noch 22 Stunden
Draußen ist es stockdunkel, als Matt sich durch den Flur in Richtung Badezimmer schleicht. Es hat ewig gedauert, bis die Freunde seines Vaters endlich gegangen sind. Auch wenn Matt sich gegen elf Uhr - mit der Ausrede er hätte Kopfschmerzen - in sein Zimmer verabschiedet hat, saßen die vier Männer insgesamt noch weitere drei Stunden beisammen. Und das in einer Lautstärke, dass Matt noch nicht einmal in der Lage war, sich selbst zu bemitleiden. Um kurz nach zwei sind die drei dann aufgebrochen, und sein Vater, um halb drei endlich ins Bett. Auch wenn die beiden kein inniges Verhältnis haben - zumindest nicht aus Matts Sicht - glaubt er dennoch, dass sein Vater sein Vorhaben nicht unterstützen, sondern vereiteln würde, wenn er auch nur den Hauch eines Verdachtes schöpft. Aber das tut er nicht. Im Gegenteil. Er glaubt immer noch, dass sein Sohn am Boden zerstört ist, weil er sterben muss. Anfangs war er das auch. Vor drei Monaten ist für ihn eine Welt zusammengebrochen.
Vorsichtig öffnet er die Tür des Badezimmers ein Spalt breit, damit sie so wenig wie möglich quietscht und schlüpft hinein. Sorgfältig prüft er drei Mal, ob die Tür auch wirklich abgeschlossen ist, bevor er sich vor den Spiegel stellt. Sein eigenes Spiegelbild widert ihn an. Was würde er nicht alles dafür geben, die Zeit zurückzudrehen. Doch das kann er vergessen. Lucy würde ihm das nie verzeihen, auch wenn beide noch Jahre zu leben hätten und er sie auf Knien um Verzeihung anbetteln würde. Und sie soll ihm auch nicht verzeihen. Was er getan hat, ist unverzeihlich. Das weiß Matt. Und trotzdem wünscht er, sie könnte ihm verzeihen.
Voller Wut denkt er an den Moment zurück, als die Nachricht über den Asteroiden, der unaufhaltsam auf die Erde zurast, verkündet wurde. Er ist vor Augen aller zusammengebrochen. Wahrscheinlich haben die meisten nicht gemerkt, dass es ein Zusammenbruch war, immerhin ist er nicht heulend zusammengesunken, wie einige andere, sondern hatte einen drastischen Wutanfall, bei dem die Wand und seine Hand ordentliche Schäden genommen hatten. Lucy hat seine Panik gespürt und versucht ihn zu beruhigen, aber er hat sie nur zur Seite gestoßen und weiter wie ein Verrückter auf die Wand eingeschlagen. Erst die einsame Träne, die seine Wange hinunterrollte, hatte ihn davon abgebracht.
Matts größter Traum ist es immer gewesen, etwas Großes in der Welt zu bewirken. Groß rauszukommen, seinem Vater zu beweisen, dass er nicht der Nichtsnutz ist, für den er ihn hält. Aber auch für sich selbst wollte er dieses Ziel erreichen. Um sich selbst zu beweisen, dass sein Leben nicht vergeudet und er kein Nichtsnutz ist.
Es hat ihn so rasend gemacht, dass er dazu nicht mehr die Gelegenheit bekommen würde, dass er all seine Wut an Lucy ausgelassen hat. An dem Mädchen, dass er über alles liebt. Er hat ihre Tränen gesehen, ihre Bitten gehört, ihre Schreie und ihren Schmerz gespürt, aber nicht aufgehört. Erst hinterher, als es schon zu spät war, hat er realisiert, was er gerade getan hatte. Seitdem hat er sie nicht mehr gesprochen.
Er weiß, dass er ihr restliches Leben zur Hölle gemacht hat. Dass sie nicht in Ruhe von ihrer Familie und ihren Freunden, von ihm Abschied nimmt, sondern sich in ihrem Zimmer verkriecht und vor Schmerz zergeht. Er kennt Lucy gut genug um zu wissen, dass sie sich in dem Moment verschlossen hat, in dem er ohne ein weiteres Wort des Bedauerns gegangen ist. Es ist egal, wer mit ihr sprechen wird. Keiner wird nah genug an sie herankommen um ihr auch nur ansatzweise dieses bezaubernde Lächeln zu entlocken, für das er sie so liebt.
Dafür hasst er sich.
Sein Gesicht im Spiegel verzerrt sich zu einer hässlichen Fratze. Am liebsten würde er so lange auf den Spiegel einschlagen, bis er sein dämliches Gesicht nicht mehr sehen muss. Aber er wäre immer noch da. Matt wäre immer noch am Leben.
Entschlossen öffnet er den kleinen Schrank über dem Waschbecken und sucht nach dem Schlafmittel, dass sein Vater vor einer Weile abgesetzt, aber noch nicht weggeworfen hat.
Es ist idiotisch, immerhin wird er heute sowieso sterben, aber es kommt ihm gerechter vor, dass er seinen Tod aus freien Stücken wählt. Vielleicht wird Lucy davon erfahren und die Botschaft verstehen, die er ihr damit senden will: »Es tut mir leid.« Aber auch wenn es Lucy egal ist, kann Matt immerhin mit sich selbst Frieden machen. Zwar nicht so, wie er es gerne hätte, aber er kann immerhin sagen, er hat seine gerechte Strafe erhalten. Oder so ähnlich.
Matt mustert die kleinen Pillen in seiner Hand. Er hofft, dass es genug sind um nicht mehr aufzuwachen.
Mit einem letzten Blick in den Spiegel, schluckt er sie. Er schafft es gerade noch zurück ins Bett, bevor die Müdigkeit ihn übermannt. Wenn sein Vater ihn gehört hat und jetzt findet, wird er hoffentlich denken, Matt sei schon wieder eingeschlafen und würde morgens wieder aufwachen. Wird er aber nicht, wenn alles nach Plan verläuft.
Sein letzter Gedanke, bevor es um ihn herum schwarz wird, ist, ob diese Strafe nicht vielleicht doch zu schmerzfrei ist, um dafür zu bezahlen, was er Lucy angetan hat.
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1. Was meint ihr, hat Matt Lucy angetan?
2. Könnt ihr Matts Gedanken in Bezug auf seinen freien Tod nachvollziehen?
3. Wer von den bisher erschienenen Charakteren ist euch am (un-)sympathischsten?
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