noch 23 Stunden
»Vielleicht habe ich es verdient zu sterben.«, flüstert Connor in die Stille, die zwischen den beiden Geschwistern herrscht. Cassandra schreckt aus ihrer Trance auf. »Was? Nein, das hast du nicht, Connor. Wieso glaubst du so etwas?«
Ihr Bruder zuckt mit den Schultern und lässt sich zurück ins Bett sinken, auf dem die beiden schon seit Stunden nebeneinander liegen.
Die beiden Ältesten der insgesamt vier Geschwister haben sich schon gegen neun Uhr nach oben in Connors Zimmer zurückgezogen um ein wenig ungestörter zu sein. Cassandra hat den Eindruck, dass ihre Mutter es ihnen ein wenig übelnimmt, dass sie den Abend lieber allein, anstatt mit ihrer Familie verbringen. Aber beide brauchen eine Pause von den Tränen ihrer Mutter und den verständnislosen Gesichtern der Kleineren. Den morgigen Abend werden sie mit dem Rest der Familie verbringen, auch wenn Cassandra sich schon jetzt davor fürchtet. Sie will die Panik und Angst auf den Gesichtern ihrer kleineren Brüder nicht sehen und die Hilflosigkeit ihres Vaters nicht fühlen müssen. Normalerweise ist er derjenige, der die Familie beschützt. Jetzt kann er nichts gegen das nahende Unglück tun.
»Ich bin ein Monster.«, antwortet Connor und legt sich eine Hand über die Augen. »Ich habe so viele Menschen verletzt.«
Am liebsten würde Cassandra sagen, dass es nicht stimme, aber dann müsste sie lügen. Und das will sie nicht. Sie hat schon so oft gelogen, damit andere sich besser fühlen. Sich besser zu fühlen, das hat ihr Bruder nicht verdient. Nicht in Bezug auf seine Gräueltaten. Also sagt sie nichts.
»Ich habe Kathy das Herz gebrochen, weil ich zugelassen habe, dass sie sich Hoffnungen macht. Ich habe den kleinen Rackern viel zu wenig Aufmerksamkeit geschenkt. Und für dich war ich nie da, wenn du mich mal gebraucht hast. Und dann habe ich - « Connor schluckt und scheint nicht weitersprechen zu können.
»Du hast Elissa gemobbt.«, hilft Cassandra ihm auf die Sprünge. »Ich weiß.«
Connor beißt sich auf die Lippe. »Nicht nur Elissa. Ich habe mich auch über andere Leute lustig gemacht. Tag für Tag. Immer wieder.« Er schließt die Augen. »Ich bin ein Arschloch.«, murmelt er leise, aber laut genug, dass Cassandra ihn verstehen kann. Vorsichtig schlingt sie einen dürren, zitternden Arm um ihn. »Du bist kein Arschloch. Ja, du hast Fehler gemacht, aber das habe ich auch. Jeder von uns hat Fehler gemacht.«
Connor sieht sie fragend an. »Was hast du denn für Fehler gemacht?«
»Ich habe dich nie davon abgehalten, Elissa anzupöbeln, obwohl ich genau gesehen habe, wie sie darunter gelitten hat.«
»Du hast wir Zuhause immer gehörig die Leviten gelesen.«, widerspricht Connor und nimmt die Hand seiner Schwester in seine. »Ich hätte auf dich hören sollen.«
»Das ist es eben.«, seufzt Cassandra. »Ich habe dir Zuhause die Leviten gelesen. In der Schule habe ich nur zugesehen. Ich habe sogar gelacht. Ich habe sie ausgelacht, weil ich dazugehören wollte. Weil jeder sie ausgelacht hat. Ich bin genauso feige wie alle anderen.«
Connor drückt in einem stillen Zugeständnis ihre Hand
»Wieso hast du das überhaupt gemacht?«, will Cassandra nun von ihrem Bruder wissen. »Wieso hast du Elissa gemobbt?« Sie kann sich kaum noch an den Anfang erinnern. Irgendwie war es schon immer so.
»Ich weiß es nicht.«, murmelt Connor. Cassandra spürt die Lüge und sieht ihn abwartend an. »Ich habe das Gefühl der Macht genossen.«, gibt er schließlich zu. »Es hat mich besser fühlen lassen, zu wissen, dass ich diese Macht über einen Menschen habe.«
Cassandra seufzt. »Ach Connor«, murmelt sie. Genau diese Antwort hat sie von ihrem Bruder erwartet. Er hat es schon immer genossen, Macht über andere Menschen zu haben. Schon früher, in ihrer Kindheit hat er ihr immer gedroht irgendwelche Dinge auszuplaudern, damit sie nach seinem Willen agiert. Bis zu ihrem neunten Geburtstag hat das auch funktioniert.
»Ich bin ein schrecklicher Mensch.« Connor lässt ihre Hand los. Cassandra ergreift seine wieder. »Das bist du nicht.«, widerspricht sie. »Du bist ein Mensch. Das ist der Punkt. Menschen sind nicht gut oder böse. Sie sind beides zugleich. Du bist ein wundervoller Mensch, aber eben auch ein schrecklicher. Und das ist okay so.«
»Meinst du?«
Heftig nickend streicht Cassandra über seine Hand. »Das meine ich ernst. Ich kann auch ein schrecklicher Mensch sein. Nur weil meine schreckliche Seite kaum zum Vorschein gekommen ist, bedeutet es nicht, dass ich keine habe. Wenn du wüsstest, was ich manchmal für fiese Gedanken habe, würdest du wohl kaum noch friedlich neben mir liegen. Jeder von uns hat eine schreckliche Seite. Aber eben auch eine wundervolle.«
Connor lächelt seine Schwester liebevoll an. »Womit habe ich nur so eine grandiose Schwester verdient?« Cassandra erwidert seinen Blick mit einem breiten Lächeln. Auch wenn ihr großer Bruder nicht immer für sie da war, hat die beiden schon immer eine tiefe Liebe verbunden, die all die Jahre nur unter Wut und Schmerz verschüttet war. Jetzt - beide schon mit einem Bein im Grab - kann sie die Liebe ihres Bruders in jeder Faser ihres Körpers fühlen. Sie fühlt sich beschützt, sicher. In diesem Moment ist ihr Herz von so viel Liebe und Glück erfüllt, das der nahende Tod in den Hintergrund rückt. Es kommt ihr fast wie eine glückliche Begebenheit vor, dass der Asteroid die Erde treffen wird. So, als wenn dass alles aus einem bestimmten Grund geschieht. Damit Connor und sie einander endlich wieder verstehen. Damit sie ihren großen Bruder unter dieser hässlichen Fassade wiederfinden kann. Damit sie endlich wieder glücklich ist.
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1. Was haltet ihr von Cassandra und Connor? Wie wirken sie auf euch?
2. Findet ihr Connor, trotz dem, was er getan hat, sympathisch oder eher nicht?
3. Würdet ihr eure letzten Tage gerne mit der Familie verbringen, eher mit Freunden oder sogar alleine?
4. Denkt ihr, dass jeder Mensch eine gute und eine böse Seite hat oder seht ihr das anders?
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