11. Brief
Liebe Cornelia
Schon wieder habe ich mich in der Schleife des vollen Lebens verloren... Und Du musstest Dich wieder gedulden! Es tut mir so leid, dass Du dir solche Sorgen machen musstest!
Aber mir geht's gut, keine Sorge. Naja, es fühlt sich immer noch falsch an zu schreiben, es gehe mir gut. Aber langsam bin ich wirklich fast an diesem Punkt angelangt! Und das verdanke ich Dir! Nur Dir! Du warst und bist einfach wie eine Sonne, die plötzlich in meinem regnerischen Leben aufgetaucht ist und einen wunderbaren Regenbogen hinterlassen hat! Er hat zwar noch einige Risse, doch es sind schon alle Farben da. Sie erleuchten meinen Himmel.
Danke Cornelia. Es bedeutet mir so viel, zu hören, dass Du mich so schätzt, wie ich bin.
Oh ja, vielleicht bin ich das. Eine Künstlerin. Ich würde es so gerne glauben! Im Moment sind Leonardo und ich wirklich wie ein glücklich verliebtes Traumpaar, Cornelia! Er tut mir irgendwie einfach gut. Jedes Mal, wenn ich ein neues Werk von ihm sehe, wird er mir symphatischer. Die Gefühle, die er auf eine leere Leinwand bringt, machen das Bild fast schöner als die Farben. Ich erkenne so viel von Leonardo in ihnen wieder.
Die Vorstellung, dass er mich mit meinem Cello malt, ist wirklich wunderbar. In manchen Momenten glaube ich wirklich fest daran, dass es einmal so sein wird! Aber irgendwie habe ich seit damals, als mir mein Vater mein geliebtes Instrument weggenommen hat, den Optimismus verloren. Zumindest was mein Cello angeht. Irgendwie ist er damals mit dem Holz im Kamin verbrannt. Nicht einmal mehr die Asche ist übriggeblieben. Aber kann Asche vielleicht nicht wieder zum Leben erweckt werden?
Ich kann also sehr gut nachvollziehen, dass Dein Optimismus noch nicht ganz da ist. Aber man muss sich gedulden. Und ich weiss so gut, dass es hart ist. Das alles. Man sieht wie sich die Baumblätter langsam rot färben. Wie sich ihre saftig grüne Farbe in dem trostlosen Braun verliert. Dass der Herbst farbiger als jede andere Jahreszeit ist, sieht man nicht. Da ist nur das Triste.
Dann kommt der Winter. Man friert, und das nicht nur körperlich. Das Gefühl, aus diesem Irrsinn nicht mehr rauszukommen, steigert sich ins Unermessliche. Die Leute feiern Weihnachten und sind fröhlich. Doch selbst sitzt man nur da, und versucht, die beklemmende Leere in sich zu ignorieren.
Letzten Winter habe ich tagelang an meinem Fenster gesessen und in die Winterluft gestarrt. Ich bin nicht mal aufgestanden, um mir einen Tee zu machen. Ab und zu habe ich mit meinen Fingernägeln in den weichen Holztisch, an dem ich jetzt auch sitze, geritzt. Die Kreuze und undefinierbaren Linien werden wohl nie mehr verschwinden. Sie bleiben, als Erinnerung an meinen kältesten Winter.
Wenn der Frühling kommt, können nicht mal die sich öffnenden Blüten und die zwitschernden Vögel die Stimmung auflockern. Klar, man versucht es. Irgendwie sollte einem das Wetter doch anstecken.
Aber man hält es, bis der Herbst wieder kommt, nicht eine Sekunde aus, die Kinder draussen spielen zu sehen. Die Welt um einen herum scheint so glücklich. Ist so glücklich. Doch man selbst ist wie in einer Blase, aus der man einfach nicht mehr herauskommt.
Und dann wiederholt sich das Ganze. Der Kreis dreht sich und Du kannst nur zuschauen, wie aus Herbst Winter, aus Winter Frühling und aus Frühling Sommer wird.
Die Kunst ist, über die vier Jahreszeiten hinauszublicken. In meiner Vorstellung existiert eine Fünfte. Ich nenne sie „Klänge". Und mit ihr schaffe ich es immer mehr, mein Selbstmitleid und meine Trauer zu vergessen. Die fünfte Jahreszeit ist keineswegs blumig und sonnig, nein. Sie ist kalt wie der Winter, trostlos wie der Herbst, zu fröhlich wie der Frühling und kaum auszuhaltend wie der Sommer. Aber diese fünfte Jahreszeit, ein Gemisch, das nur in meinem Kopf existiert, verhilft mir wirklich zu einem besseren Leben. Aber so wie das Leben, ist auch diese Jahreszeit nicht perfekt. Das habe ich lange gedacht. Und mich dabei immer so verbissen gefragt, warum meins nicht so ist. Warum es da immer noch dieses Problem und diese Unsicherheit gibt. Doch mittlerweile sehe ich mein Leben ziemlich genau wie „Klänge". Bis in die Ewigkeit unperfekt. Aber das ist vielleicht gar nichts Negatives.
Klar erinnere ich mich an den Vollmond, der für uns scheint! Wie könnte ich jemals etwas, das uns beide so innig verbindet, vergessen?
Deine Worte sind schöner als jene Vollmondstrahlen. Und ich bin ganz sicher, dass Du eine Poetin bist, auch wenn Du das nicht ganz so siehst. Denn wer bringt mich und mein Herz zum Leuchten und Erstrahlen, wenn ich wieder einmal die Tränen runterschlucke? Ja, Cornelia, Du. Man merkt, dass Worte Deine Zauberdinge sind. Zum Glück musstest Du sie bei mir noch nie als Waffen verwenden! Aber ich kann mir gut vorstellen, dass die Worte in Deinem jahrelangen Kampf gegen Deinen Vater und die Welt sehr von Nützen sind.
Du musst mir nicht danken. Wirklich. Wenn ich Dir schreibe, Dir mein Herz ausschütte und Dir versuche, Hoffnung zu geben, ist das für mich ebenfalls wie Heilsalbe auf eine tief aufgerissene Wunde. Ich lerne mit jedem Brief mehr dazu. Und ich beginne, mein ganzes Dasein zu reflektieren. Zu sehen, was ich für Fehler gemacht habe und wem ich unnötig Energie geschenkt habe, indem ich wütend und traurig wurde. Leute, die mir gestohlen bleiben können und die ich nicht verdiene! Und deshalb sollte ich Dir danken!
Oh ja. Das Bild der regentanzenden Lucy ist wundervoll. Und weisst Du was? Manchmal, wenn ich in einer guten Phase bin und die grünen Bäume anstarre, beginnt mein Herz freudig zu hüpfen. Wie damals, als ich freudestrahlend in den Wald gerannt bin. Wie damals, als das kleine Mädchen in mir noch komplett überhand zur Erwachsenen hatte.
Diese Momente machen mir wirklich Hoffnung. Denn durch sie weiss ich, dass die kleine Lucy noch nicht gestorben ist. Und dass sie es vielleicht nie sein wird. Dass auch Du sie siehst, lässt mein Herz kurz zu einem leuchtenden Glühwürmchen werden. Ganz warm und wohlig.
Kindlicher Optimismus töricht? Ganz und gar nicht, liebe Cornelia. Sagt denn nicht gerade die Fröhlichkeit, die damals so viel präsenter war als jetzt, aus, dass kindlicher Optimismus alles andere als töricht ist? Wenn Du mich fragst kann man es mit Kuchen vergleichen. Ein voller Kuchen strahlt in seiner vollen Pracht. Ein voller Kuchen schert sich nicht um andere, die denken, er sei nicht gut genug. Genau so wie ein Kind, das ohne Hemmungen das tut, was es will.
Doch je mehr man vom Kuchen isst, je kleiner er wird, desto mehr verliert man das Selbstvertrauen und die Selbstliebe. Ein mickriger Kuchen sieht nicht mehr, wie schön er ist. Für ihn ist da nur noch die Zeit, in der er schön und prächtig war. Und er weiss, dass es nie mehr so sein wird.
Deshalb, liebe Cornelia, ist kindlicher Optimismus alles andere als töricht. Denn wenn wir wirklich an ihn glauben, sieht die Welt gleich anders aus. Aber daran zu glauben ist genauso schwierig, wie den Schmerz meines Cello zu vergessen.
Eines kann ich Dir aber mit Sicherheit sagen. Wenn Dich Dein Gatte liebt, Dich mit Rosen und anderem Schnick-Schnack beschenkt, Dich mit solcher Zärtlichkeit berührt, dass Du beinahe schmilzt, Dich respektiert, obwohl Du eine Frau bist, Dich Deine Träume leben lässt, Dich durchs Leben begleitet, Du sein Ein und Alles bist, er seine Augen nicht mehr von Dir wenden kann wenn Du morgens Deine Haare machst, Dir mit einem Leuchten in die Augen schaut und Du dabei spürst, dass alles gut wird und er Dir mindestens zweimal am Tag sagt, wie sehr er Dich liebt und wie sehr er bis ans Lebensende mit Dir zusammenbleiben will, weil Du seine Sternschnuppe am Nachthimmel bist, dann meine liebe Cornelia, spürst Du, wie der Geist der Kindheit in deinem Herzen zum Leben erweckt wird. Der kindliche Optimismus ist plötzlich da. Stärker als je zuvor. Und da bezweifle ich nicht einmal, dass ich je wieder Cello spielen werde. Ich glaube, dass Leonardo mir meinen Traum verwirklichen kann.
Wenn Du mich fragst, sehe ich Dich in baldiger Zeit hinter Deinem Cello sitzen und musizieren. Ich sehe Dich glücklich verheiratet. Gücklich!
Denn bisher teilen wir dasselbe Schicksal. Wieso sollte das sich, nur weil jetzt endlich wieder Positives kommt, ändern?
Vergiss nie, dass wir Nacht für Nacht den gleichen Mond betrachten.
Du gibst mir so viel Liebe zurück, wie ich es bisher noch nie bekommen habe.
Ich danke Dir so unglaublich fest.
Und hier noch eine kleine, aber unendlich wichtige Anmerkung: Leonardo weiss von Dir. Ich habe ihm alles erzählt. Sogar die Geschichte meines Cellos. Und ich konnte ihn davon überzeugen, dass wir uns sehen können! Ich kann mich einfach nicht halten vor Freude und MUSS deshalb einen konkreten Zeitvorschlag machen! Leonardo und ich reisen am 19. August an. Wie wäre es, wenn wir uns am 20. treffen? Am Abend fände ich schön. Ich kenne mich in Berlin leider nicht sehr gut aus, deshalb musst Du einen Ort vorschlagen!
In Liebe und freudig nach vorne blickend,
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