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HOLLY
Ich blicke auf die Klinge herunter und dann zu Melissa. „Hier sind etliche Menschen. Überleg dir genau was du hier tust", zische ich und hebe die Hände auf Hüfthöhe, um sie wissen zu lassen, dass die Drohung mit dem Messer echt nicht nötig ist und ich diese zur Kenntnis nehme.
„Wir machen jetzt einen kleinen Spaziergang. Du rufst deinen Bruder an und bestellst ihn zu einem neuen Treffpunkt, verstanden?", murrte Melissa, klappt das Springmesser ein und lässt das Messer vorerst in ihrer Jackentasche verschwinden.
Eindringlich blicke ich sie an und lasse einen prüfenden Blick zu Jackson gleiten.
Dieser sitzt nicht mehr in dem Karussell und auch von dem blondhaarigen Muskelberg von Typ fehlt jede Spur.
Fuck.
Nein!
„Geh voran. Keine Sperenzien, Holly. Ein Anruf an Craig und auch du kannst an einem Grab um deinen Sohn trauern. Na hopp!"
Melissa klatscht in die Hand und hält ihr Handy für den Fall der Fälle in der Hand, die andere Hand in der Jackentasche. Vermutlich mit den Springmesser in der Hand.
Nickend drehe ich mich um und bekomme direkt eine Rauchwolke von ekelhaften Zigarettenqualm ins Gesicht gepustet.
Ich gehe weiter und rechnete mit der Psycho-Melissa hinter mir. Es kommt aber anders.
Plötzlich bricht Chaos hinter mir aus. Menschen suchen panisch schreiend und fluchend das Weite. Verwirrt bleibe ich stehen und drehe mich um.
„Chicago PD, lassen Sie das Kind sofort gehen!", herrscht Alvin Melissa mit erhobener Waffe an.
Warte? Was?
Alvin?
Wo kommt er denn jetzt her?
Er steht ihr einige Meter gegenüber, die Dienstwaffe auf Melissa gerichtet.
Was geht hier gerade ab, verflucht?
Wie kann so eine Situation völlig aus den Fugen geraten? Das gibt's doch nicht.
Melissa hat wohl in Panik gehandelt, dass Springmesser gezogen und sich ein ungefähr sechs Jahre altes Kind als Geisel geschnappt.
Sie hielt das weinende Mädchen fest im Arm, während sie die Klinge an den Hals des unschuldigen Kindes hält.
Über und an dem stehenden Karussell entlang, schleichen sich gerade Erin und der dunkelhäutige Neuling der Unit an das Geschehen heran. Kevin. Genau. Kevin.
Ebenfalls mit erhobenen Waffen. Sie scheuchen die anderen Besucher weg, während sie das Drama vor ihnen nicht aus den Augen lassen.
„Holly, geht's dir gut?", ruft Erin mir rüber. Sie wirft einen prüfenden Blick in meine Richtung. Ich bin viel zu sprachlos und kann nur nicken.
Jackson.
Meine Beine bewegen sich automatisch, als ich auf den Absatz kehrt mache und wie eine Irre in Richtung Parkplatz laufe.
Ich halte Ausschau nach den riesigen Craig, nach einem kleinen Jungen in einer himmelblauen Softshelljacke, heller Jeans, weißen Sneakern und einer dünnen hellblauen Mütze auf den Kopf.
Irgendwas an was ich Jackson ausmachen und identifizieren kann. Irgendwas.
Aber je näher ich den Ufer kam, je weiter ich mich von der panischen Menschenmasse mitziehen lasse, desto weniger kann ich die beiden Gesuchten finden.
Ich laufe in irgendjemanden hinein und bis ich realisiert habe, dass die Person gegen den Menschenstrom schwimmt und ebenfalls in mir hineingelaufen ist, lässt mich ein heller Knall durchzucken.
Fürchterlich zucke ich zusammen und versuche mich auf den Beinen zu halten, als die Menschen noch panischer wurden und ohne Rücksicht auf Verluste in langsamere Menschen hinein laufen.
Darunter auch mich. Ich werde von der Menschentraube fast zu Boden gerissen, aber eine Hand legt sich genauso schnell um meinen Oberarm und ich werde aus dem Gefahrenbereich rausgezogen.
Entsetzt blicke ich die Person mir gegenüber an, die mich mehrmals fragt, ob mit mir alles in Ordnung sei.
Antonio. „Die sind an den Typen und Jackson dran, Holly."
„Die?", frage ich panisch und schaue mich wieder um.
Antonio zieht mich noch mehr zur Seite, damit wir nicht noch weiter unnötig im Weg stehen. „Sam, Voight, Jay und Kim. Sie sind dran!"
Ich bin immer noch sichtlich verwirrt und blicke Antonio genauso an. „W-wie?", stammle ich. Ich will doch nur wissen, wieso sie überhaupt hier sind? Woher sie das wissen?
„Jay wurde von dem Kindergarten angerufen. Eine gewisse Mrs Fabray, die ihn panisch aufgeklärt hat. Du hast dich nicht gemeldet, Jay hat dein Handy orten lassen. Jetzt sind wir hier und bringen Jackson wieder nach Hause."
Netterweise legt Antonio mir eine Hand auf die Schulter und versucht mich schweigend zu beruhigen, anstatt mir Fragen zu dem „Wieso? Was mache ich hier?", zu stellen.
Meine Gedanken sind komplett woanders. Kriegen sie den bewaffneten Typen, kriegen sie Jackson ohne einen Kratzer aus der Situation raus? Oder sich selbst? Was wird noch alles auf uns zukommen? Auf mich?
Das alles ist nur meine Schuld! Ich hätte wenigstens Jay anrufen sollen. Scheiße. Wenn Jackson irgendwas passiert, oder den anderen, dann kann ich mir das alles nicht verzeihen.
Ich bin Antonio dankbar, dass er mich aus dem Schussfeld bringt und mich zum Parkplatz begleitet.
Als ich in mein Auto steigen will, blinken die Lichter eines geparkten Autos neben meinem auf.
Antonio öffnet die Tür und setzt sich auf dem Beifahrersitz seines Autos, während er zu mir blickt.
Ich gehe vor meinem Auto auf und ab, höre die Sirenen im Hintergrund und mache mir Sorgen, um alle die mir gerade in dieser Situation helfen- um das kleine unschuldige Mädchen, ja selbst um das ungeborene Baby in Melissas Bauch, dass am meisten nichts für diese Situation kann.
Wie verzweifelt kann man eigentlich sein? Ich würde nicht sagen, dass ich ebenso gehandelt hätte, aber ich hätte mir etwas anderes einfallen lassen.
Mit ihrem Handeln hat sie letztlich alles schlimmer gemacht.
Antonio steht auf und stellt sich neben sein Auto. „Ich weiß, wie du dich fühlst", fängt er ruhig an.
„Hörte von deinem Sohn und Pulpo", werfe ich ein und komme einfach nicht zum stehen bleiben. Ich bin so aufgebracht, so unruhig, dass ich mich bewegen muss. „Tut mir leid, dass das passiert ist... das du das durchmachen musstest und dieser Widerling ist selbst Vater eines Sohnes."
Antonio nickt. „Ja, ich bin dabei es zu verarbeiten. Vergessen werde ich das nie."
„Natürlich nicht."
Seufzend lehnt sich Antonio in sein Auto und holt ein Funkgerät hervor, welches er in der Hand hält. Er blickt zu mir. „Kannst du mir erzählen, was passiert ist?"
„Danach. Ich will erstmal hören, dass mein Sohn in Sicherheit ist", bitte ich ihn und raufe mir verzweifelt das Haar.
Gefühlt sterbe ich gerade tausend Tode. Die Sorge um Jackson... um Jay, frisst mich gerade auf.
Ich bleibe stehen, halte mir die Hände vors Gesicht und kann meine Tränen nicht mehr zurückhalten. „Ich hätte Jay anrufen sollen. Aber wieso soll ich wissen, dass das so eskaliert?", jaule ich.
Auch wenn ich vorhin noch Melissa eine Ohrfeige nach der anderen verpasst hätte, bin ich kurz davor, den ganzen Frust und Ärger an mir auszulassen.
Eine Hand legt sich auf meine Schulter und mit dem nächsten Schniefen, nehme ich ein mir bekanntes Parfüm wahr.
Als ich meine Hand von meinem Gesicht nehme, blicke ich direkt zu meinem Vater hinauf, der mich anblickt. „Hank hat mich angerufen. Was ist passiert?"
Aber ich bin noch immer nicht in der Lage das Geschehene zu erklären. Ich will doch nur meinen Sohn wieder in den Arm nehmen, ihn mit küssen überhäufen, ihn knuddeln, ihn sagen dass ich stolz auf ihn bin und ihn liebe und die Angst, dass ich das nicht mehr tun kann, reißt mir jetzt schon die Füße unter den Boden weg.
Ich bin dankbar das mein Dad mich in den Arm nimmt und mich stützt, sonst wäre ich mit Sicherheit umgekippt.
Das Gefühl von Vermissen steigt in mir auf, als Dad mich umarmt, seine Arme um meinem Rücken schlingt und ich mich an seiner Brust ausheule- so wie damals, als das mit Jay und mir in die Brüche ging, so wie damals, als ich ihn anvertraute, dass ich in einem Gefühlschaos was Kelly und Jay anging, steckte.
Dad streichelt mir über den Rücken, schweigt und ist einfach nur für mich da. Das habe ich ehrlich vermisst.
Die Sekunden zogen sich wie Kaugummi und wir warten noch immer auf irgendein Lebenszeichen derjenigen, die hinter Craig und Jackson her sind.
Antonio lässt den Funk laufen, ich höre, dass eine Fahndung nach einem silbernen alten Mustang mit Kennzeichen aus Michigan ausgeschrieben wurde, das Durcheinander von Polizisten die den Navy Pier absperren, um Spuren zu sichern, ich erkenne Erin's Stimme auf Anhieb, als sie einen Funkspruch los lässt und sagt das die zwei verletzten dem Rettungsdienst übergeben wurden.
„Zwei Verletzte?", frage ich hellhörig und springe von der Ladefläche des Pickups meines Vaters.
Sofort gehe ich zu Antonio, der den Funk zur Seite legt und sein Handy hervorzieht. „Ein Moment", sagt er, tippt auf dem Bildschirm herum und hält sich den Hörer ans Ohr. Er geht auf Abstand zu Dad und mir, um in Ruhe zu telefonieren.
Frustriert seufzend gehe ich wieder zur Ladefläche und will mich gerade wieder drauf setzen, als ein Zivilfahrzeug mit Blaulicht auf den Parkplatz fährt und sich uns nähert.
Sie halten vor uns. Ich erkenne Sam hinterm Steuer, auf dem Beifahrersitz Voight, aber als erstes gehen die hinteren Türen auf. Kim steigt hinter dem Beifahrersitz aus, Jay auf der anderen Seite, er bückt sich ins Auto und zieht Jackson heraus. Lebendig. Quirlig. Sogar lachend. Wie immer.
Ihm geht's gut. Allen geht's gut. „Mommy!", ruft Jackson und läuft auf mich zu und ich laufe ihm sehnsüchtig entgegen, um ihn wohlbehalten in die Arme zu schließen.
Ich kann meine Freudentränen nicht zurückhalten, vergrabe mein Gesicht an seiner Schulter. „Mommy, weint!", stellt Jackson fest und legt seine Arme um meine Schulter herum. „Nicht weinen, Mommy!"
„Ich weine doch nicht", winke ich leise lachend ab. Ich schniefe, als ich Jackson von mir wegdrücke und ihn mustere. Er ist in Ordnung.
Ich wische mir das Gesicht trocken und werfe einen Blick über Jackson's Schulter, sehe Jay, der sich ebenfalls zusammenreißen muss nicht in Tränen auszubrechen, aber in dem Fall ergreift seine innere Heulsuse Besitz von ihm und einige Tränen laufen ihm über das vor Scharm gerötete Gesicht.
Sein Gesicht färbte sich in einen dunklen rot, als Voight ihn anblickt. Ohne ein Wort zu Jay zu sagen, klopft er ihn auf die Schulter und fordert Abel zu einem Gespräch.
Sam lehnt an der Motorhaube und blickt zu Jay und dann zu mir. „Hey, Jackson, wollen wir dann auf die Arbeit deines Dads fahren?"
„Hey, das haben wir ihn doch versprochen!", ertönt Kim und kommt um das Auto herum. „Ich kann dir sogar meinen Dienstwagen zeigen. Ein richtiges Polizeiauto. Nicht so eine Karre."
Jackson dreht sich zu Kim und blickt ihn begeistert an. „Ohja. Isst du auch gerne Donuts?"
Kim lacht. „Ich liebe Donuts. Welche sind deine Lieblingsdonuts, Jackson?"
Ich atme tief durch, als ich aus der Hocke komme und lächelnd zu Jackson blicke, der von all dem Chaos nichts großartig mitbekommen hat.
„Hey!", macht Jay auf sich aufmerksam. Er ist zu mir gekommen, steht vor mir und legt eine Hand auf seine Wange. Seine Augen sind immer noch voller Tränen, die er sich wegwischte. „Lass uns auf die Wache fahren. Deine Aussage und der Scheiß. Dann geht's nach Hause."
Sein Daumen streichelt über meine Wange, dann lehnt er sich nach vorne und drückt mir einen sanften Kuss auf die Stirn.
Er ist nicht wütend auf mich oder enttäuscht, dass ich ihm nicht sofort bescheid gegeben habe, obwohl Jay eigentlich jeden Grund dafür hat.
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