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Die Sonne war noch nicht aufgegangen, als Lily am nächsten Morgen erwachte. Doch anstatt sich noch einmal umzudrehen und weiter zu schlafen, schälte sie sich aus ihrer Bettdecke. Sie hatte sich fest vorgenommen bei Sev vorbeizuschauen, auch wenn sie dafür jetzt ihr warmes Bett verlassen musste. Es war etwas ganz anderes in seinem Unterricht zu sitzen, als wenn sie alleine mit ihm sprach.
Metis folgte ihr durch das Portraitloch und leistete ihr auf den leeren Korridoren Gesellschaft. Bestimmt vermisste sie den einsamen Lichtkorridor genauso wie sie selbst. Zwar war Lily durchaus der Meinung, dass sie es mit ihren Zimmergenossinnen wesentlich schlimmer hatte treffen können, dennoch empfand sie es als ungewohnt immer von so vielen Menschen umgeben zu sein. Früher hatte sie Stunden, manchmal ganze Tage alleine verbracht, besonders in den Wochen gegen Schuljahrsende war dies oft der Fall gewesen, wenn Sev seine UTZ Kurse auf die Prüfungen vorbereiten musste und wenn Abby damit beschäftigt war von den Schülern verlorene Kleidungsstücke wieder zu ihrem Besitzer zurück zu räumen.
Um Filch nicht zu begegnen und ihren früh morgendlichen Spaziergang ungestört zu beenden, benutzte Lily die Geheimgänge. Jahrelange Erfahrung hatte sie lernen lassen, welche Geheimgänge welchen Schülern bekannt waren und welche dem unfreundlich aussehenden Hausmeister. Am Anfang hatte sie die bekannten Gänge genutzt und einige Male wäre sie fast von den beiden Rotschöpfen oder Filch entdeckt worden.
Aber diese bekannten Geheimgänge waren nur wenige von vielen. Fast hinter jedem Gemälde hier im Schloss verbarg sich ein Geheimnis. Manche waren kleiner, mache größer. Ein verborgener Schrank, ein weiteres Portrait oder eben ein Geheimgang. Und dieses Netz an Geheimgängen war Lily fast vertrauter als der Sevs Vorratsschrank. Freundlich bat sie Ebelinde die Eilige um Durchlass und weckte Hubertus Herikuss aus seinen Träumen.
Im Lichtkorridor angekommen, wurde sie von den ersten Sonnenstrahlen begrüßt, die die Sonne über die Hügelkuppen hinweg schickte. Lily deutete sie als gutes Omen und stieg langsam die enge Steintreppe hinunter. Sev stand mit dem Rücken zu ihr, über einen dampfenden Kessel gebeugt. Wahrscheinlich musste der Trank genau jetzt, zu Sonnenaufgang, gebraut werden. Da Lily wusste, dass man ihn besser nicht beim Brauen störte, setzte sie sich leise, er hatte sie noch nicht bemerkt, auf die unterste Treppenstufe und schaute ihm bei seinen routinierten Bewegungen zu. Über seinem Kopf stiegen durchsichtige, verspielte Dampfkringel empor. Lily versuchte den Trank zu erkennen.
Vielleicht Amortentia, der Liebestrank? Als der Dampf ihre Nase erreichte, bestätigte er ihre Vermutung. Tief atmete sie den berauschenden Duft ein, eine Mischung aus Jasmin und alten Buchseiten, dem Geruch, der von einem Zaubertrankfeuer und von Abbys frisch gewaschener Wäsche ausging.
Liebestränke waren sehr fortgeschrittene Zaubertrankmagie und wurden erst im sechsten Jahr behandelt. Lily vermutete, dass Sev ihn für seinen UTZ-Kurs vorbereitete. Es war beruhigend, ihm bei seinen routinierten Bewegungen zu beobachten, zu sehen mit welcher Genauigkeit und Präzision er arbeitete. Selbst wenn sich alles um sie herum verändert hatte, arbeiteten seine Hände immer noch ohne jegliches Zittern.
Erst als er das Feuer löschte und den Kessel ruhen ließ, stand Lily auf. „Wie lange bist du schon hier?" „Seit dem du die zerrieben Lilien hinzugefügt hast." Lily lächelte. Früher hatte sie immer überall Lilienpulver reingemischt, es war ihre Lieblingszutat und sie liebte es zu sehen, wie schon einige Prisen ausreichten um die meisten Tränke in ein helles weiß zu verwandeln. Sev erwiderte nichts, sondern schaute sie nur an.
Es lag immer noch eine schwache Note von Vanilleduft in der Luft. Wonach der Trank bloß für ihn roch, sie hatte Sev noch nie danach gefragt. Was, wenn das bloß der Anfang war, wenn sie heute das nicht wusste und morgen jenes, bis sie in einigen Jahren in seinem Unterricht sitzen würde und ihn Snape nannte. Lily schluckte. Sie würde es nicht ertragen können, wenn Sev sich von ihr, sie sich von ihm, entfernen würde.
Sie spürte, wie der Kloß in ihrem Hals immer größer wurde, dann lief sie auf ihn zu und umarmte ihn. Ohne darüber nachzudenken, dass sie es vielleicht im nächsten Moment bereuen könnte. Es war schon lange her, seitdem sie ihn das letzte Mal umarmt hatte. Da war sie ihm noch bis zu seinen Oberschenkeln gegangen.
Sev war wohl genauso überrascht wie sie, aber er drückte Lily trotzdem leicht an sich. „Ich bin nach Gryffindor gekommen.", flüsterte Lily leise, nicht sicher ob Sev sie verstehen würde, oder ob ihre Worte auf dem Weg zu seinen Ohren verloren gehen würden. „Ich weiß, Lily" Einen kurzen Moment erwog sie, seine Antwort gelten zu lassen, keine weiteren Fragen zu stellen. Einfach für immer so stehen zu bleiben, in seiner unbeholfenen Umarmung. „Wo warst du, Sev? Musstest du erst McGonagall fragen, oder hast du auf den Unterrichtsslisten nachgeschaut?" Sie konnte nicht verhindern, dass ihre Stimme vorwurfsvoll klang.
Sie konnte sein leidvolles Lächeln durch seinen Körper spüren. „Ich wusste schon vorher, dass du nicht nach Slytherin kommen würdest. Dafür bist du zu...", er ließ die Worte in der Luft hängen, bis sie schon fast wieder verschwunden waren. „zu stur und zu mutig, Lily." Sie schloss ihre Augen und schloss ihre Arme noch ein bisschen fester um seinen Oberkörper. Gleichzeitig merkte sie, wie sich sein Geist von der Gegenwart verabschiedete und sich in seinen Erinnerungen verlor. Wie so oft. „Sev, irgendwann musst du mir mal von ihr erzählen. Sie muss ein toller Mensch sein." „Sie war einer der Besten." Sev sah Lily in die Augen. „Sie ist auch nach Gryffindor gekommen." „Wie ich."
Lily lächelte wieder und ihre Sorgen, die ihr vorher noch unüberwindbar vorgekommen waren, verschwanden in weiter Ferne. „Wirst du mir von ihr erzählen?", fragte Lily, obwohl sie schon wusste, dass sie die Frage gar nicht hatte stellen müssen. „Nein.", sagte Sev schlicht. „Und du wirst mir auch nicht sagen, wo du gewesen bist, während der Auswahl?" Seine Lippen kräuselten sich. „Nein, aber das spielt auch keine Rolle."
Lily und Sev nutzten die restliche Zeit, die ihnen noch bis zum Frühstück blieb, und redeten über alles, was ihnen als wichtig erschien. Die Geschichten von den Federflügen ihrer Mitschüler („Colin Creevey? Er hat mich gefragt, ob ich ihm eine Lösung brauen könnte, mit der er seine Muggelbilder entwickeln kann. Als ob ich nichts Besseres zu tun habe.") und Anekdoten über den neuen Lehrer in Verteidigung gegen die dunklen Künste („Sein Büro ist das reinste Spiegelkabinett!" „Er hat im Lehrerzimmer eine von ihm signierte Edition all seiner Bücher ausgestellt. Wenn er davon auch nur die Hälfte ansatzweise wirklich getan hat, trink ich meinen eigenen Schwelltrank.") belebten die Kerkerräume.
„Es gibt ein unbenutztes Klassenzimmer im fünften Stock. Wenn du üben möchtest. Er ist leergeräumt, also gibt es nichts was du zerstören könntest." Lily dachte an die vielen zerbrochenen Stuhlbeine zurück, die ihr während der Übungsstunden mit Sev zu Opfer gefallen waren. „Das ist gut. Dann muss ich meine Zeit nicht mit Wingardiium Levi o sa verbringen.", sagte Lily singend und ließ einige von Sevs Haarsträhnen empor schweben.
„Keine Sorge, dir wird schon nicht langweilig werden. Professor Lockhart", Sevs Worte schwappten schon fast über vor Missbilligung gegenüber seinem Kollegen, „plant schon etwas ganz außergewöhnliches, aber dafür wirst du dich wohl überraschen lassen müssen." „Ich weiß nicht, ob ich das wirklich sehen möchte. Hört sich nach einem ganz schönen Fremdschämprogramm an." „Oh, ich werde auch zu einem kleinen Teil daran beteiligt sein. Er hat mich bereits gestern eingeweiht in seine geheimen Pläne." Sev rang schon wieder mit sich, um kein, für ihn sonst so untypisches Lächeln, auf den Lippen zu tragen, sondern beim Sarkasmus zu bleiben.
Ihre Zeit zusammen verstrich viel zu schnell und es wurde schon bald Zeit für sie, zum Frühstück aufzubrechen. Zusammen traten sie hinaus auf den Korridor, Sev nahm den Umweg über die normale Kerkertreppe und über die Eingangshalle, während Lily die schnelleren Geheimgänge nutzte. Sie hatte schon ihr erstes Toast verspeist, als Sev, die Gesichtszüge wieder in Stein gemeißelt, die Halle betrat.
Es war nicht seine normale Frühstückszeit, aber Lily bezweifelte, dass das jemandem auffallen würde. Als Lily jedoch sah, wie belustigt Dumbledore plötzlich sein Frühstücksei zu löffeln schien, berichtigte sie sich. Niemandem außer Dumbledore würde es bemerken.
Aber dieser Mann war sowieso schlauer als alle Schüler und Lehrer zusammen. Sie wandte sich wieder ihrem Toast zu, als sich ein braunhaariges Mädchen ihr gegenüber setzte. Nachdem sie einmal laut gegähnt hatte, stellte sie sich als Laureen vor.
„Ich bin auch auf deinem Zimmer, bisher hast du mich aber nur schlafend gesehen. Madison hat mir gesagt wer du bist." Sie deutete auf die kleine Dunkelhäutige, die gerade, noch sehr verschlafen aussehend, die große Halle betrat. „Ich bin Lily Hollow, aber das hat Madison dir ja bestimmt schon gesagt." Sie schaute belustigt zwischen Laureen, ihre Haare waren ein einziger verstrubbelter Haufen und Madison, sie gähnte gerade herzzerreißend, hin und her. „Ich glaube ihr beide habt sehr viel gemeinsam!"
„Geht es um mich?", fragte Madison und setzte sich neben Laureen. „Ja, ganz eindeutig." Lily lachte. „Meine Güte, ich muss wirklich spät dran sein, wenn ich die Ehre habe mit euch zusammen zu frühstücken." „Ja, das stimmt allerdings. Ich habe dich heute Morgen schon vermisst!", meldete sich Hillary zu Wort, die ihr Essen schon fast beendet hatte. „Wo warst du? Ich hatte fest damit gerechnet, dass du schon unten bist, wenn ich ankomme. Immerhin war dein Bett leer." Lily ließ ihre Gabel zu Boden fallen und tauchte unter den Tisch ab. „Ich habe gestern aus Versehen ein Buch aus der Bibliothek mitgenommen, ohne es als ausgeliehen anzumelden. Madam Pince war nicht sehr erfreut heute Morgen, aber ich wollte die Sache noch vor dem Schultag erledigen." Hillary nickte, sie schien ihr die Ausrede zu glauben. „Aber zum Glück habe ich ja so verschlafene Zimmergenossinnen, da spiel es gar keine Rolle wie spät ich komme, ihr seid ja immer noch da."
„Du hast mich vergessen!", beschwerte sich Hillary, „Ich bin keine Schlafmütze! Obwohl ich dir natürlich trotzdem zustimmen muss. Das kann wirklich was werden mit denen auf einem Zimmer. Ich hoffe diese schlechten Gewohnheiten färben nicht ab!" Kopfschütteln nahm sie sich ihre Umhängetasche und erhob sich „Ich wünsche euch noch viel Spaß beim Frühstücken, beeilt euch aber, der Unterricht fängt gleich an!" Ein Blick auf die Uhr zeigte, dass Hillary Recht hatte. Lily und die anderen begannen schnell ihr Essen hinunterzuschlingen, am zweiten Tag zu spät zu kommen wäre selbst für Gryffindors ein bisschen zu viel gewesen.
In atemberaubender Geschwindigkeit vernichteten sie Brote und Frühstücksei, Zeit für vernünftige Gespräche ohne Brotkrümel zwischen den Zähnen blieb ihnen nicht mehr. Die Halle hatte sich schon fast komplett geleert, als sie den Tisch verließen und in Richtung des Klassenzimmers für Zaubereigeschichte sprinteten.
Dieses Mal verzichtete Lily auf gekünstelte Umwege und nur deshalb erreichten sie den Raum gerade noch vor Professor Binns. Hillary, die ganz entspannt an der Wand vor der Tür lehnte, lachte laut als sie sie kommen sah. „Na Lily, morgen essen wir wieder früher zusammen, das ist doch wesentlich entspannter." Lily nickte ihr nach Luft ringend zu.
Professor Binns war Lily, im Gegensatz zu den meisten anderen Lehrern nicht bekannt. Sie hatte ihn noch nie mit den anderen zusammen in der großen Halle essen sehen, und auf den Gängen hatte er sich auch noch nie blicken lassen. Als Professor Binns dann kurz nach ihnen den Raum betrat, war ihr auch klar wieso. Er war ein Geist und hatte auch sonst nicht viel mit den anderen Lehrern gemein.
Anstatt die Anwesenheit oder die Namensliste zu überprüfen, begann er direkt mit dem Unterricht. Wie es sich schnell herausstellte, hätten Lily und die anderen in Ruhe bis zur zweiten Stunde weiter essen können, spannender wäre es allemal gewesen. In den ersten Minuten dachte Lily noch darüber nach, ob Professor Binns Unterricht zu seinen Lebzeiten spannender gewesen war, dann aber gab sie resigniert auf und kritzelte sich einen Hippogreif auf ihren Unterarm.
Professor Binns Stimme war rasselnd, staubig und so einschläfernd, dass sogar die Ravenclaws, die sonst immer sehr aufmerksam darum bemüht waren mit ellenlangen Stichpunktlisten ihrem Ruf nachzukommen, glasige Augen bekamen und trübe durch Professor Binns hindurch auf die staubige Tafel starrten.
Laureen und Madison hatten ihre Köpfe auf den Armen abgelegt und anscheinend beschlossen, ihren fehlenden Schlaf jetzt nachzuholen. Hillary beobachtete gespannt das Galgenmännchenturnier zwischen Colin und seinem Freund in der Reihe vor ihnen und Ginny schien auch nur körperlich anwesend zu sein.
Sie schrieb etwas in ein kleines Büchlein, das definitiv keine Notizen für Zaubereigeschichte darstellten. Ihre eigene Aufmerksamkeit hatte sich, nachdem sie einen Stichpunkt notiert hatte und dem Hippogreif den einfallsreichen Namen Hippo verpasst hatte, auf die Liste vor ihr abgeschweift. Dort hatte sie sich in den Sommerferien alle möglichen Zaubersprüche und Verwünschungen aufgeschrieben, die sie beim Lesen entdeckt hatte.
Nun war sie dabei, alle unwichtigen von den interessanten zu trennen und sich fünf für den Anfang herauszusuchen. Bevor sie sich entscheiden konnte, ob es wohl nützlicher sein würde einem Gegner das Ohr oder das Nasenhaar wachsen zu lassen, klingelte es. Das Stundenende kam so überraschend wie der morgendliche Wecker und so dauerte es einige Sekunden, bis alle aus ihren Tagträumen, oder in Laureens und Madisons Fall, aus ihrer Nachtruhe, erwachten.
Der restliche Tag verging ohne besondere Vorkommnisse, genauso wie die nächsten Tage ihrer ersten Schulwoche. Verteidigung gegen die dunklen Künste war wahrhaftig so schlimm, wie Sev ihr den neuen Lehrer beschrieben hatte. Er schien von nichts eine Ahnung zu haben und seine unendlich langen Monologe bestanden aus Lobreden für sich selbst. In Zauberkunst schafften es nun fast alle ihre Federn fliegen zulassen und man sah nur noch wenige zusammengekniffene Gesichter von Erstklässlern im Gemeinschaftsraum, die immer noch an ihrer ersten Hausaufgabe saßen.
Das Wochenende war warm und sonnig, sodass es Lily schwer viel, ihre Hausaufgaben nicht zu vergessen und die beiden Tage nur mit den anderen zusammen am Seeufer zu verbringen. Aber die Hausaufgaben, die sich leider jetzt schon zu einem kleinen Berg getürmt hatten, wollten natürlich trotzdem gemacht werden, und so verbrachte Lily die Abende, nachdem die letzten Sommersonnenstrahlen hinter den Bergen verschwunden waren, in der Bibliothek.
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