte. Kurz dachte er darüber nach, das auszusprechen, aber dann legte er doch nur seinen freien Arm um ihn und lächelte still. Thomas war kein Mensch der Worte.

„Das hier ist doch besser als deine Familie, oder?“

„Alles ist besser als meine Familie. Aber sie sind meine Familie, weißt du?“

„Ich glaube nicht.“ Edward nahm einen Schluck von dem Glühwein. „Meine Familie ist so anders. Ich kann mir nicht vorstellen, sie zu hassen.“

„Ich hasse sie nicht. Nicht wirklich.“ Das Gute an Getränken war, dass man eine Entschuldigung hatte, nichts zu sagen. Es war zu heiß und Thomas verbrannte sich die Zunge, aber das würde er überleben. Er hatte immer überlebt. „Ich hasse ihre Ansichten und ihr Verhalten und ihr Getuschel und ihre Blicke, aber ich hasse sie nicht.“

Edward antwortete nicht, aber manchmal war da sein Antwort genug.

„Du kannst dir auch nicht vorstellen, wie es ist, dich selbst zu hassen, weil du liebst, oder? Ich meine… Ja, die meisten tun das, irgendwie. Aber alleine in deinem Zimmer zu sitzen und Angst zu haben, weil du einen Jungen liebst. Und das nicht tun wollen und all diese Angst und der Schmerz und die Schuldgefühle, weil du deine Eltern enttäuschst und sie dich hassen werden, wie du dich hasst. Das…“ Thomas suchte nach Worten. „Jedes Mal, wenn ich hier bin, muss ich daran denken. Jedes einzelne Mal.“

„Vielleicht brauchst du ein paar neue Erinnerungen hier.“

„Vielleicht brauche ich das.“

„Erinnerst du dich an unseren ersten Kuss?“, fragte Edward.

Natürlich tat er das.

*

Ende März war zu spät für Schnee, aber damals hatte es trotzdem geschneit. Ein nie enden wollender Winter, gefolgt von einem viel zu kurzen Sommer.

Es war kalt gewesen. Viel zu kalt. Und sie waren trotzdem nach draußen gegangen, in irgendeinen kleinen Coffee Shop, der gute heiße Schokolade machte. (Laut Edward jedenfalls. Thomas trank sie selten und hatte nicht vergleichen können.)

Da war etwas Romantisches an kleinen Coffee Shops mit zu hohen Preisen und guter heißer Schokolade. Aber Thomas hatte sich nicht getraut, einen Schritt zu machen – nicht da drin bei all den Leuten.

Thomas könnte nicht sagen, wer von ihnen schließlich etwas getan hatte, aber auf dem Rückweg standen sie plötzlich am Rand einer sonst menschenleeren Brücke und es war einfach passiert.

Thomas‘ Lippen auf Edwards. Seine Hände in seinen Haaren. Nur für den Bruchteil der Sekunde.

Ich liebe dich waren zu bedeutungsvolle Worte für einen ersten Kuss, aber er hatte sie trotzdem aussprechen wollen.

*

„Frohe Weihnachten, Thomas Barrow“, flüsterte Edward, bevor er ihn küsste.

Länger als einen Sekundenbruchteil. Und kurz überlegte Thomas, etwas anderes zu sagen, aber dann waren die Worte einfach da, ohne, dass er es verhindern konnte.

„Ich liebe dich.“

(Vielleicht konnte er wirklich aufhören, Weihnachten zu hassen. Irgendwann.)

E N D E

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