KAPITEL 05
Gähnend kratzte ich mich am Hinterkopf und scheiterte beinahe an dem Versuch nicht vor Langeweile einzuschlafen. Biologie schien im Gegensatz zu den vorherigen Jahren noch uninteressanter geworden zu sein.
Und das, obwohl uns für das Abschlussjahr bessere Themen versprochen worden waren.
Noch dazu kam, dass wir nun einen anderen Lehrer bekommen hatten, da Mrs. Hale über die Sommerferien in den Mutterschutz entlassen wurde. Und dieser neue Lehrer war ziemlich alt. Er versprach sich sehr oft und wirkte zudem ziemlich zerstreut und unorganisiert.
Wenn er nicht so einschläfernd geredet hätte, wäre er mir dennoch vielleicht sogar auf eine seltsame Art und Weise sympathisch gewesen.
Angestrengt kritzelte ich irgendetwas in mein Heft und versuchte so die Zeit totzuschlagen.
Nach einer Weile kniff ich meine Augen zusammen und warf einen Blick auf die Uhr über der Klassenzimmertür. Noch fünf endlose Minuten, bis ich endlich nach Hause gehen, mich in mein Bett werfen und die Welt für diesen Tag ausschalten konnte.
Die Begegnung mit meinem alten Freundeskreis war mehr als bizarr gewesen; mindestens genauso bizarr wie das Aufeinandertreffen mit Louis.
Alles, was wir miteinander ausgetauscht hatten, war lediglich ein gepresstes Hallogewesen.
Der braunhaarige hatte sich stark verändert und ich konnte den Blick seiner starren Augen einfach nicht deuten, als diese zum ersten Mal seit Monaten wieder auf meine trafen.
In der Zeit meiner Abwesenheit musste sich sehr viel geändert haben.
Alleine der Gedanke an den Jungen mit den wunderschönen himmelblauen Augen zauberte mir eine Gänsehaut auf sämtliche Stellen meines Körpers. Ich räusperte mich und ließ den Stift, den ich gerade mit meinen Händen massakrierte, in mein Mäppchen verschwinden.
Noch zwei Minuten.
Louis' Lachen drang von hinten an meine Ohren heran und die Gänsehaut begann sich augenblicklich zu verstärken.
Auf einmal spürte ich etwas Hartes an meinem Hinterkopf und für einen Moment verschwamm die Sicht vor meinen Augen. Verwirrt rieb ich mir die leicht schmerzende Stelle und ließ den Blick zu dem Gegenstand gleiten, der mich gerade unsanft erwischt hatte.
Es handelte sich um einen etwas größeren Radiergummi.
"Entschuldigung, der ist mir beim Radieren aus der Hand gerutscht", hörte ich Louis' Stimme, die einen spöttischen Unterton in sich trug.
Auf seinen Lippen befand sich ein hämisches Grinsen, während er sich bückte, um den geworfenen Gegenstand aufzuheben.
"Kein Problem", murmelte ich und drehte mich schnell wieder von ihm weg.
Irgendetwas war komisch und ich begann mich langsam zu fragen, ob er sich aufgrund des Vorfalls bei dem Fußballspiel, zu dem ich ihn eingeladen hatte, so verhielt. Glaubte er immer noch, dass ich seine Blamage vor dem gesamten Fußballteam und den Zuschauern eingefädelt hatte? Warum hatte niemand die ganze Sache während meiner Abwesenheit aufgeklärt?
Der laute Gong, der die Stunde endlich beendete, riss mich unsanft aus meinen Gedanken.
Mit wenigen Handbewegungen packte ich meine Schulsachen zusammen, schlüpfte in die Jacke und schulterte meine Tasche. Bevor ich jedoch das Gebäude endlich hinter mir lassen konnte, verstaute ich sowohl mein Biologie Heft, als auch das Buch noch im Spind, da ich diese bis übermorgen erst einmal nicht brauchen würde.
Ehe ich mich im Anschluss auf den Weg nach draußen machen konnte, wurde ich mitten auf dem Gang plötzlich angerempelt. Meine Tasche rutschte mir aufgrund der Wucht von der Schulter, wodurch sich meine Bücher und Hefte auf dem Boden verteilten.
Ich fing an zu fluchen und sammelte meine Sachen in einem schnellen Tempo wieder ein.
Als ich anschließend den Blick hob, um denjenigen anzuschauen, der mich geschubst hatte, verbanden sich meine Augen direkt wieder mit denen des braunhaarigen. Auf seinen Lippen kam ein fieses Grinsen zum Vorschein.
Am liebsten hätte ich ihn konfrontiert, doch um uns herum standen viel zu viele Menschen.
Kräftig schluckend huschte ich schließlich ohne ein Wort zu verlieren an ihm vorbei und beeilte mich die Schule zu verlassen.
Auf dem Fahrrad bemerkte ich schließlich die Tränen, welche sich zunehmend in meinen Augenwinkeln bildeten. Mit einem dicken Kloß im Hals, der mir das Schlucken um einiges erschwerte, trat ich in die Pedale. Statt nach Hause zu fahren und dort von meiner Mutter über den Schultag verhört zu werden, entschied ich mich lieber dazu, den gemeinsamen Lieblingsort von meiner Schwester und mir aufzusuchen.
Denn ich musste jetzt alleine sein.
Alleine sein und gegen mich selbst ankämpfen, damit ich mich von Louis' blödem Verhalten nicht niederschmettern ließ. Unter anderen Umständen wäre mir das nicht sonderlich schwergefallen, aber nach dem Selbstmord meiner Zwillingsschwester war nichts mehr so wie vorher.
Es dauerte eine Weile bis ich an der alten und bemoosten Brücke angekommen war, welche von dem riesigen Wald umschlossen wurde. Ich ließ das Fahrrad und meine Tasche herzlos auf den feuchten Boden fallen, schwang ein Bein über die Brüstung und hielt mich gleichzeitig an dieser fest, damit ich mich gefahrlos hinsetzen konnte.
Meine Beine baumelten über dem tiefen Abgrund und ich konzentrierte mich auf das angenehme Plätschern des Wasserfalls, welches schon immer eine beruhigende Wirkung auf mich gehabt hatte.
Mit den Augen scannte ich aufmerksam meine Umgebung ab.
Die unzähligen Bäume ragten bedrohlich empor, während sich ein mit Gras bewachsener Kiesweg durch diese hindurch schlängelte. In der Ferne hörte ich ein paar Vögel zwitschern, die warmen Sonnenstrahlen tauchten alles in ein goldenes Licht.
Emma hatte die alte Brücke vor langer Zeit entdeckt.
Sie war damals noch ziemlich jung gewesen und wegen eines größeren Streites unserer Eltern davon gelaufen. Ich war meiner kleinen Schwester natürlich gefolgt, da es schon gedämmert hatte und ich sie nicht alleine durch die Dunkelheit streifen lassen wollte.
Und dann waren wir geradewegs auf die Brücke gestoßen.
Seitdem war dieser Ort immer eine Art Zuflucht für uns beide gewesen, so nun auch jetzt.
Ein seltsames Gefühl breitete sich in meiner Magengegend aus. Zwar spürte ich die Nähe meiner Schwester an diesem Ort besonders, dennoch fühlte ich mich gleichzeitig so alleine gelassen. Es war einfach komisch ohne Emma auf der Brüstung dieser Brücke zu sitzen, die Beine über der Schlucht baumeln zu lassen und über den Sinn des Lebens zu philosophieren.
Dem Abgrund so nahe zu sein, hatte uns immer einen besonderen Kick gegeben; es fühlte wie eine Gratwanderung zwischen Leben und Tod an.
Die kühle Luft, die von dem klaren Wasser ausging, welches sich mehrere Meter unter mir befand, schien meinen Körper allmählich in sich zu verschlingen.
Und dann wurde die angenehme Stille von einem jähen Klingeln unterbrochen.
Seufzend schwang ich beide Beine zurück über die Brüstung und ließ mich im Anschluss von dieser hinuntergleiten, um meine Tasche aufzumachen und nach meinem Handy zu suchen, dessen Klingelton mir nach und nach immer mehr auf die Nerven ging.
Der Name meiner Mutter blinkte auf dem Display auf.
Ich überlegte einen kurzen Moment, bevor ich auf Annehmen drückte. "Ja?"
"Wo bist du? Ist alles in Ordnung?", verlangte meine Mutter in einem besorgten Ton zu erfahren.
"Ich... I-ich bin mit ein paar alten Freunden unterwegs", antwortete ich stockend und biss mir im Anschluss auf die Lippe.
"Wie lange wirst du noch weg sein? Damit ich weiß auf welche Uhrzeit ich das Essen vorbereiten muss."
"Ich werde mich demnächst auf den Heimweg machen."
"Okay, dann richte ich das Essen so, dass es in einer Stunde fertig ist."
"Okay."
"Und Harry? Beim nächsten Mal schreibst du mir bitte eine Nachricht, wenn du später nach Hause kommst, in Ordnung?"
"In Ordnung. Bis dann", verabschiedete ich mich mit einem leichten Zittern in der Stimme und legte schnell auf.
Die nächsten zwanzig Minuten verbrachte ich mit geschlossenen Augen im Liegen auf der Brüstung.
Das Moos stellte einen guten Kissenersatz dar und die steinerne Brüstung war gerade so breit, dass ich mich ohne Probleme in einer entspannten Position hinlegen konnte.
Viele Gedanken schwirrten durch meinen Kopf, während ich an diesem Ort lag und ab und zu blinzelte, nur, um den blauen Himmel ins Auge zu fassen.
Mittlerweile hatten sich ein paar Wolken gebildet, weswegen ich letztendlich beschloss, mich langsam auf den Weg nach Hause zu begeben.
Außerdem würde es sowieso bald Essen geben und ich wollte meine Mutter nicht unnötig warten lassen.
Zirka eine viertel Stunde später war ich wieder in der Zivilisation angekommen. Auf den Straßen tummelten sich viele Menschen, die alle das schöne Wetter ausnutzen wollten. Auf einem Spielplatz in der Nähe unseres Hauses lieferten sich zwei kleine Kinder eine Sandschlacht in dem Sandkasten, in dem Emma und ich schon miteinander gespielt hatten.
Ich wandte den Blick ab und versuchte mich auf die Straße zu konzentrieren.
In unserer Straße angekommen, steuerte ich geradewegs auf unsere Garage zu, in der ich mein Fahrrad abstellte. Danach stolperte ich auf die Haustür zu, welche ich mit meinem Schlüssel aufschloss.
Drinnen empfing mich ein verführerischer Duft.
Ich trat mir die Schuhe von den Füßen und zog meine Jacke aus, ehe ich nach oben in mein Zimmer ging, um meine Schulsachen dort abzustellen und mich auf mein Bett fallen zu lassen.
Es dauerte nicht lange, bis meine Mutter in der Türschwelle stand.
"Hallo mein Schatz. Wie war dein Tag?"
Ich richtete mich langsam auf, damit ich sie ansehen konnte, vermied jedoch den Blickkontakt. "Ganz gut. Die Jungs sind froh gewesen, dass ich wieder da war." Meine Mutter nickte und sah mich abwartend an. "Der Schulstoff ist noch langweiliger geworden und unser neuer Bio-Lehrer ist auch mehr als einschläfernd", erzählte ich weiter und ließ mich wieder nach hinten fallen.
"Also ist alles gut?", hakte sie nach.
"Ja", meinte ich und verdrehte kaum merklich die Augen. Bemerkte sie denn nicht, dass ich meine Ruhe haben wollte?
"Ich habe dir übrigens etwas gekauft, dass dir vielleicht im Alltag behilflich sein könnte. Falls du mal wieder traurig bist und mit niemandem reden kannst oder möchtest."
Ich rappelte mich wieder auf und diesmal war ich es, der sie abwartend anblickte.
Meine Mutter zog hinter ihrem Rücken ein kleines Buch hervor, kam auf mich zu und legte es behutsam auf meinem Schoß ab. Verdutzt blickte ich auf meine Beine hinab, nahm das Büchlein zwischen die Finger und begann zu blättern. Die Seiten waren alle leer.
"Ist das ein Tagebuch?", schmunzelte ich und raufte mir die Haare.
"Ich weiß... Jungs schreiben eigentlich keine Tagebücher. Aber ich dachte, dass dir das vielleicht helfen könnte. Du musst es natürlich nicht benutzen, wenn du nicht möchtest. Es ist nur ein Vorschlag. Aber bitte überlege es dir", sagte sie.
"Das Essen ist übrigens in zehn Minuten fertig", fügte meine Mutter noch hinzu, schenkte mir ein aufmunterndes Lächeln und ließ mich dann alleine.
Ich blickte auf das Tagebuch hinab und musterte es so, als würde es aus einer anderen Welt stammen. "Das darf doch nicht wahr sein", grummelte ich leise vor mich hin, legte das Buch bei Seite und presste mir anschließend eines meiner Kissen ins Gesicht.
Emma hätte mich in diesem Moment vermutlich ausgelacht.
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