5.
22:00
Elle
Ich hatte die Dunkelheit noch nie gemocht.
Sie gab mir das Gefühl, blind zu sein.
Schutzlos.
Angreifbar.
Als Kind hatten meine Eltern in der Nacht immer ein kleines Licht neben meinem Bett angelassen, weil ich sonst, sobald ich aufwachte, schreien würde.
Inzwischen war es nicht mehr so schlimm, doch das hier - das war die Hölle.
Nicht nur, dass ich seit Stunden mit angezogenen Beinen regungslos auf diesem Klodeckel saß, aus Angst, bei einer Bewegung ein Geräusch zu verursachen: Natürlich hatte auch noch das Licht ausgehen müssen!
Auch der schwache Schimmer, der zuvor durch die winzigen Fenster an der Kante von Wand und Decke gefallen war, war inzwischen verschwunden.
Mein Handy hatte ich Christina gegeben, weil ich natürlich keine verschließbaren Taschen an Pulli oder Jeans hatte, und meine Jacke im Auto meiner Eltern hatte liegen lassen, als sie mich hergefahren hatten.
Und der Inhalt meines Geldbeutels war in dieser Situation vollkommen nutzlos.
Auch als draußen der Tumult losgegangen war, hatte ich mich nicht getraut, das Klo zu verlassen.
Als es ruhiger geworden war wollte ich gehen, doch dann hatte ich sich näherende Schritte - und ein fröhliches Pfeifen.
Wer würde in dieser Situation bitteschön pfeifen?
Jemand, dem das Ganze egal war.
Oder jemand, der es ausgelöst hatte.
Also hatte ich mich hier in der hintersten Kabine eingeschlossen, um abzuwarten.
Ich hätte ja gerne gesagt, dass ich innerhalb der letzten Stunden den Mut zusammenbekommen hatte, einen Blick nach draußen zu wagen.
Allerdings war mir auch das letzte bisschen davon inzwischen abhanden gekommen.
Doch jetzt konnte ich nicht mehr.
Noch eine weitere Minute, ohne etwas zu tun, würde mich umbringen.
Also setzte ich einen Fuß nach dem anderen auf den Boden und stand langsam auf.
Jede Bewegung tat im ersten Moment weh, doch ich schloss die Türe auf und öffnete sie.
Das Knarzen der Türe klang laut in der Stille - zu laut - doch ich hoffte einfach, dass das Einbildung war und nichts bis nach draußen klang.
Es war auch hier fast dunkel, da die sich automatisch anschaltenden Lichter nicht funktionieren. Ich konnte mich selbst kaum im Spiegel erkennen.
Was ich aber sehr wohl sah war der kleine weiße Gegenstand, der am Rand des einen Waschbeckens stand.
Eine Handtasche!
Ein funken Hoffnung keimte in mir auf.
Ich öffnete die Tasche und durchwühlte sie kurz: Ein Lippenstift, ein Geldbeutel, der aber recht leicht, also vermutlich ziemlich leer war, und ganz unten tatsächlich ein Handy!
Ich nahm die Handtasche mit und verschwand wieder in der hinteren Kabine.
Um die Türe zu öffnen reichte mein Mut dann doch wieder nicht, aber dieses Handy könnte meine Chance sein!
Ich schaltete es an und konnte glücklicherweise die Taschenlampe benutzen, ohne es zu entsperren.
Damit leuchtete ich in den Geldbeutel, in dem sich ein Ausweis befand.
Die Tasche gehörte einem Mädchen aus der Parallelklasse, die ich tatsächlich ein wenig kannte.
Meine Chancen, das Handy zu entsperren, waren damit deutlich gestiegen.
Der erste Versuch - 1234 - ging natürlich trotzdem daneben, auch wenn es gut zu ihren vermutlichen IQ gepasst hätte.
Als zweites probierte ich den Namen ihres Freundes, doch auch "Tyler" war nicht richtig.
Dann kam mir eine Idee: Ihr Ex war in meiner Klasse und es ging schon seit Ewigkeiten das Gerücht um, dass sie immer noch was miteinander hatten!
Das war zwar vollkommen einfallslos, doch trotzdem versuchte ich es: Und tatsächlich, Evan passte!
Armer Tyler...
Ich ignorierte die neuen Nachrichten, die mich ja auch nichts angingen, und gab auch der Versuchung nach, ihre Galerie zu durchsuchen.
Stattdessen schrieb ich mit zitternden Händen eine Nachricht an mein eigenes Handy, dessen Nummer ich zum Glück auswendig wusste.
"Ich bin's, Elle, bin noch im Klo, sag der Polizei Bescheid."
Dann hieß es erneut warten.
Die Nachricht kam nicht an, also las Christina sie eine Ewigkeit auch nicht.
Was beschäftigte sie denn bitte so sehr, dass sie nicht einfach mein Handy entsperren und dann schleunigst der Polizei bringen konnte?
Da ich nichts besseres zu tun hatte, sah ich im Licht der Taschenlampe erneut die Handtasche durch.
Der Geldbeutel war, wie erwartet, bis auf einen 20€-Schein leer.
In einem Nebenfach befand sich allerlei Mädchenkram und doch tatsächlich eine Packung Kondome. Tyler war zurzeit im Skiurlaub im Urlaub und ich lachte innerlich über die kleine Schl...
In diesem Moment vibrierte das Handy leicht.
Sofort richtete ich meine Aufmerksamkeit wieder darauf und tatsächlich hatte Christina geantwortet: "Ich hab mir solche Sorgen gemacht! Die Polizei ist informiert, ich gebe ihnen dein Handy dann kannst du selbst mit ihnen reden."
"schreiben* ;)"
Sogar in dieser Situation versuchte sie noch, Witze zu machen, und ich war ihr unendlich dankbar dafür.
"Okay, bin bereit."
Schnell schaltete ich das Handy auf lautlos, als auch schon die merkwürdigsten Befragung aller Zeiten begann:
"Mein Name ist Lt Colbert, dürfte ich ihnen einige Fragen stellen?"
"Natürlich."
"Wo genau befinden sie sich und wie kommen die an das Handy?"
"Ich bin in der Mädchentoilette im Erdgeschoss in der Nähe der Aula. Das Handy war in einer Handtasche, die jemand vergessen hat, ich konnte es glücklicherweise entsperren."
"Können sie den Raum auf einen anderen Weg als die Türe zur Aula verlassen?"
"Es gibt kleine Fenster oben an der Wand, allerdings sind sie versiegelt."
Für einen Moment kam keine Antwort, dann schrieb der Lieutenant erneut und mir wurde schwer ums Herz:
"Wir suchen nach einem Weg, sie dort rauzuholen, allerdings kann dies noch eine Weile dauern. Bitte entfernen sie sich nicht von ihrem aktuellen Standort."
Ich ließ meinen Kopf nach hinten sinken, darauf bedacht, nicht aus Versehen die Spülung zu betätigen, und atmete tief durch.
Ich schaltete die Taschenlampe ab, um Akku zu sparen. Die Handtasche legte ich auf dem Klopapier ab.
"Die Polizisten haben gesagt, ich soll mit dir schreiben, damit du nicht in Panik gerätst oder so. Pass aber auf, dass du immer genug Akku übrig hast!"
"Sind noch 93%. Worüber wollen wir reden? Ich könnte erzählen was hier drinnen passiert ist, allerdings ist das nicht sehr viel."
"Mach es trotzdem. So können wir immerhin helfen."
Und so erzählte ich Christina, wieso ich in der Toilettenkabine geblieben war, und was ich seitdem von draußen gehört hatte.
Das Licht des Bildschirms tötete wahrscheinlich gerade meine Augen, doch die stetigen Antworten haben mir ein bisschen Sicherheit in der Dunkelheit.
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