11.
04:00
Michael
Erschrocken riss ich meine Augen auf. Mein Atem ging schnell und meine Augen brauchten einen Moment, um sich an die Dunkelheit zu gewöhnen.
Allerdings fiel tatsächlich schon ein bisschen Licht durchs Fenster herein.
Dann spürte ich Robyns Kopf an meiner Schulter und der Geruch ihres Shampoos holte mich endgültig aus meinem Albtraum und zurück in die Realität.
Auch wenn diese nicht viel besser war.
Robyns Atem ging ruhig und gleichmäßig, wir waren also doch beide eingeschlafen.
Aber solange sie dabei noch atmete war ja alles in Ordnung.
Mein Arm meldete sich mit einem stechenden Schmerz und mit einem Blick auf die Uhr verstand ich wieso.
Seit ich zuletzt dorthin gesehen hatte, waren 3 Stunden vergangen, mein Arm hatte jedes Recht, sich über die mangelnde Blutzufuhr zu ärgern.
Vorsichtig stützte ich ihren Kopf und Oberkörper mit meinen Armen, drehte ihre Beine ein wenig, um sie anders hinzulegen.
Den Kopf auf meinen Beinen murmelte sie etwas und rollte sich dann zusammen.
Vor ein paar Wochen hatte es ein Problem mit einigen Wasserleitungen gegeben, weshalb manche Klassenzimmern aktuell kein Wasser hatten - so auch dieses hier.
In diesem Moment fragte ich mich, ob man überhaupt so viel Pech auf einmal haben konnte.
Mein Blick fiel auf die Rückseite von Robyns Verband, der merkwürdig glänzte. Auch dieser war inzwischen wohl durchgeblutet.
Ich angelte nach dem Verbandskasten, bemüht, Robyn nicht zu wecken, und konnte ihn schließlich greifen und zu uns herüberziehen.
Ich öffnete ihn und nahm einen neuen Verband.
Ich würde den anderen nicht lösen können ohne die Wunde aufzureißen, das war offensichtlich.
Also hob ich ihren Arm ein wenig an und begann kurzerhand, den Verband fest um den anderen zu wickeln.
Robyn murmelte etwas und öffnete müde ein Auge.
"Alles gut", murmelte ich beruhigend. "Ich pass auf dich auf, schlaf einfach weiter."
Sie kuschelte sich näher an mich und schloss die Augen wieder. Ihr Atem beruhigte sich und nur eine Minute später schlief sie tatsächlich wieder tief und fest.
Ich betrachtete sie, wie sie einfach nur dalag, und der Frieden auf ihrem Gesicht stand in krassem Gegensatz zum Horror der letzten Stunden.
In diesem Moment wünschte ich mir, es könnte einfach immer so sein. Nur wir beide, ohne all die Sorgen und das Drama.
Ohne das Verstecken und die Heimlichkeiten.
Einfach nur Robyn und ich.
Vielleicht war es möglich.
Wenn wir hier herauskämen, hätten wir sowieso einiges zu erklären.
Evan und Louis wussten Bescheid, genauso wie Robyns Freundin Christina. Und wer wusste schon, wer meine absolut unauffällige Szene auf dem Pausenhof sonst noch mitbekommen hatte.
Dann dachte ich an meine Eltern. Sie könnten jetzt sonst wo sein.
Vielleicht waren sie gerade auf der Autobahn, panisch und gehetzt.
Vielleicht hatten sie auch schon vor Stunden einen Anruf erhalten und waren zurückgerast, nur um festzustellen, dass sie absolut nichts tun konnten.
Sie würden nie verstehen warum ich das getan hatte.
Sie würden nie begreifen, dass die Welt sich nicht nur um die Familie Andersson dreht.
Vielleicht waren sie aber auch wie so oft nicht erreichbar und wussten noch gar nicht Bescheid. Dann wären sie jetzt seelenruhig in ihrem Hotel, in dem sie über Nacht hatten bleiben wollen, weil ihre "wichtige Sitzung" eine dreistündige Autofahrt weit weg war und sowieso bis mitten in die Nacht ging.
Meine Freunde waren vermutlich nach Hause gegangen und das war sogar verständlich.
Evan würde nicht hier bleiben, so gerne ich ihn auch mochte kannte ich ihn doch gut genug, um das mit Sicherheit sagen zu können.
Louis hatte vermutlich zu seiner Schicht im Café zurückgemusst.
Er war überhaupt nur hier an der Schule gewesen, um das Gebäck zu liefern, das wir bestellt hatten.
Bei der Gelegenheit hatte er kurz Evan und mir hallo gesagt, da wir trotz der paar Jahre Altersunterschied seit Jahren befreundet waren.
Und der Rest der Geschichte war bekannt.
Ich verstand sie auch absolut.
Sie konnten nichts tun und stundenlang da draußen rumzustehen würde jeden wahnsinnig machen.
Wir hatten keine Möglichkeit, jemanden auf uns aufmerksam zu machen.
Robyns Handy hatte sie zu Hause vergessen, meines war mir bei der Flucht aus der Hosentasche gefallen.
Eine Taschenlampe hatte natürlich niemand dabei.
Zuvor hatte ich kurz mit dem Gedanken gespielt, mit dem Licht des Klassenzimmers SOS-Zeichen zu geben, dann war mir wieder eingefallen, dass das ohne Strom kompliziert werden könnte.
Die Rettungskräfte mussten doch wissen dass wir noch hier waren, wo blieben die denn dann?
Aber früher oder später würden sie das Gebäude stürmen und uns hier rausholen.
Und das hoffentlich, bevor uns jemand anderes fand oder Robyn...
Ich führte den Gedanken nicht zu Ende.
Dennoch traf mich die Erkenntnis mit erschreckender Kraft: Ich hatte meine Zeit mit ihr nie richtig genutzt.
Ich hätte sie um eim Date bitten oder einfach mit ihr reden sollen. Und das nicht erst, als ich es musste, sondern bereits in dem Moment, als sie in meinen Augen nicht mehr nur das merkwürdige Mädchen mit den genauso merkwürdigen Freundinnen gewesen war.
Stattdessen hatte ich mir Sorgen um meinen Ruf gemacht, über die Meinung anderer - während sie die ganze Zeit über zum Greifen nahe war!
Robyn hatte sich still und heimlich mein Herz ergaunert.
Durch ihr offenes Lachen wenn sie mit ihren Freundinnen unterwegs war, und wie sie die Augen verdrehte wenn ihr etwas gegen den Strich ging.
Durch ihre Zurückhaltung in manchen Fächern, und ihre Begeisterung für andere.
Durch ihre Fantasie und ihre Vorliebe für Bücher und Filme, einfach alles, dass sie in andere Welten entführte.
Und statt ihr etwas davon zurückzugeben hatte ich ihr Herz genommen und in einen Käfig gesperrt.
Doch das war jetzt vorbei.
Wieso sollte ich mich für Robyn schämen?
Nur weil sie nicht drei Mal im Jahr in den Urlaub flog, dauernd sturmfreie Bude hatte und dazu ein Bankkonto wie Bill Gates?
Ich hatte mir meine Freundin nach dem Standard aussuchem wollen, nach dem ich erzogen wurde.
Weil meine Eltern es mir so gezeigt hatten, weil alle es mir so gezeigt hatten.
Ich würde nicht länger nach ihren High Society Regeln tanzen.
Ich würde meine eigenen schreiben.
"Ich liebe dich, Robyn DeLancey. Sollen die doch sagen was sie wollen."
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