10.
03:00
Elle
Ich hatte noch eine ganze Weile mit Christina geschrieben, die jedoch schließlich hatte aufhören müssen. Das war tatsächlich eine gute Idee, denn meine Akkustand war inzwischen unter die 40% gesunken.
Ich war müde und hungrig, doch Letzteres ließ sich aus offensichtlichen Gründen nur schwer lösen.
Der Toilettendeckel war auch nicht gerade der bequemste Ort für ein Nickerchen.
Meine Angst von vorhin hatte sich ein wenig gelegt, doch noch immer waren meine Nerven zum zerreißen gespannt.
Die Ohren gespitzt lauschte ich auf jedes noch so kleine Geräusch, einen möglichen Schritt, Atem - doch nichts geschah.
Ich lehnte den Kopf nach hinten gegen die Wand und bemerkte gerade noch rechtzeitig, dass ich diesmal tatsächlich fast die Spülung ausgelöst hätte.
Also drehte ich mich weiter auf dem Klodeckel, bis ich eine halbwegs angenehme Position gefunden hatte.
Endlich war ich in einen seltsamen Halbschlaf gefallen, da hörte ich ein merkwürdiges Geräusch.
Sofort war ich hellwach.
Die Türe quietschte und fiel dann zu, Licht wurde angeschaltet. Verwirrt sah ich auf: Es konnte nicht das normale Licht sein, dafür war es zu schwach und der Strom war schließlich immer noch abgeschaltet.
Auf den Fliesen konnte ich Schritte vernehmen, dann ein leises Klirren.
Irgendjemand war hier.
Ich zog meine Beine weiter an, sodass man sie auch ja nicht mehr unter dem Spalt der Kabine sehen konnte und hielt den Atem an.
Das Wasser an einem der Waschbecken wurde angeschaltet.
Einer Eingebung folgend nahm ich das Handy aus der Tasche, streckte es vorsichtig unter der Kabine durch und machte ein Foto.
Im Nachhinein war es ein Wunder, dass der Blitz ausgeschaltet war und mich nicht verraten hatte. Doch in diesem Moment galt mein einziges Interesse dem Bild.
Ich machte den Bildschirm so dunkel wie nur möglich und sah es mir vorsichtig an, während draußen noch immer das Wasser lief.
Die Qualität des Bildes war zwar nicht der Wahnsinn, doch trotz des schlechten Lichts konnte man genügen erkennen:
Auf dem Foto sah man die Umrisse einer Gestalt, sie hatte lange blonde Haare, die ihr wirr über die Schultern fielen, und war mit ziemlicher Wahrscheinlichkeit weiblich.
Sie trug eine Jeans und ein T-Shirt. Insgesamt wirkte sie ganz normal - die Situation bedenkend deutlich zu normal!
Sie schien sich die Hände zu waschen und starrte dabei in das Waschbecken.
Quer über dem nächsten Waschbecken lag ein länglicher Gegenstand, den ich aus diesem Winkel nicht erkennen konnte, doch mit ein bisschen Fantasie konnte es sich leicht um eine Pistole oder sogar ein Gewehr handeln.
Das Gesicht der Person war auch im Spiegel kaum zu erkennen, doch sie kam mir nicht bekannt vor.
Jetzt wurde das Wasser abgestellt.
Schnell schickte ich das Foto an Christina.
"Du hättest wieder gesund werden können."
Ich zuckte zusammen und hätte vor Schreck beinahe das Handy fallen lassen, doch die Stimme war noch immer ein gutes Stück entfernt.
"Sie haben das unmöglich gemacht. Aber es war nie deine Schuld."
Die Sätze klangen sinnlos und unzusammemhängend.
Sie redete nicht mit mir.
Ich wagte es, meinen Arm erneut nach draußen zu strecken und ein weiteres Foto zu machen. Sie stand noch immer vor dem Waschbecken und starrte nun ihr eigenes Spiegelbild an.
Sprach sie etwa mit sich selbst?
"Sie werden dafür büßen, was sie dir angetan haben. Das verspreche ich dir, Lizzy."
Christina hatte mir geantwortet.
"Wer ist sie?"
"Ich weiß es nicht, sie ist hier reingekommen und redet anscheinend mit sich selber."
"Hat sie dich entdeckt?"
"Ich glaube nicht."
Plötzlich erklang ein merkwürdiges Geräusch von draußen und ich brauchte einen Moment, um zu verstehen, dass es ein unterdrückter Schluchzen war.
Weinte sie jetzt etwa?
"Ich weiß nicht was ich tun soll, ich weiß nicht mal wer ich bin. Ich kann nicht du sein! Ich bin nicht stark und perfekt, ich will einfach nur... Ich weiß nicht was ich will! Wieso vermisst dich niemand? Ich weiß nicht was passiert ist, aber ich brauche dich und ich will nicht vergessen werden."
Ihre Worte waren immer zusammenhangsloser geworden und gleichzeitig hatten sie auch immer vergweifelter geklungen.
Ich wusste nicht was ich tun sollte, also blieb ich einfach reglos sitzen.
Eine Weile herrschte Stille, dann schnappte sie plötzlich nach Luft.
Das Schluchzen verklang.
Ich hörte schnelle Schritte und sie war verschwunden - samt dem Licht.
"Sie ist weg."
"Sie hat davon geredet, dass sie jemanden namens Lizzy rächen will. Irgendjemand hier muss ihr etwas schreckliches angetan haben. Und sie klang total verzweifelt, aber es war alles komisch und unverständlich."
Christina antwortete sofort:
"Ich gebe alles an die Polizei weiter. Stay safe X "
Ich hatte gar nicht bemerkt, dass ich den Atem angehalten hatte, doch jetzt schnappte ich wie eine Ertrinkende nach Luft.
Meine Hände zitterten wie verrückt und mir wurde bewusst, wie eng die Situation gerade gewesen war.
Sie hätte mich jederzeit entdecken können und dann... Dann wäre ich jetzt vermutlich nicht mehr am Leben.
Für mich bestand keine Zweifel mehr, dass das hier die Täterin war. Sie musste für das Attentat verantwortlich sein!
Seit dem ersten Schuss hatte ich - wie vermutlich die meisten anderen auch - das Bild eines großen, breitschultrigen Mannes vor mir gehabt, vielleicht ein Ausländer.
Das klang natürlich rassistisch und war auch definitiv nicht fair, doch genau dieses Bild wurde einem heutzutage von den Medien vermittelt.
Attentäter seien Ausländer oder zumindest Außenseiter, Leute am Rande der Gesellschaft, Assis, Opfer, Gewalttätige, zu allem bereit.
Aber das war nicht die Wahrheit.
Denn dieses Mädchen hier war kaum älter gewesen als ich, höchstens 18 oder 19. Man hatte nicht viel sehen können, doch sie passte auch nicht in die Opferrolle einer gemobbten Schülerin, dafür war sie - wenn man nach Klischee ging - zu hübsch und zu normal.
Was also sollte sie zu so etwas treiben?
Doch dann dachte ich an ihre Worte: Hier ging es nicht um sie selbst, sondern um ein anderes Mädchen, vielleicht eine Freundin.
Die Behörden kümmern sich darum, dachte ich, um mich selbst zu beruhigen. Sie werden herausfinden, wer diese Lizzy ist, und dann finden sie auch sie. Und dann können sie handeln.
Zumindest hoffte ich das. Ich hoffte es wirklich.
Ich musste erneut eingedöst sein, denn als ich die Augen öffnete war es gut eine Stunde später.
Auf dem Handy, das ich noch immer umklammert hielt, waren erst vor wenigen Minuten zwei Nachrichten eingegangen.
Ich öffnete sie, sie stammten beide von Christina.
"Wir wissen vermutlich wer es war! Ist sie das?"
Und als zweites ein Bild von zwei Mädchen, die die Arme umeinander gelegt hatten und lachten.
Sie war es definitiv.
Ich konnte nur nicht mit Sicherheit sagen, welche der beiden.
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