Vierundzwanzig Stunden.
,,Jonghyun", flüsterte ich, brach damit mein Schweigen.
Der Mann vor mir hatte seine Hände in seinen Manteltaschen vergraben und schritt langsam auf mich zu, blieb dann erneut stehen. Mit seinen dunklen Augen musterte er mich prüfend. Ich hätte es wissen sollen. Von Anfang an.
,,Ich hab'mir irgendwie denken können, dass du versuchen würdest zu verschwinden. Aber weißt du- sie war meine Schwester", meinte er leise. Seine Stimme klang ohne das Verzerren durch die Lautsprecher noch viel tiefer und angsteinflößender.
,,Mina.. Mina war meine Schwester, Jungkook."
,,Ich weiß. Sie war meine Freundin."
,,Wenn sie deine Freundin war, wieso hast du sie dann umgebracht? Wieso bringst du..?! SIE HAT DICH GELIEBT DU BASTARD!", brüllte der Mann vor mir und stolperte ein wenig vor, zog seine Hände aus seinen Jackentaschen, seine Brust hob uns senkte sich angestrengt.
Ich schloss die Augen, sah dann langsam auf und sah ihn traurig, schuldbewusst an.
,,Es tut mir so leid, Jonghyun. I-ich habe sie auch geliebt. Ich liebe sie noch immer, mehr als ich es je für möglich gehalten hätte..", hauchte ich und erzitterte, als sich erneut Tränen in meinen Augen sammelten.
Der Mann vor mir rieb sich über die Augen und lachte dann leise auf, schniefte leise. Er schien ebenfalls schwer getroffen zu sein, schließlich war seine Schwester tot.
,,Weißt du.. als ich.. an eurer Wohnung ankam.. da wurde sie gerade herausgetragen. In einem Leichensack. Ich wusste direkt, dass du was damit zu tun haben musstest, bei dem ganzen Mist den du am laufen hattest.. du hast sie da einfach mit reingezogen.."
Ich ballte meine Hände zu Fäusten. Das wusste ich auch. Natürlich wusste ich das, ich hab doch versucht sie davon abzuhalten. Ich hab ihr versucht zu erklären, dass sie mich nicht lieben dürfte. Ich würde ihr nicht gut tun, habe ich gesagt. Würde sie verletzten, habe ich gesagt. Das Einzige, was sie darauf antwortete - Und ich werde dich bis ans Ende lieben.
,,I-ich wollte nicht.."
,,WIESO HAST DU SIE DANN NICHT GERETTET, JUNGKOOK?! WIESO KANNST DU GENAU DANN; WENN ES IM LEBEN DARAUF ANKOMMT; NICHT EINE SACHE RICHTIG MACHEN?", brüllte der Bruder des Mädchens, welches ich über alles geliebt hatte an.
,,Ich habe es doch versucht.. und es hat nicht gereicht", hauchte ich und spürte die Tränen meine Wangen herunter laufen.
Ich war ein Waisenkind. Jemand mit dieser typischen Problemkindheit und dem falschen Umfeld in der Jugend. Nie war jemand da gewesen, der mich auf den richtigen Weg zurückführen wollte oder es versucht hatte. Nie war jemand in irgendeinem Sinne für mich da gewesen, bis zu dem Tag, an dem ich sie getroffen hatte.
Ich war dabei ein paar Drogen zu verticken, es war spät in der Nacht gewesen und mehr als nur eiskalt. Wie aus dem nichts stand sie dann einfach vor mir. Statt die Bullen zu rufen, hat sie die Blutergüsse an meiner Wange gestreichelt. Ohne eine Antwort von mir abzuwarten, nahm sie mich mit zu sich. Ich hab es über mich ergehen lassen, diese Fürsorge, diese Wärme. Einerseits, weil mir zu dieser Zeit alles egal war, andererseits, weil es sich überraschend gut angefühlt hatte. Weil sie, weil Mina sich überraschend gut angefühlt hatte.
,,Da hast du Recht", schluchzte Jonghyun: ,,ES HAT NICHT GEREICHT!"
Ich zuckte zusammen. Nie hätte es gereicht. Ich hätte ihr nie alles zurückzahlen können, was sie für mich getan hatte. Ich wollte ihr die Sterne vom Himmel pflücken, wenn sie diese haben wollte. Und als sie mich dann darum gebeten hat aus dem Drogengeschäft auszusteigen, es zu versuchen clean zu werden und bei ihr zu bleiben, um mit ihr zu leben.. da habe ich es getan. Für sie. Für Mina.
Doch statt, dass man uns unser Glück gönnte, gefiel es meinem Dealer so gar nicht, dass ich aufhören wollte. Er sagte, ich würde es bereuen. Ich sagte ihm, er solle mich am Arsch lecken. Und am Ende .. habe ich sie umgebracht.
,,Weißt du.. ich hab meine Leute zusammengesammelt, diese kranke Idee gehabt, das verdammte Kaufhaus gegen den Mörder meiner Schwester eintauschen zu können, um ihm dann ordentlich den Arsch zu versohlen"; räusperte sich Jonghyun und ich hob leicht meinen Kopf, er sah mir ein wenig angewidert in die Augen: ,,Dann habe ich bemerkt, dass ihr Mörder ja direkt vor meiner Nase herumtanzte."
,,Wieso das alles..?", hauchte ich leise und presste die Lippen aufeinander.
So viele Menschen sind gestorben. So viele Menschen haben gelitten, die Jungs zum Beispiel sind erneut durch die Hölle gegangen, wurden mit ihrer Vergangenheit konfrontiert- nur wegen mir?
,,Weil ich es konnte, weil ich meinen verdammten Verstand verliere. Mit Mina hast du mir nicht nur meine Familie genommen Jungkook."
,,Aber wieso leiden andere Menschen für meine Vergehen?", fragte ich, meine Stimme zitterte, als ich lauter wurde.
,,Weil ich ganz genau weiß, dass du genau das am wenigsten abhaben kannst. Wenn jemand an deiner Stelle leidet. So wie sie es Tag für Tag getan hat"; zischte er hasserfüllt und der Druck in meiner Brust wurde ein wenig stärker.
Langsam knöpfte er seinen Mantel auf, lies diesen zu Boden fallen. Ich musste erschreckender Weise feststellen, dass sein gesamter Oberkörper von einer Weste umschlossen war. Ein kleiner Display in der Mitte seiner Brust, über dem gesamten Sprengstoff platziert, zählte herunter.
00:19:47
,,Und am Ende des heutigen Tages. Am Ende der 2 Stunden, da werde ich mein Leben beenden, welches ohne sie keinen Sinn hat. Ich werde dich mit mir reißen, weil du nur den Tod verdient hast. Und ich werde vermutlich dieses Gebäude zum Einstürzen bringen und ein paar sehr viel mehr Personen umbringen, als ich es bisher geschafft habe. Und das alles nur wegen dir.
00:17:58
Ich wimmerte leise, spürte wie die Tränen auf meinen Wangen immer schneller liefen.
,,Mina hätte das nicht gewollt Jonghyun, sie würde wollen, dass du weiterlebst, dass ..wir weiterleben.. sie würde dir nicht ins Gesicht schauen können, wenn du dir selbst dein Leben nimmst. Ihr Bruder war immer ein Vorbild für sie."
00:15:03
,,WAS WEIßT DU SCHON?!", brüllte er und schüttelte den Kopf heftig hin und her, als würde er sich physisch gegen meine Worte wehren wollen.
00:14:22
,,Ich habe sie gekannt. Ich habe sie gelebt. Und .. und wir müssen für sie weiterleben"; schluchzte ich. Ich wusste ganz genau, dass ich das Wörtchen 'wir' benutzt habe. Ich war es in meinen Augen nicht wert zu leben, da gab ich Jonghyun Recht. Aber Mina würde für uns beide wollen, dass wir weiterleben. Sie würde wollen, das wir wieder versuchen glücklich zu werden, auch wenn es für mich unvorstellbar wäre.
00:12:48
Jonghyun schluchzte, weinte verzweifelt. Es war ein grotesker Anblick, den gebrochenen Mann auf die Knie fallen zu sehen. Den Mann, der noch vor wenigen Stunden so selbstsicher und überzeugt klang, mit seiner psychopathischen Art und Weise sein Ziel verfolgte.
Langsam kam ich auf ihn zu und kniete mich vor ihn ihn. Der Countdown lief immer weiter. Neben dem Display war eine kleine Tastatur. Es schien einen Weg geben, die Bombe zu entschärfen, bevor hier alles in die Luft fliegen würde.
,,Jongyhun.. bitte, stelle dich der Polizei. Ich werde es ebenfalls. Du bist nicht allein. Auch wenn Mina nicht mehr hier ist, sie ist dennoch da."
00:10:09
Verzweifelt sah er zu mir auf und krallte sich dann an meinem Kragen fest. Kraftlos schüttelte er mich vor und zurück, oder versuchte es. Schluchzend ließ er seine Schultern sinken. Er war nun nur noch Jemand, der den Verlust eines geliebten Menschen betrauerte.
,,Wie..? Wie ist sie umgekommen? Was ist passiert? Hatte sie Schmerzen?"
,,Ich bekam eine Nachricht von meinem alten Dealer. Als ich zu Hause ankam.. hörte ich ihre Schreie bereits. Ich stürzte hinein, schnappte mir aus der Küche eines der Messer und rannte den Schreien entgegen. Es war.. so dunkel. Es war so laut.. i-ich rannte hoch in das Schlafzimmer, er würgte sie. Ich holte mit dem Messer aus, es war wie ein Instinkt. Und dann.. dann stach ich zu. Immer und immer wieder. Er lag auf dem Boden und regte sich nicht mehr, doch ich stieß immer wieder zu. Irgendwann hörte ich auf und drehte mich zu ihr um. Und dort saß sie, gekrümmt, presste ihre Hände auf ihren Bauch, aus dem ihr Leben sie verließ. Ich hatte sie in meinem Wahn sie zu beschützen.. umgebracht. Ich hab sie im Arm gehalten, rief den Notdienst. Doch es hat nur wenige Minuten gedauert, bis sie direkt in meinen Armen verstorben ist..", flüsterte ich leise, erzählte ihm meine Sünde, meine Bürde, meine Vergangenheit.
Jonghyun nickte langsam und schluchzte mittlerweile nicht mehr. Er weinte nur noch. Weinte, trauerte um seine Schwester.
,,Du wolltest.. sie beschützen..?"
Ich nickte sofort heftig.
,,Alles.. alles was ich wollte, war sie zu beschützen. Und ich habe.. ich habe genau das Gegenteil erreicht."
00:01:36
,,Jungkook.. die vier Schlüssel", flüsterte Jonghyun und sah mir tief in die Augen. Ich wusste was er meinte. Ich sah auf den Countdown auf seiner Brust. Ich erinnerte mich an die vier Toten, die vier ,Schlüssel', wie Jonghyun sie in seinem kranken Spiel genannt hat.
18 - 49 -28 -37
Jisoo - Hanbin - Yesung - Eun-ha
Nach und nach gab ich die Ziffern ein, die Lebensjahre, die die vier jeweils auf der Welt verbracht haben, bevor sie diese verlassen mussten. Ich betete für jeden von ihnen, während ich nach und nach die Ziffern neben dem Display in die Tastatur eingab.
00:00:10
Mina.. wenn du mich hörst, dann bitte vergib mir.
00:00:07
Vergib mir bitte alle meine Fehler, alles, was ich getan habe, was dich im Nachhinein verletzt hat.
00:00:03
Ich liebe dich, Mina.
00:00:00
Der Countdown erreichte sein Ende.
Die vierundzwanzig Stunden waren vorüber.
Die Bombe löste nicht aus.
Und plötzlich ertönte ein Schuss.
Langsam bewegte ich meinen Kopf, um Joghyun anzusehen, der wie ein Besessener seine Waffe dann an seine Schläfe hob und abdrückte. Sein Blut spritzte in alle Richtungen, sein lebloser Körper fiel zur Seite.
Ich spürte wie mir ganz heiß wurde, wie der Schmerz durch meinen Körper zuckte. Ich krümmte mich und sank langsam zur Seite.
Und ich wusste, als meine Augen schwerer wurden und der Schmerz anfing nachzulassen, dass Mina genau bei mir war.
Ich wusste, dass sie mir vergeben hatte.
Ich wusste, dass sie mich liebte.
Denn sie war genau vor mir, lag auf der Seite, mir gegenüber und schenkte mir wieder eines ihrer wunderbaren Lächeln.
Ihre Finger fuhren meine Wange entlang, ich schloss die Augen, mein Herz raste.
Und dieses wunderbare Gefühl blieb, als mich alles andere verließ.
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