1.
18:00
Michael
Ich hatte keine Ahnung, was ich hier eigentlich tat.
Ich war durch einen der weniger verstopften Seiteneingänge zurück ins Gebäude gelaufen, wobei mir nicht nur ein verwirrter Blick zugeworfen worden war.
Ein kleiner Junge hatte auf der Treppe versucht, mich wegzuziehen, doch ich hatte mich losgerissen und war weitergerannt.
Jetzt stand ich am Fuß der Treppe zum 4. Stock, in dem sich Robyns Spind befand - in dem Gebäude, in dem vermutlich die Schüsse gefallen waren.
Eines der großen Fenster beim Treppenabsatz war in Scherben zersprungen, der Beweis, dass der Täter hier geschossen hatte.
Die Hände zu Fäusten geballt schlich ich die Treppen oben.
Ich sah in beide Richtungen, doch der Gang lag vollkommen verlassen vor mir.
Hier lagen nicht wie im Rest des Schulhauses Taschen, Handys und andere Sachen am Boden, die Schüler während der panisch Flucht verloren hatten.
Das bedeutete zumindest, dass hier keine Menschen waren, als die Schüsse fielen.
Natürlich musste Robyns Spind im vierten Stock sein, noch dazu in einem der kleinen Gänge neben den Klassenzimmern, die man von hier nicht einsehen konnte.
Die Türen waren auf beiden Seiten des Ganges geöffnet, sodass ich, ohne Krach zu machen, weitergehen konnte.
Ich war nur noch wenige Schritte von Robyns Spind entfernt, als mein Blick auf den Boden fiel. Dort glänzte etwas.
Ich bückte mich und sah genauer nach.
Es sah aus wie Blut.
Mein Herz begann schneller zu schlagen. Irgendjemand war hier oben und diese Person war verletzt.
Ich schickte ein Stoßgebet in den Himmel, dass es nicht Robyn war, bevor ich der Spur aus regelmäßigen Tröpfchen folgte.
Sie führte zu einigen Spinden, daran vorbei und bis zu der geschlossenen Tür eines Klassenzimmers.
Ich schlich näher heran und drückte mein Ohr gegen die Türe, konnte allerdings keine Geräusche ausmachen.
Der Lärm von draußen war zu laut, selbst hier oben.
Irgendwo erklang eine Sirene, natürlich waren die Rettungskräfte bereits auf dem Weg hier her.
Ich atmete tief durch, dann griff ich nach der Klinke und stieß die Türe mit einem Ruck auf.
Ein unterdrückter Schrei erklang, dann traf mich etwas schweres am Arm und ich taumelte zurück.
Jemand stürzte sich auf mich, ich wurde in das Zimmer gezerrt, packte die Gestalt an den Handgelenken...
"Robyn?", entwich es mir erstaunt, als ich ihr ins Gesicht sah.
"Michael?"
Schwer atmend taumelte sie zurück und strich sich die kastanienbraunen Haare aus dem Gesicht.
Dabei sah ich die vielen kleinen Kratzer auf ihren Armen und einen an ihrer Wange.
"Ich hab mir solche Sorgen gemacht!", stieß ich hervor und nahm sie in den Arm.
Robyn zuckte zurück und taumelte dabei.
"Alles okay?", fragte ich erschrocken.
"Mach die Tür zu!", zischte sie zwischen zusammengebissenen Zähnen hervor. "Bevor uns jemand findet."
Ich hätte mich ohrfeigen können: Nachdem ich durch das halbe Schulhaus geschlichen war, hätte das hier jeder mitbekommen können!
Ich schloss die Türe also möglichst leise und schob, da wir keinen Schlüssel zum absperren hatten, einen Tisch davor. Dann ging ich zurück zu Robyn, die mittlerweile zusammengekauert auf einem der Stühle saß.
"Was ist los?", fragte ich sanft und kniete mich vor ihr hin. Sie deutete auf ihre Schulter und ich musste für einen Moment wegsehen beim Anblick des dunkelroten Flecks auf ihrem blauen Oberteil.
"Okay...das ist nicht gut. Was genau...hat dich da getroffen?", fragte ich, obwohl ich die Antwort kannte.
"Es kam aus dem Nichts...", setzte Robyn an und schluchzte unterdrückt. "Ich war gerade halb die Treppe oben, da kam der erste Schuss. Der zweite hat das Fenster getroffen und die Splitter haben mich erwischt und der dritte...ist von der Wand abgeprallt und glatt durch. Ich hab's mir noch nicht genauer angesehen."
"Darf ich?", fragte ich und deutete auf ihren Pulli. Das klang jetzt total seltsam aber wenn man die Situation bedachte...
Sie nickte und wollte mit dem linken Arm aus dem Ärmel schlüpfen, zischte aber schon nach Sekunden erschrocken auf.
Der Stoff war durch das Blut festgeklebt und sie konnte den Arm kaum heben.
Mit ein bisschen Hilfe kam sie letztendlich doch noch raus, allerdings bereitete ihr das Ganze offensichtlich Schmerzen.
"Wie lange hab ich noch, Herr Doktor?", fragte Robyn mit zitternden Stimme, doch ich schüttelte nur den Kopf:"Darüber macht man keine Witze!"
Es schien ein glatter Durchschuss zu sein. Soweit ich mich auskannte, hatte es wohl keinen Knochen getroffen, was mich erst einmal aufatmen ließ.
Dann sah ich die Menge Blut, die sie bereits verloren hatte und verkrampfte mich erneut.
"Wir müssen dich so schnell wie möglich hier raus schaffen", diagnostizierte ich. "Grundsätzlich solltest du ne Weile überleben, allerdings verlierst du viel zu viel Blut."
"Wir kommen hier aber nicht raus", stellte Robyn nüchtern fest. "Ich kann keine Treppen laufen, meine unnütze Attacke gegen dich hat mich die letzte Kraft gekostet. Außerdem könnte in genau diesem Moment ein Irrer mit einer Waffe dort im Gang auf und ab laufen."
"Ich hasse es wenn du Recht hast. Und was soll ich jetzt bitteschön tun?"
"Das hättest du dir vielleicht überlegen sollen, bevor du dich hier in Lebensgefahr begeben hast. Wobei ich immer noch nicht verstehe, wieso du das getan hast."
"Du warst hier."
Für mich war das ein guter Grund, doch sie zog eine Augenbraue hoch und erwartete anscheinend eine Erklärung.
"Ich würde dich niemals einfach alleine lassen! Das denkst du dich nicht wirklich."
"Nach dem, was ich dir neulich an den Kopf geworfen habe, würde es mich nicht wundern", seufzte sie.
Ich nahm ihr Hand in meine, nicht drauf achtend, dass sie voller Blut war.
"Ich würde dich niemals - hörst du, nicht in einer Millionen Jahren - einfach zurücklassen."
Sie lachte auf, doch es wurde eher zu einem Schluchzen.
"Und jetzt sitzen wir wegen mir hier fest."
"Irgendjemand wird uns holen kommen. Deine Freundin, Christina, sie ist rausgekommen und hat noch im Laufen irgendeine Lehrerin angeschrien, dass du und Elle noch hier seid. So hab ich das erst erfahren und..."
"Elle ist auch noch hier?", rief Robyn erschrocken und fuhr hoch, verzog jedoch sofort schmerzhaft das Gesicht und ließ sich wieder zurück auf den Stuhl fallen.
"Ich weiß es nicht genau, Christina dachte das zumindest. Allerdings hat sie es wahrscheinlich rausgeschafft, nur eben durch einen anderen Ausgang. Ich bin mir sicher es geht ihr gut."
Ich war mir ganz und gar nicht sicher.
Aber ehrlich gesagt hatten wir genug Probleme, da musste Robyn sich nicht auch noch sorgen um ihre Freundinnen machen.
"Wie schlimm sind die Kratzer der Scherben?", sprach ich das zweite Problem an.
"Nicht so schlimm. Die meisten sind kaum durch die Klamotten gekommen, damit wird mein Körper gerade noch fertig."
Für einen Moment herrschte Stille, dann sagte ich:"Wenn wir hier schon nicht wegkommen brauchen wir zumindest einen Verbandskasten oder so was."
"Du hast nicht zufällig unterwegs einen mitgenommen?"
"Nein. Aber bei den Physiksälen sind welche, da kann ich einen holen. Ist ja nur ein Stockwerk tiefer."
"Du willst da raus!"
"Nicht jetzt sofort, das ist zu gefährlich. Aber so bald wie möglich. Und wir müssen sofort die Blutung stoppen."
"Ach ja, und mit was?"
"Kannst du einfach mal mir deinem Sarkasmus aufhören? Wir sitzen hier beide in der Scheiße und es ist sicherlich nicht meine Schuld. Also lass mich dir einfach helfen!", fuhr ich sie an.
Robyn starrte mich fassungslos an.
"Aber..."
"Ich bin ohne nachzudenken in ein Gebäude zurückgerannt, in dem mehrmals geschossen wurde, als ich hörte, dass du noch hier drinnen bist. Ohne einen Gedanken daran zu verschwenden, was hier eigentlich los sein würde. Weil du in Gefahr warst. Lass mich dir helfen."
Robyn starrte bedrückt zu Boden nickte dann.
"Gut."
Ich drehte mich zur Seite und zog meinen Pulli aus, dann das T-Shirt, das ich darunter trug, und den Pulli wieder an.
Dann verband ich die Wunde notdürftig mit dem T-Shirt, wobei Robyn vor Schmerz erneut das Gesicht verzog.
Ich zog das Ganze fest und hoffte einfach, dass es die Blutung vorläufig stillen würde.
Dann half ich ihr, ihren Pulli wieder über das Top zu ziehen, das sie darunter trug.
Wir lehnten uns auf den Stühlen zurück und warteten, ohne zu wissen, auf was.
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