9.
02:00
Henry
Ich wusste nicht, wie lange ich schon hier saß, als mein Atem sich langsam beruhigte.
Ich hatte Angst.
Meine Finger krallte sich in der Papier, das ich in der Hand hielt.
Es war komplett zerknüllt und verknittert, so oft war es auf- und wieder zugefaltet, in Eile in eine Jackentasche gestopft oder in einer Schublade versteckt worden.
Jetzt gerade war es das einzige, das mir in dem kleinen Klassenzimmer eine Art von Halt gab.
Mit dem Rücken gegen die Türe saß ich auf dem Boden, hatte mich seit Stunden nicht bewegt.
Kälte und Dunkelheit störten mich nicht, umso mehr jedoch due Erinnerung an die Geschehnisse des Abends.
Wieder und wieder hallte der Knall in meinem Kopf wieder, laut und unerbittlich.
Die erschrockene Stille, die panischen Schreie und das Trampeln, als jeder in eine andere Richtung rannte.
Ich war wie erstarrt gewesen, erst der Schubser eines anderen Schülers hatte mich herausgerissen.
Irgendwie war ich durch die Menschenmenge zu diesem Klassenzimmern gekommen, hatte die Tür geschlossen und mich schwer atmend dagegengelehnt.
Diese Schüsse...
Zuerst hatte ich sie gar nicht als solche erkannt.
Für mich war es einfach nur ein lauter Knall gewesen.
Das letzte mal hatte ich einen solchen Knall vor drei Monaten gehört.
Er war aus dem Bad gekommen.
Ich hatte im Wohnzimmer gesessen und mit meinem Vater für die anstehende Physikarbeit gelernt.
Eigentlich hatte ich alles verstanden, doch um von einer 2 auf die erwünschte 1 zu kommen, müsse ich nun Mal härter arbeiten, so meine Eltern.
Plötzlich hatte es im Stockwerk über uns geknallt, dann absolute Stille.
Meine Mutter war nicht im Haus, also war mein Vater widerwillig aufgestanden um nachzusehen.
Ich hatte ein schlechtes Gefühl gehabt und war ihm gefolgt.
Heute wünschte ich, ich hätte es nicht getan.
Die Badezimmertüre war abgeschlossen, meine Schwester hatte duschen wollen.
"Alles in Ordnung da drinnen?", hatte mein Vater gefragt und geklopft.
Keine Antwort.
"Jill, öffne bitte die Türe!", hatte er wiederholt und vehementer gehämmert, während ich nach dem Zweitschlüssel gesucht hatte, den meine Eltern in einer Kommode aufbewahrten.
Ich hatte mich an meinem Vater vorbeigedrängt und die Türe geöffnet, wodurch ich auch als erstes ins Bad trat.
Bei der Erinnerung zuckte ich zusammen.
Meine Schwester hatte auf dem Boden vor dem Waschbecken gelegen, der Boden um sie herum voller Blut.
Mein Vater war hinter mir ins Zimmer getreten und starrte entsetzt auf die Szenerie.
"Sie muss gestürzt sein...", murmelte er entsetzt.
Sie war nicht gestürzt.
Neben dem Waschbecken stand eine halb volle Dose mit Tabletten, dazu ein Taschenmesser und eine Schere.
Sie hatte sich die Pulsadern aufgeschnitten.
Die Pillen schienen schneller gewirkt zu haben als erwartet, was den Stift auf dem Boden und den Knall des Aufpralls erklärte.
Mein Vater war aus dem Raum gerannt und hatte den Notarzt gerufen. Das hatte mich aus meiner Starre gerissen.
Ich war näher herangetreten.
Auf dem Badezimmertisch lag ein Zettel, den ich zuvor nicht gesehen hatte.
Ich las meinen Namen ganz oben und steckte ihn reflexartig ein.
Sie hatte ihre Haare abgeschnitten.
Unsere Eltern hatten es ihr immer verboten, doch jetzt lagen ihre langen blonden Locken im Waschbecken und ihre nun schulterlangen Haare waren locker um ihren Kopf ausgebreitet.
Ich hatte mich neben ihr hingekniet und vorsichtig ihre Wange berührt
"Chili?"
"Geh da weg, Henry! Deine Klamotten sind schon voller Blut."
Mein Vater hatte mich hochgehoben wie ein kleines Kind und mich die Küche gebracht, wo ich sitzen blieb bis die Sanitäter wieder weg waren.
Meine Mutter war irgendwann nach Hause gekommen und hatte sich um meine schmutzige Kleidung gekümmert.
Eine Woche später hatte ich bei der Polizei aussagen müssen.
Ich hatte ihnen den Brief gezeigt und meine Sicht der Ereignisse erläutert.
Nein, sie habe nie suizidgefährdet gewirkt.
Ja, Stress mit der Schule schon.
Aber keine Probleme mit Klassenkameraden.
Wenige Familienstreitigkeiten.
Wieso sie sich dann umgebracht hatte.
Wusste ich nicht.
Alles, das ich wusste, war, dass meine große Schwester weg war.
Und meine Eltern taten alles, um auch das zu vergessen.
Arbeiteten viel.
Mein Vater war viel daheim, schottete sich aber total ab.
Meine Mutter rauchte wieder mehr. Ging abends weg und kam erst spät in der Nacht wieder, meistens betrunken.
Dann stritten sie sich, während ich so tat als würde ich schlafen und nichts von dem Geschrei mitbekommen.
Aber am Tag immer die perfekte Familie mimen.
Meine verkrampfte Hand umklammerte noch immer den Brief.
Ich machte mir Vorwürfe: Wieso hatte ich nie bemerkt, wie schlecht es ihr ging?
Sie nie gefragt, ob der Druck und die Erwartungen vielleicht zu hoch waren?
Ich war immerhin ihr Bruder, da hätte ich doch etwas bemerken müssen!
Hatte ich aber nicht.
Ich hätte am Abend davor etwas mit ihr unternehmen sollen, anstatt mich in mein Zimmer einzuschließen, um meiner eigenen Ruhe Willen.
Dann wäre sie vielleicht noch am Leben.
Und alles hatte mit einem Knall angefangen, damals wie heute.
Ich hatte keine Angst um mein Leben.
Ich hatte Angst, hier rauszukommen und zu sehen, dass meine Eltern nicht da waren, dass es ihnen egal war.
Ich hatte Angst, ohne meine Schwester weiterzumachen.
Schon als kleiner Junge hatte ich angeblich zu ihr aufgesehen.
Hatte sie statt Jill immer Jili genannt, woraus sich ihr genauso klingende Spitzname Chili entwickelt hatte.
In den letzten Jahren hatten wir uns nicht mehr so nahe gestanden, seit sie lieber Zeit mit ihren Freundinnen verbracht hatte als mit mir.
Aber das war ja auch ihr gutes Recht.
Und immerhin hatten wir uns nie so "gehasst", wie ich es von anderen Geschwistern gehört hatte.
Unsere Eltern hatten uns immer zusammengeschweißt.
Ihre Erwartungen waren immer hoch gewesen und manchmal hatten wir behauptet, zusammen zu lernen.
In Wahrheit hatten wir dann Spiele gespielt und Papierfiguren gefaltet.
Wir hatten eine ganze Kiste mit diesen kleinen Kunstwerken daheim.
Ich hatte sie seit Jills Tod nicht mehr geöffnet.
Meine Eltern wussten gar nichts von dem Brief, außer die Polizei hatte es ihnen erzählt. Aber nachgefragt hatten sie nicht.
Ein mal waren sie mit mir zum Psychologen gegangen, doch seitdem war nichts mehr passiert.
Anscheinend war es eine ungeschriebene Regel, dass in der Familie Norman jeder selbst mit seinen Problemen zurechtkommen musste.
Doch das machte das Schweigen nicht weniger schmerzhaft.
Meine Schwester war bereits tot, da musste man nicht auch noch die Erinnerung an sie totschweigen.
Vorsichtig faltete ich den Zettel auseinander und las die Worte, sie sich inzwischen in mein Gehirn gebrannt hatten.
Hey Henry.
Ich weiß eigentlich gar nicht was ich schreiben soll. Das hier ist wahrscheinlich eine verdammt blöde Idee, ich sollte sich nicht mit all dem belasten.
Aber trotzdem erst mal: Ich hab dich lieb. Dich trifft keinerlei Schuld, denk immer dran.
Ich weiß nicht, ob mein Tun nachvollziehbar ist. Aber ich kann so einfach nicht mehr weitermachen.
Ich kann mit niemandem über alles reden, was passiert ist. Unsere Eltern - du weißt es selber - hören einfach nie zu.
Und wenn du davon wüsstest... Es sind nicht deine Probleme.
Ich will nicht, dass es bei dir so weit kommt wie bei mir.
Such dir Freunde, die dich unterstützen, lass blöde Kommentare nicht an dich ran.
Ignorier Mama und Papa, wenn sie dich anschreien - oder einander.
Irgendwann kannst du da raus in die Welt und musst von all dem nichts mehr wissen. Es sind nur noch ein paar Jahre und ich weiß, dass du stark genug bist.
Ich habe Hoffnung, dass du es schaffst.
Ich glaube an dich.
In Liebe, Ch...
Ihre Schrift war immer undeutlicher geworden und ihr Name endete in einem wirren Kritzeln.
Wieder liefen mir Tränen übers Gesicht.
Sie hatte an mich geglaubt.
Für sie würde ich es schaffen.
Irgendwie.
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