39
Jay
Noch am selben Tag, hielt Holly vor dem Haus, in dem ich aufgewachsen war, in dem ich schöne Dinge und nicht so schöne Dinge erlebte.
Ich starrte aus dem Fenster in Richtung Haustüre und schüttelte den Kopf.
Äußerlich sah das Haus noch schrecklicher aus, als beim letzten Mal, wo ich hier war.
Mich graute es schon, vor dem Inneren- wenn ich überhaupt rein kam.
Ich fuhr zusammen, als Holly meinen Unterarm anfasste. „Wir können auch wieder fahren, wenn du dir es anders überlegt hast."
Ich blickte sie an und seufzte.
„Nein, ich zieh das eben durch", sagte ich zuversichtlich. Ich atmete noch mal tief durch und schnallte mich dabei ab. „Wartest du eben hier?"
Holly nickte. Ich lehnte mich zu ihr rüber und drückte ihr einen Kuss auf den Mund, dann stieg ich aus und steuerte die kleine Veranda an. Sofort klopfte ich mehrmals grob gegen die Tür und wartete vergeblich, dass jemand öffnete.
Ich klopfte noch mal an und noch mal, ließ es dann aber auch sein und ging zurück zum Auto. „Du bist aber groß geworden", bemerkte eine zitternde Stimme. Ich blieb am Auto stehen und wandte mich zu Elizabeth McNelli, eine ältere Frau, die schon seit Jahrzehnten in ihrem Alter festhing und nicht klein zukriegen war.
Für mich war sie eine der nettesten Älteren in unserer Straße. Ich ging damals mit ihrem blinden Dackel raus, verdiente mir so ein paar Mäuse, die ich für Lego und Süßigkeiten ausgab, später für kleine Geschenke an Holly, oder sie kaufte mir alle Schokoladentafeln ab, damit mein Fußballverein neue Trikots für uns kaufen konnte. „Mrs McNelli, Sie sind ja nicht nicht kleinzukriegen", bemerkte ich freudig.
„Na, die in der Hölle haben doch schon einen Anführer, also bleib ich noch eine Weile hier. Meine Güte die Zeit rast aber auch."
„War schon mal vor ein paar Jahren wieder da, lebte bei meinem Dad."
„Davon hörte ich, ich war aber im Krankenhaus, dann in der Reha und dann bei meinem Freund in Evanston. Die neue Hüfte musste eingearbeitet werden."
„Oh wow", bemerkte ich lachend.
Viel zu viele Informationen!
„Sie sind doch jetzt alt genug für diese Wortwahl, also, reißen Sie sich zusammen."
Ich nickte nur.
„Wo waren Sie denn gewesen? Ich rede ja nicht mit Ihrem Dad- mag Ihn immer noch nicht."
„Ich war nach dem Tod meiner Mom in der Army, und bin jetzt bei der Polizei."
„Schön, dass aus Ihnen etwas geworden ist. Hier in Chicago?"
Ich nickte. „Hier in Chicago."
„Gott, bin ich alt. Wie alt sind Sie?"
„Ich werde dieses Jahr fünfundzwanzig."
„Ach du meine Güte! Die Zeit verfliegt aber auch. Ich weiß noch, wie Ihr Bruder auf die Straße gestürmt ist, weil Ihre Mutter mit Ihnen aus dem Krankenhaus kam. Sie waren so klein und zierlich und ehe man sich versieht, setzen Sie noch die nächste Generation auf die Welt."
Ich schnaubte belustigt und verzog die Lippen zu einem Grinsen. „Da bin ich gerade mitten drinnen."
„Na hör mal, sind Sie schon verheiratet?"
„Nein, noch nicht, aber kommt bestimmt noch. Aber ein Kind ist unterwegs."
„Herzlichen Glückwunsch", bemerkte McNelli freudig, stellte die Bremse ihres Rollators ein und setzte sich auf die Sitzfläche. „Hab schon gedacht, Sie kommen nie über die hübsche Polizistentochter hinweg." Ich erinnerte mich daran, wie ich mich bei McNelli über die Trennung von Holly ausgeheult hatte. „Holly."
„Richtig, Holly. Ehrlich gesagt, bin ich das auch nie."
„Und obwohl Sie an Ihrer Jugendliebe hängen, setzen Sie mit einer anderen Frau ein Kind auf die Welt? Sind Sie zu Blöd zum Kämpfen? Hab ich nicht gesagt, bleiben sie dran?"
„Nun, wenn es sich dabei immer noch um die Jugendliebe handelt, ist das auch wieder was anderes." McNelli schaute mich entgeistert an. „Ich rede von Holly, Mrs McNelli."
„Hab's doch geahnt, dass ihr beiden einfach füreinander bestimmt seid."
Ich nickte. „Glaub das auch noch nicht alles." Dann wechselte ich das Thema. „Wissen Sie ob mein Dad da ist, oder mein Bruder?"
McNelli verzog das Gesicht. „Seh ich aus, wie die Stasi?"
„Die was?"
Sie verdrehte die Augen. „Na, ist auch egal. Seh ich aus wie ein Wachhund?"
„Sie haben immer alles im Blick, deshalb frage ich nach."
McNelli nickte. „Stimmt, stimmt", bemerkte sie. „Ihr Dad verlässt jeden Morgen um Punkt sieben Uhr das Haus und geht zur Arbeit."
Warte. Arbeit? Dad war doch arbeitslos gewesen.
„Hat er wieder etwas gefunden?"
Sie nickte. „Ja, hab gehört, dass der Gilbert Ihren Vater bei sich in der Firma untergebracht hat. Gas, Wasser, Scheiße..."
„Klempner, also?"
„Genau, sag ich ja, Gas, Wasser, Scheiße. Mittags, gegen zwei Uhr kommt ihr Vater wieder. Später kommen die Suffbirnen aus Kellys Tavern zu ihn, oder er geht dort hin."
„Okay, und jetzt ist er nicht da?"
„Wir müssten Mittag haben, gehe nämlich nach dem Essen immer eine Runde spazieren. Ihr Vater ist definitiv dort."
„Dann versuch ich das mal da", bemerkte ich. „Aber meinen Bruder haben Sie hier die Tage nicht gesehen?"
„Gestern früh, da stand er vor verschlossener Tür. Er war ziemlich erstaunt, dass Ihr Vater wieder arbeitet. Seitdem hab ich den hier nicht mehr gesehen." McNelli hatte mir anscheinend genügend Informationen gegeben und rutschte ungeduldig auf den Sitz ihres Rollators hin und her. „Mein Mittagessen drückt schon ganz unbequem und da ich nicht mehr die Jüngste bin...", bemerkte sie und stand auf.
Ich hatte ganz vergessen, wie direkt McNelli sein konnte. „Keine Lust mir in die Hosen zu Scheißen. Apropos Scheißen!" Sie blickte zu mir. „Sie kriegen doch bestimmt einen Sohn, oder?"
„Bekommen wir tatsächlich."
„Sag ich doch", murmelte sie. „Dann gebe ich Ihnen einen Rat und ich bin mir sicher, als Bulle... Entschuldigung... Officer ist Ihnen das doppelt und dreifach bewusst..." Sie räusperte sich. „Halten Sie Ihrem Sohn vom Blaulicht fern."
Ich schmunzelte. „Klar."
„Wärs ein Mädchen geworden, hätte ich gesagt, dass Sie sie vom Rotlicht fernhalten sollten. Aber Sie haben Glück, Jay, Sie und Ihre Frau müssen sich nur um einen Penis sorgen. Mach's gut, nech."
Sie klopfte mir auf die Schulter und drehte sich um.
„Mach's besser", erwiderte ich.
McNelli lachte nur. „Deshalb mag ich dich mehr, als deinen Bruder!", rief sie, ging über die Straße und zu ihrem Haus.
Ich setzte mich zurück ins Auto. „McNelli lebt immer noch?", fragte Holly erstaunt und schaute der alten Frau hinterher.
Ich schnallte mich an. „Ja, die große Klappe hat sie immer noch. Erinnern tut sie sich auch noch und sie wünscht uns beiden alles Gute."
„Hm", machte Holly. „Und sie ist ganz allein?"
Ich seufzte. „Sie meint, sie hat einen Freund und eine Schwester. Ich hab auch schon gedacht, dass sie nicht mehr ist. Ganz schön hartnäckig die kleine Dame. Sie meinte sogar, dass wir einen Jungen kriegen."
„Ich sag doch, die Frau kann in die Zukunft sehen."
„Fängst du schon wieder damit an?", lachte ich und dachte nach.
Irgendwie traf Holly mit ihrer Aussage einen Punkt in mir.
Damals, als ich bei McNelli saß und ihr mein Leid über die Trennung klagte, meinte sie, dass was auch wirklich zusammenpasst, kommt, früher, oder später, auch wieder zusammen.
„Ihr beiden, werdet wieder zueinander finden, nicht morgen, oder in ein paar Monaten, sondern dann, wenn ihr beiden reif genug dafür seid. In ein paar Jahren, vielleicht. Dann kommt alles schnell auf schnell. Es wird perfekt."
„Was?", fragte Holly irritiert.
„Hat sie damals gesagt. Sie hat mir zugehört, als es mir wegen dir schlecht ging."
Holly schnitt eine Grimasse. „Das letzte mal, als ich mich mit McNelli unterhalten habe, meinte sie, dass ich, nicht so schnell aufgeben sollte."
„Trotzdem hast du's."
„Nur um mich selbst zu schützen, deine plötzlich viel zu direkte Art mir gegenüber waren nicht nur Grund genug."
„Wir beide, haben schon darüber geredet und uns ausgesprochen, wir sollten das nicht noch mal durchkauen. Jetzt zählt das was auf uns zu kommt und nichts was zwischen uns gewesen war."
„Stimmt."
„Obwohl es einige Dinge in der Vergangenheit gibt, die ich gerne in Erinnerung behalte."
„Ich auch. Wohin soll ich?"
„Kelly's Tavern. Mein Dad ist vermutlich da. Dann reib ich den unter die Nase, dass ich Vater werde und mit Will... ach, keine Ahnung."
„Ich bin Chauffeur, ich nur fahren...", sagte Holly mit einem schlecht indischen Akzent und parkte aus. Ich musste nur lachen.
Letztlich bat ich Holly doch mit in die Kneipe zu kommen, aber sie winkte ab, weil sie keine Lust auf den ganzen Zigarettenqualm hatte.
Also wartete sie wieder im Auto und ich betrat nach etlichen Monaten Kelly's Tavern.
Es war voll, Kelly, die Besitzerin, blickte mich an und freute sich riesig, dass ich meinen Arsch mal wieder in die Bar bewegte. Sofort kam sie auf Hollys Schwangerschaft zu sprechen, beglückwünschte mich. „Richte Holly liebe Grüße aus", sagte Kelly und deutete auf dem hintersten Tisch. Ich folgte ihrem Blick.
Na so was.
Zwei Fliegen mit einer Klappe, dachte ich mir und ging direkt zu dem Tisch, an dem Dad mit Will eine Runde Karten spielte.
Ohne ein Wort, griff ich nach einem Stuhl vom leeren Nebentisch, stellte den an den Tisch, und setzte mich hin.
Dad und Will blickten mich an, als hätte ich mich irgendwas merkwürdiges im Gesicht kleben. „Hast du dich verlaufen?", fragte Dad. Er klang nicht mal ansatzweise genervt, griff nach den Karten und mischte diese, während Will mich nicht aus den Augen ließ.
„Seit wann bist du wieder in Chicago?", fragte ich dann.
„Seit zwei Tagen, aber nicht vorübergehend. Hab Urlaub."
„Bist du jetzt ein Arzt geworden, oder hast du das doch sein gelassen?"
„Ich bin Arzt, genaugenommen, arbeite ich als Chirurg, schnibbel an den Schönen und Reichen herum."
„Aha."
„Ja. Aha", kommentierte mein Bruder. „Dad meinte, du warst in der Army."
„Ja, war, bin mittlerweile bei der Polizei."
„Bist du in eine Schlägerei geraten?"
„Das ist während meiner Arbeit passiert. Ich will aber nicht, über die Arbeit, oder mich reden..."
„Erstmal bist du das Thema, Jay", warf Will sofort ein. „Hättest du uns es jemals gesagt, dass du Vater wirst?"
Will schaute mich recht enttäuscht an. Dad ebenfalls. „Warum mussten wir das über tausend Ecken erfahren?", wollte nun auch Dad wissen.
„Komm jetzt nicht so", fauchte ich in Will's Richtung. „Du hast dich verpisst, hast mich im Stich gelassen, weil du ein gottverdammter Egoist bist." Ich wandte mich zu Dad. „Du genauso. Ich war da, als Mom eingeschlafen ist." Dann wieder zu Will. „Du Wichser hast dein Versprechen gebrochen..."
Ich war so laut geworden, dass ich gar nicht bemerkte, dass Kelly zu uns an den Tisch kam und mir sagte, dass ich runterkommen sollte.
„Das ist mir zu blöd..."
Ich stand auf.
„Ich will mich versöhnen", sagte Will.
„Schön, ich aber nicht."
„Ich weiß, dass mein Verhalten nicht zu entschuldigen ist, Jay, aber, wir sind immer noch Brüder und ich würde dir gerne die Dinge aus meiner Sicht erklären. Sagen wir es so, in deinem Wortlaut: mich hat der Blitz beim Scheißen getroffen, weshalb ich diesen Schritt gehe. Ich hoffe, du hörst mir zu, versuchst mich zu verstehen."
„Versteht ihr mich denn nicht?", fragte ich.
„Wir müssen dich immer verstehen, Jay", bemerkte Dad. „Jetzt bist du mal an der Reihe deinen Bruder zu verstehen. Komm zur Vernunft."
„Ich soll zur Vernunft kommen? Ich? Hast du Lack gesoffen? Ich hab mich um Mom gekümmert, während sie im Sterben lag. Dieser verfickte Egoist hat sich verpisst..."
Ich stand vom Stuhl auf, weil ich kurz davor war diesen Stuhl durch die ganze Kneipe zu schmeißen. Keine Ahnung warum die beiden mich immer noch so unerträglich wütend machten. „Hey!"
Ich blickte neben mir und sah Holly neben mir stehen. Kelly tätschelte ihr die Schulter und ließ uns allein.
Mir wurde klar, dass Kelly Holly geholt haben musste, weil bei mir Hitzkopf sämtliche Sicherungen durchbrannten.
Ich atmete tief durch, versuchte mein vor Wut wild pochendes Herz runterzufahren.
„Kannst du ihn mal zur Vernunft bringen?", fragte Dad an Holly gewandt.
Sie schmiss ihre Tasche neben Will auf die Sitzbank. „Du setzt dich mit deinem Arsch auf den Stuhl."
Sie drückte mich an den Schultern mit einer Kraft, die ich ihr beim besten Willen nicht zugetraut hatte, auf den Stuhl zurück. „Du Hornochse rückst ein Stück!"
„Was!?", fragte Will irritiert.
„Bist du taub? Rück durch, damit ich mich zwischen euch beiden setzen kann!"
Sie schlug Will auf den Hinterkopf. „Mein Gott, ist gut, komm runter", fluchte Will und rutschte runter. Holly setzte sich auf den Platz.
„Jeder von euch Sturköpfen hat fünf Minuten. Kotzt euch aus, beleidigt euch, haut euch aufs Maul. Was checkt ihr hirnlosen Vollidioten nicht, dass ihr immer noch eine Familie seid?"
„Sind wir das?", schnaubte ich.
Hollys Blick fixierte mein Gesicht. „Würdest du jetzt hier sitzen, wenn dir die beiden egal wären?"
Ich starrte sie an und wusste nicht, was ich sagen sollte, sondern presste nur die Lippen aufeinander. Dieser Satz, traf irgendwas in mir. Keine Ahnung, was das zu bedeuten hatte.
Holly legte ihr Handy auf den Tisch. „Wenn die Stoppuhr läuft fängt Will an. Kotz dich aus, erklär dich. Du..." Holly zeigte auf mich. „Du hältst dich die fünf Minuten zurück, hältst den Mund und haust nicht ab, klar?"
Mir passte es gerade gar nicht wie Holly mit mir redete, aber vermutlich wusste sie sich nicht anders zu helfen und jetzt auch noch sie dumm anmachen, wäre absolut daneben.
Sie wollte doch nur helfen. Mir, Will, meinem Dad. „Habt ihr Butterbirnen das alle verstanden?"
Will nickte.
„Ja", murrte ich.
„Steckt dir der Ohrenschmalz viel zu tief im Ohr, oder warum sagst du nichts?", fuhr Holly meinen Dad an.
„Hab's klar und deutlich verstanden", nickte mein Dad und trank von seinem Bier. „Reg dich nicht immer so schnell auf, Holly!"
„Ich bin noch tiefenentspannt!"
Dad, Will und ich blickten zu ihr. „Sicher?"
Holly warf Will einen warnenden Blick zu und er zog seinen Kopf ein. „Der Abstand zwischen uns ist nicht so groß, Will..."
„Hab's verstanden. Also, Holly Switzerland, fangen wir heute noch an?"
„Fünf Minuten", sagte Holly und schaute mich noch mal ermahnend an. Ich sollte mich zurückhalten, egal, was Will von sich gab.
Das würde kein bisschen einfach werden, da die Wut in mir, fast am hochkochen war.
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