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HOLLY
Erin kann sich kein Lachen verkneifen, als ich ihr das verspätete Mittagessen hergerichtet auf einem Teller serviere.
Da Jackson seine Dino Chicken Nuggets mit Kartoffelbrei und Brokkoli immer speziell hergerichtet haben will, tat ich dieses auch bei Erin's und meinem Teller.
„Sauce kommt gleich noch", sage ich und wende mich wieder der Kücheninsel mit dem Herd zu.
„Und das musst du jedes mal machen?", fragt Erin mich, als ich mit dem Topf und der Kelle zurück zum Esstisch gehe.
„Jay hats einmal gemacht und seitdem sind die Dino Nuggets mit Brokkoli Bäumen und Kartoffelbrei-Saucen-Vulkan der Renner."
Ich schütte je eine Kelle voller Sauce in die ausgehöhlten Kartoffelbrei-Vulkane, bis diese Überlaufen.
Jackson quietscht begeistert und zappelt aufgeregt hin und her. Ich muss leise lachen und gehe zurück in die offene und riesige Küche, die am mindestens genauso großen Esszimmer angrenzt.
„Spricht ihr kein Tischgebet?", fragt Erin mich, als ich mich am Kopf des riesigen Esstisches hinsetze.
Verwirrt blicke ich sie an und schüttle meinen Kopf. „Nein, noch nie. Jackson macht das im Kindergarten."
Erin hält mir auffordernd ihre Hand hin und blickt mich abwartend an.
Zögerlich lege ich meine Hand in ihre und fordere nach Jackson's Hand, der mit einem Langhals-Dino-Nugget auf dem Teller spazieren geht. „Legst du das bitte kurz auf den Teller. Wir wollen mit Erin ein Tischgebet sprechen."
„Das mach ich im Kindergarten!", ruft Jackson begeistert und legt den Dino endlich zur Seite.
Summend wischt er sich die Hand in der Hose ab und greift nach meiner Hand, ehe er sich über den Tisch streckt, um nach Erin's greifen zu wollen, aber der Tisch war selbst viel zu groß, als Erin sich rüber lehnen will.
Nachdem Erin das Tischgebet gesprochen und wir dieses mit einem Amen versiegelt haben, können wir endlich Essen.
***
Während Jackson bereits tief und fest in seinem neuen und heiß geliebten Bett am schlafen ist, gehe ich nach unten und in das Wohnzimmer mit dem angrenzenden Partyraum mit einer gut gefühlten Bar.
Erin versinkt fast in dem viel zu großen Sessel und hat sich eines der etlichen Bücher aus dem riesigen Bücherregal geschnappt.
Ein Glas Rotwein steht neben ihr auf den kleinen Runden Tisch.
Die Flasche und ein weiteres Glas daneben.
Erin ist so tief in der Welt von Stephen Kings Nachtschicht abgetaucht, dass sie mich gar nicht sonderlich wahrnimmt.
Also lasse ich Erin in Ruhe lesen und ziehe mein Handy hervor, um meine Socialmedia-Accounts zu checken und die wenigen Nachrichten in sämtlichen Nachrichtenboxen.
Eine Markierung bei Instagram. Von Jay. Hm.
Jay hat nach einer Ewigkeit etwas gepostet... etwas, vermutlich ein Bild und hat mich dort markiert.
Neugierig schaue ich nach und kann mir kein Lächeln verkneifen, als ich das ziemlich alte Foto von Jay und mir betrachte.
Die Fotos sind an dem Tag entstanden, als wir unsere Jahrbuchbilder gemacht haben und Jay wollte unbedingt ein Foto von uns beiden (gibt ja nicht schon zu genüge), drückte dem Fotografen dreißig Dollar in die Hand und wir haben einige Fotos bekommen.
Sein Lieblingsfoto. Während ich auf den Stuhl sitze, steht er hinter mir, hat die Arme über meine Schulter geschlungen, das Kinn auf meine Dauerwelle (hab's gehasst) und lächelt leicht in die Kamera, während ich mein bestes Lächeln aufziehe.
Ist echt ein schönes Foto, keine Frage, aber für mich gibt es tatsächlich bessere. Meistens die, in der Jay nicht sein kleines Schmunzeln aufzieht, sondern sein richtiges und wunderschönes strahlendes Lächeln.
Ich tippe zwei mal auf den Bildschirm, damit ich das Foto liken kann und will kommentieren, als ich erst die Caption darunter wahrnehme: soon ❤️
Jay kann es anscheinend kaum erwarten, bis die Sache endlich vorbei und wir zurück nach Hause können.
Ich kann mir auch besseres vorstellen und wäre am liebsten in Chicago geblieben, um Jay nicht allein zu lassen, aber Sam ist ja da.
Jay, Sam und die Unit werden das schon irgendwie hinkriegen. Hoffentlich in einer kurzen Zeit und hoffentlich nicht so lang.
Ich kommentiere ebenfalls mit: SOON ❤️, verlasse die App und gehe auf diese Nachrichtenapp.
Ich schreibe Jay eine Nachricht, diese geht zwar direkt durch, aber er ist schon seit einigen Stunden nicht mehr online gewesen.
Seine letzte Nachricht ist die Antwort auf meine gewesen, nachdem wir angekommen sind.
Jay
Das ist gut. Versuche die Zeit dort eben zu genießen. Geben unser Bestes. Ich liebe euch und vermisse euch jetzt schon richtig.
Ich hab zwar geantwortet, aber darauf auf noch keine Nachricht bekommen. Vermutlich stecken die gerade mitten in den Ermittlungen.
Also schreibe ich Sam an und erkundige mich, ob es noch etwas Neues von Kelly gibt.
Der letzte Stand der Dinge im Zustand von Kelly ist ja gewesen, dass sie die Not-Operation gut überstanden hat und auf der Intensivstation liegen würde.
Danach habe ich nichts mehr gehört. Auch Sam antwortet mir nicht und ist ebenfalls schon einige Zeit nicht mehr online gewesen.
Dann gehe ich eben Person Nummer Drei auf den Zeiger. Vielleicht weiß Dad ja etwas. Aber dort bekomme ich auch keine Antwort.
Immerhin bekomme ich eine neue Nachricht angezeigt. Natalie. Immer hin eine Person die gerade Zeit für mich hat.
Nat
Die Arbeit war heute eine völlige Katastrophe. Die vier Hühner wieder. Ich sag's dir. Will dich damit auch gar nicht sonderlich nerven. Hoffe, es geht dir gut, wo auch immer du jetzt bist. Ist alles blöd ohne dich.
Holly
Was war denn heute auf der Arbeit wieder los? Das übliche, oder etwas Neues, was mich aus den Socken hauen wird? Mir geht's den Umständen entsprechend, aber nicht so bescheiden wie es Jay geht. Ich will einfach nur zurück Hause, in mein Bett, meine gewohnte Umgebung und ruhig neben Jay Einschlafen. Nicht neben ihn zu schlafen wird die Hölle auf Erden werden.
Nat
Ja, dass Gefühl kenne ich. Das große Bett ist dann noch viel größer und die gewohnte Wärme der neben dir liegenden Person wird sehnlichst vermisst. Kann ich ein Lied von singen.
Nat
Und wegen der Arbeit, alles wie immer. Nichts Neues was uns aus den Socken hauen wird. Die vier Hühner benehmen sich halt noch immer wie die hinterfotzige Axt im Walde.
Holly
Ich hoffe, dass bei denen irgendwann das Karma zuschlägt. Ein Unding, dass keinem Patienten etwas passiert ist.
Nat
Malen wir mal nicht den Teufel an die Wand. Hoffentlich passiert so etwas nicht, das würde ich mir nicht wünschen, auch wenn sie unerträglich sind. Bin übrigens vorhin am neuen Standort vom Med entlang gefahren.
Holly
Wie sieht es da aus?
Nat
Die sind tatsächlich schon recht weit. Wird wohl modern werden, oder so und riesig. Hab mit Goodwin gequatscht. Kommt eine Kinderklinik daneben und weitere spezielle Abteilungen. Das alte Med wird da sicherlich mehrmals reinpassen.
Holly
Oh, das hört sich gut an. Weiß man schon wann ungefähr?
Nat
Wird wohl noch einige Monate dauern. Bis dahin schaffen wir beide das St. Bernards.
Nat
Hoffe, du kommst schnell wieder nach Hause. Vermisse dich. Bis die Tage.
Holly
Das hoffe ich auch. Ich vermisse dich auch. Bis die Tage.
Die kurze Unterhaltung zwischen Nat und mir ist somit vorbei und bevor ich mein Handy weglege, schaue ich noch mal nach, ob mir schon von den anderen geantwortet wurden ist. Keine Nachricht, immer noch dieselbe Uhrzeit unter den Namen.
Ich schließe die App, mache die Tastensperre rein und lege mein Handy neben mir auf die Couch, ehe ich aufstehe und zum Bücherregal gehe.
Dann lese ich eben auch. Ich hab ja Zeit, kann eh nichts sonderlich machen.
Als ich ein würdiges Buch unter Tante Glorias etlichen Büchern gefunden habe, setze ich mich mit einem Klischeegefühlten Nicholas Sparks Roman zurück auf die Couch.
Erin hat bereits ihr Buch zur Seite gelegt und hält mir ein Glas mit Rotwein hin, welches ich dankend entgegen nehme.
„Danke", sage ich, nehme einen kleinen Schluck und stelle es auf den Tisch vor mir ab. „Hast du schon etwas von den Jungs gehört?" Ich lehne mich auf der Couch nach hinten und öffne schon mal die erste Seite des Buches.
Erin stellt ihr Glas zurück und schüttelt ihren Kopf. „Sie werden mich anrufen, wenn sie etwas Neues haben. Entweder stecken sie gerade in etwas Neues, oder sie haben noch nichts."
„Vermutlich", murmle ich. „Wie kannst du bei deiner Arbeit noch einen Horror-Thriller lesen wollen? Freiwillig."
Erin lacht belustigt. „Und wie kannst du diese Schnulzenbücher lesen?", stellt sie die Gegenfrage. „Freiwillig."
„Ich mag nun mal Happy Endings. Das habe ich momentan nicht wirklich auf der Arbeit."
„Patienten, oder deine merkwürdigen Kolleginnen?"
„Sowohl als auch", antworte ich. „Wir sind in Englewood und wir bekommen tagtäglich Patienten hinein die Opfer von Gewalttaten geworden sind." Ich halte inne. „Du kannst es mittlerweile an der Hand ablesen, wer es schafft und wer nicht, wir versuchen alles, meistens versterben sie schon vor der Notaufnahme. Menschen in allen Altersklassen."
„Deine Arbeit hat aber auch gute Seiten, Holly. Nicht jeder Patient stirbt, obwohl ihr alles gegeben habt."
„Ich weiß", nicke ich. „Es ist aber trotzdem jedes mal aufs Neue eine Qual und wenn man nicht weiter macht, als sei nichts gewesen, macht es einen früher oder später kaputt."
Erin stimmt diesem zu. „Und bloß nicht mit nach Hause nehmen", schlussfolgert sie und legt ihr Buch zur Seite. „Du und Jay müsst echt viel durchmachen in letzter Zeit."
„Wir haben uns diese Berufe ausgesucht, wussten was auf uns zukommen wird", werfe ich ein.
„Ja... nein... das meine ich nicht. Eher das private Zeug. Die Sache mit Melissa, jetzt das, deine Eltern, sein Vater. Jay ist wie Sam ein verschlossenes Buch und ich kenne Sam schon etliche Jahre, wir sind Partner. Immerhin weiß ich jetzt, was der Grund zwischen Sams und Jays Zickenkrieg war- dank dir."
Ich lache leise. „Zickenkrieg. Ja, dass passt. Sam und Jay sind beide echte Hitzköpfe. Wenn sie nicht zusammenhalten, haben die beiden sich in den Haaren. Ist schon immer so gewesen."
„Stimmt, ja, ihr seid ja alle zusammen aufgewachsen."
„Genau. Mehr oder weniger."
„War dein Bruder schon immer so ein kleiner Aufreißer gewesen?", hakt Erin nach und trinkt einen weiteren Schluck von ihrem Wein.
„Er hat schon in der Highschool nicht lange gezögert und daran hat sich nach meinem Erkenntnisstand nichts geändert. Sonst wäre Tristan nicht da."
„Ich kann mir nicht mal ansatzweise vorstellen, wie Sam all die Jahre mit der Last auf seinen Schultern leben kann. Tristan und Lonnie."
Aufmerksam schaue ich auf und blicke zu Erin. „Was meinst du?"
Sie fixiert meinen Blick. „Ich weiß ganz genau nach welchen Regeln Hank und Abel spielen, wenn es hart auf hart kommt. Sam kommt nach eurem Vater. Leider. Er hat die regelkonforme Verhaftung Rodigers nicht zugelassen. Das weiß ich."
Ich weiß nicht, was ich sagen soll und blicke Erin nur an. „Hank hat eine Andeutung gemacht und ich habe später eins und eins zusammengezählt. Sam ist unruhiger danach geworden... stiller, teilweise ernster. Es ist als ob ihn zwischendurch etwas belastet, ihm den Hals zuschnürt. Was glaubst du, haben die drei mit Rodiger gemacht... oder die vier... Jay war ja auch mit dabei."
„Wir hatten abgemacht nicht mehr darüber zu sprechen und das ist auch gut so", flüstere ich in das Weinglas hinein. „Ich war zwar nicht dabei, aber ich weiß, dass Hank und Dad in gewissen Situationen nicht vernünftig denken können. Sam anscheinend genauso wenig..." Ich mache eine Pause und atme tief durch. „...kann man Sam das alles verübeln, Erin?"
„Ich hätte genauso reagiert", gesteht sie und blickt an mir vorbei. „Ich wäre genauso ausgerastet, wenn ich den Mörder und den Peiniger meines Sohnes vor mir hätte."
Ich schlucke. „Ehrlich. Ich würde dies behaupten. Wäre aber zu Feige dies auch wirklich zu tun. Aber wer weiß, man sagt man würde es nicht tun, bis man in der Situation sitzt und eine Entscheidung treffen muss, die aus Hass, Trauer, Angst und Adrenalin geleitet wird. Ich hab's versucht, Jay hat's versucht... Sam war nicht er selbst."
„Was versucht?"
„Ihn davon abzuhalten, zu Bekehren, dass es das Beste ist, Lonnie zu verhaften und ihn auszuliefern. Ein Kinderschänder und Mörder hätte es nicht lange im Knast gemacht, vor allen Dingen, wenn man die richtigen Leute kennt."
Erin verengt die Augen und legt den Kopf schräg. Aber gerade als sie mich fragen will, was ich damit meine, klingelt ihr Handy auf und das Thema ist sofort vergessen.
Sie stellt das leere Glas ab und greift nach dem Handy. „Sam!", sagt sie und nimmt sofort das Gespräch an.
Neugierig lehne ich mich nach vorne, versuche vergeblich Sams undeutliche Worte zu lauschen und gleichzeitig etwas aus Erin's Gesicht abzulesen- aber ich komme nicht drauf, über was die beiden reden.
Als das Gespräch beendet ist, wendet sich Erin zu mir. „Okay, Kurzfassung?"
„Hau raus!"
„Jay hat Hausarrest, bedeutet er darf die ganze Zeit auf der Wache abhängen, während die anderen Arbeiten, Kelly die Barbesitzerin, ist auf eine normale Station verlegt und auf dem Weg der Besserung, der Typ der auf Jay geschossen hat, wurde verhaftet. Weiter sind sie noch nicht. Sie halten mich auf den Laufenden."
Ich seufze. „Das ist eigentlich gut. Das werden lange Tage", kommentiere ich abfällig, obwohl ich die Befürchtung habe, dass es nicht nur bei ein paar Tage, sondern Wochen bleiben könnte.
Mein klingelndes Handy reißt mich aus meinem Gedanken, und als ich sehe, dass Jay mich anruft bin ich plötzlich freudig aufgeregt.
Ich entschuldige mich bei Erin und verschwinde mit dem Buch und meinem Handy ins Büro, um dort in Ruhe mit Jay zu telefonieren.
„Es tut so gut deine Stimme zu hören", sagt Jay, als ich das Gespräch mit einer netten Begrüßung angenommen habe.
„Ebenso", lache ich leise, schalte das Licht im Büro an und drücke die Tür mit dem Hintern zu. „Verweilst du noch unter Hausarrest auf der Wache?"
Jay seufzt traurig. „Liege allein in dem viel zu großen Bett. Sam pennt auf der Couch und diese Ungewissheit wann wir uns Wiedersehen, frisst mich jetzt schon auf."
„Mich auch", gestehe ich. „Ich weiß bis dahin ist noch eine Weile. Aber wie wäre es, wenn wir die Sommerferien in ein paar Monaten hier oben verbringen? Nur wir drei mit unserem verdienten Urlaub nach all der stressigen Zeit."
„Das kann ich dir überhaupt nicht abschlagen", entgegnet Jay zustimmend. „Können wir, wenn's zeitlich passt jeden Tag telefonieren?"
„Natürlich können wir das. Das ist das einzige was mir in dieser bescheuerten Lage machen können."
Jay seufzt erleichtert. „Okay, dass ist gut", murmelt er.
Auch wenn die kommenden täglichen Telefonate mit nichts zu vergleichen sind, ist das das einzige, was Jay und mir in dieser Situation bleibt.
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