37
Braune Augen.
Als wäre sie immer noch in diesem Albtraum gefangen.
Blinzeln.
Der Krankenflügel um sie herum.
Blinzeln.
Ginny auf ihrer Bettkante.
Blinzeln.
Braune Augen.
„Welches Datum ist heute?" „Du hast einen halben Tag verpasst." Lily ließ sich beruhigt in die Kissen zurückfallen. „Snape hat dir den Trank als erstes gebracht. Sie sagen, bei dir geht es schneller." Ginny presste ihre Lippen aufeinander. „Aber die anderen werden gleich aufwachen." Ginny blinzelte und für einen kurzen Augenblick ergriff Lily die blanke Panik.
Schon im nächsten Moment schämte sie sich dafür. Als Ginny ihre Lider wieder aufschlug, war ihre Iris immer noch braun. „Lily- es tut mir Leid. Ich wollte nichts von alledem." Ihre Schultern bebten, ihr gesamter Körper fing an, unkontrolliert zu zittern. Lily setzte sich auf und wartete, bis sich ihre Welt nicht mehr drehte. „Ginny, schau mich an."
Sie erhob ihren Blick, sie sahen sich in die Augen. „Nichts, wirklich nichts davon ist deine Schuld." Lily legte ihren Arm um Ginnys Schultern und drückte sie leicht an sich. Jemand hatte ihr die Schuluniform ausgezogen, sie trug nur noch ein Unterhemd. Ihr nackter Arm zierte ein Muster aus weißen, feinen Linien.
Kurz sah sie ihn wieder vor sich, blutüberströmt, die Haut gelöst, zu Teilen verbrannt. „Wo ist der Kalender?", fragte Lily leise. „Harry hat ihn zerstört.", antwortete ihr Ginny. „Harry? Harry Potter?" Sie zog zaghaft die Augenbrauen hoch und auch Ginny lächelte vorsichtig, obwohl ihr zeitgleich Tränen über die Wangen liefen.
„Möchtest du hier sein, wenn die anderen aufwachen?" „ Nein. Sie wissen von nichts. Dumbledore hat niemandem- Ich möchte nicht-" Lily drückte sie noch einmal. „Das verstehe ich. Ich hab eine Idee. Du musst nicht hier bleiben." Ginny nickte erschöpft. „Dir geht es, hm, also dir geht es gut oder? Ich meine dir fehlt nichts." Sie schaute sie kurz verwirrt an, dann lachte Ginny leise. Eine Träne kullerte von ihrer Wange und tropfte auf Lilys Bettdecke. „Nein, mir geht es gut. Ich bin nur so im Krankenflügel. Ich glaube, sie wussten nicht, was sie mit mir machen sollten." „Das ist gut." Lily nickte. „Ich meine, es ist gut, dass es dir gut geht."
Sie mussten auf einmal beide grinsen, so merkwürdig war es, wie sie hier saßen, weinend und lachend gleichzeitig. „Dann hoffe ich, dass Madam Pomfrey nichts dagegen hat, wenn ich dich entführe." Ein Blick auf die Krankenschwester verriet, dass sie gerade beschäftigt war. Einem Geist einen Trank einzuflößen war bestimmt eine Tätigkeit, auf die man in der Krankenschwesterausbildung nicht vorbereitet wurde.
Mit einem leisen Quietschen öffnete Lily die Tür zu Madam Pomfreys Büro. „Komm! Hilf mir mal." Gemeinsam schoben sie den Schreibtisch zur Seite, um besser an die kleine, verborgene Tür zu kommen. „Es wird in bisschen eng sein, aber wir kommen immerhin unerkannt raus." Lily grinste und ließ Ginny den Vortritt.
„Das ist ein Botengang für die Hauselfen. Inzwischen gibt es schon einen neuen, aber der alte wurde nur zugeschoben. Hier im Krankenflügel würde es zu laut sein, wenn sie apparieren. Der Gang führt genau in die Küche." Sie robbten auf den Knien durch den kleinen Schacht, aber es dauerte nur wenige Minuten, dann weitete sich der Gang und mündete auf einer kleinen erhöhten Plattform.
„Warst du schon mal hier?" Ginny schüttelte den Kopf. „Nein, aber Fred und George haben mir davon erzählt." Sie kam aus dem Staunen gar nicht mehr heraus, als direkt die ersten Elfen herbeigewuselt kamen. „Und ich dachte, Fred und George machen Witze." "Als würde Ihnen das jemals einfallen.", bemerkte Lily trocken.
„Miss Lily und ihre Freundin!", piepste die erste Elfe vor ihnen und schon kurz darauf waren sie von einer Traube umringt. Am Ende verließen sie die Küche mit prall gefüllten Taschen, Ginny kaute noch als sie sagte:
„Meine Eltern sind gekommen." „Soll ich dich zu ihnen bringen?" „Ich glaube sie sind noch bei McGonagall. Ich würde lieber zu Fred und George." „Dann also ab zum Gemeinschaftsraum?" „Ab zum Gemeinschaftsraum.", bestätigte Ginny. „Aber auf dem Weg dorthin, musst du mir unbedingt die ganze Geschichte erzählen!"
Lily erfuhr, dass Harry und Ron den Weg in die Kammer gefunden hatten. Harry hatte sie gerettet und wäre fast dabei gestorben. Sie biss sich auf die Unterlippe. All das hätte sie verhindern können, wenn sie besser auf Ginny achtgegeben hätte, wenn sie Sev den Kalender gezeigt hätte.
„Tom Riddle war, oder ist, Du-weißt-schon-wer. Dumbledore meinte auch, es war nicht mein Fehler. Er hat den Kalender nur zu diesem Zweck verzaubert." „Und- Kannst du dich an etwas erinnern? Du musst mir nicht antworten, aber-" Ginny schüttelte nur ihren Kopf. „Nein, das ist schon in Ordnung." „Du wirktest immer so abwesend, als seist du gar nicht da.", sagte Lily vorsichtig. Ginny holte tief Luft.
„Es ist schwer zu beschreiben. Anfangs bin ich an anderen Orten aufgewacht. Ich konnte mich nicht daran erinnern, wie ich dorthin gekommen bin. Dann das But an meinen Händen- Ich habe es nicht verstanden. Und dann habe ich Angst bekommen, dass man mich rauswirft. Tom hat mir erzählt, dass in seinem Jahrgang jemand von der Schule geschmissen wurde, obwohl er es nicht war." Ginny schauderte. Die Puzzelsteine fügten sich in Lilys Kopf zusammen. „Mir hat er das auch geschrieben." Ginny schaute sie erstaunt an. „Ja, als ich- Naja, nachdem das Buch das Feuer überlebt hat, habe ich darin geschrieben.", sagte sie etwas zerknirscht.
Ginny schwieg. „Er hat mir dasselbe geschrieben, nur mit dem Unterschied, dass er mir gesagt hat, wer demjenigen zu Unrecht die Taten angehängt hat. Tom selbst nämlich hat Hagrid dem Schulleiter übergeben.", schloss sie grimmig. Sie schluckte. „Es tut einfach so weh zu wissen, wie dumm man war. Es ist immer noch meine Schuld." „Nein, sag das nicht Ginny. Es stimmt nicht. Tom war damals der Täter und ist es heute."
„Es ist nicht nur das. Am Anfang war es noch nicht so schlimm, er hat mich nur teilweise ruhig gestellt, einfach nur meine Erinnerungen ausgeknipst. Ansonsten war alles normal. Aber am Ende- es war, als besäße ich zwei Persönlichkeiten. Ich habe alles gehört und gesehen, aber die andere Persönlichkeit, Toms Persönlichkeit, hat alles andere übernommen. Er war einfach so viel stärker. Deshalb ist es so schwer, verstehst du? Ich habe dich gehört, ich habe gesehen, wie du geschrien hast. Du hast dich brennend auf dem Boden vor mir hin und her gerollt." Tränen traten in ihre Augen.
„Aber ich habe nichts mehr dabei gefühlt. Gar nichts mehr."
Sie waren einige Meter vor dem Portraitloch stehen geblieben. Lily legte Ginny ihre Hände auf die Schultern. Die Erinnerung der willenlosen Marionette tauchte in ihrem Kopf auf, wie sie Ginny einfach hin und her hatte schütteln können. Wie sich Lilys Finger in ihre Haut gebohrt hatten. Aber jetzt war es anders. Sie legte ihre Hände nur vorsichtig auf Ginnys Umhang und schaute ihr fest in die Augen.
„Ich verzeihe dir, Ginny. Du musst dir nur selbst vergeben." Ginny senkte ihren Blick. „Es ist noch nicht vorbei, ich bin noch nicht fertig mit erzählen." Lily nickte und hörte ihr weiter zu.
"Ich habe praktisch Selbstmord begangen. Ich bin von alleine in die Kammer gegangen. Ich erinnere mich noch daran, wie schön ich das Geräusch von dem Rattenskelett fand. Es hat geknirscht, als ich drauf getreten bin. Dann habe ich nichts mehr gesehen und gehört. Dumbledore hat gesagt, Tom hätte sich meine Kraft genommen. Meine Kraft, um seinen Körper und seinen Geist von meinem abzuspalten. Dumbledore hat gesagt, hätte ich nicht so viel Kraft besessen... ich hätte sterben können. Ich war nicht sehr weit davon entfernt."
„Ich hab dir doch gesagt, dass du stark bist." Lily lächelte ihr zu. „Du hast dagegen gekämpft, ich habe es gesehen. Tom hat dich nicht schwächer gemacht, er hat dich stärker gemacht. Du hast schreckliches erlebt. So furchtbar, dass die meisten in ihrem gesamten Leben nichts Schlimmeres verspüren müssen. Aber du hast es geschafft. Du hast nicht aufgegeben. Und nur deshalb bist du noch am Leben."
Ginny lächelte zaghaft. „Danke, Lily. Ich weiß nicht, ob ich es ohne dich geschafft hätte. Du hast mir gesagt, dass ich kämpfen muss. Vielleicht bist du der Grund dafür, dass ich noch am Leben bin." Ginny wischte sich die Tränenspuren aus ihrem Gesicht. „Jetzt muss ich nicht mehr weinen, nicht wahr?" Lily nahm Ginny fest in die Arme. „Nein, jetzt musst du nicht mehr weinen. Es ist vorbei. Und... Bestell Fred und George liebe Grüße." „Du kommst nicht mit rein?" „Nein, ich hab noch was zu erledigen."
Ginny nickte ihr zu, dann kletterte sie durchs Portraitloch und ohne sich noch einmal umzudrehen verschwand sie im Gemeinschaftsraum. Lily schaute ihr kurz nach, lehnte sich gegen die Brüstung und wartete, bis die Punkte vor ihren Augen aufhörten zu tanzen.
Erst dann machte sie sich auf den Weg in die Kerker. Sev musste sich Sorgen machen. Insbesondere jetzt, vielleicht hatten sie schon bemerkt, dass sie aus dem Krankenflügel geflüchtet waren. Lily begann zu rennen. Schon von weitem sah sie, wie Sev die Tür seines Büros verriegelte. Sie begann noch schneller zu laufen. Erst im letzten Moment drehte er sich um und schenkte ihr eines seiner äußerst seltenenen Lächeln. Lily sah, wie er seine Arme ausbreitete. Sie lachte laut, bis Sev sie fest in seine Arme schloss.
Sein typischer Geruch stieg ihr in die Nase. Er roch nach den Kerkern, nach Feuer und nach etwas undefinierbarem.
„Es geht mir gut.", sagte Lily, als er sie immer noch nicht lockerer ließ. Ihr Kopf lag in seiner Halsbeuge, sie hatte die Augen geschlossen. „Unser Trank hat funktioniert." „Natürlich hat er das.", erwiderte Sev mit Bestimmtheit. „Weißt du, wer mich gefunden hat?", fragte Lily leise einer plötzlichen Eingebung folgend. Sie war froh, dass sie sein Gesicht nicht sehen konnte, als er ihr antwortete.
„Ich habe dich gefunden. Zusammen mit der letzten Inschrift des Erben. Du hattest das zweifelhafte Vergnügen, das letzte Opfer zu werden. Was hast du dir eigentlich dabei gedacht, alleine auf den Korridoren herum zu spazieren? Ich habe dir doch gesagt-" „Ich weiß, Sev. Aber ich habe Ginny gesucht."
Lily spürte, wie er den Kopf schüttelte über ihre Waghalsigkeit und sich gleichzeitig darüber ärgerte, dass sie anscheinend schon über alles Bescheid wusste. „Dir hätte alles Mögliche passieren können." „Ist es aber nicht.", antwortete Lily ernst, obwohl sie sich in düsen Moment fragte, ob eine verkohlte Schulter wirklich als nichts zu bezeichnen war. „Alles nochmal gut gegangen." Sev nickte, drückte Lily nochmals kurz an sich, dann berührten ihre Füße wieder den Boden. Sie schlug ihre Augen auf.
Vor ihr lag der leere Kerkergang, der nicht mehr leer war. Am hinteren Ende stand ein Junge.
„Solltest du nicht eigentlich im Krankenflügel sein?" Lily nahm Sevs Frage nur am Rande wahr. „Was?" Sev schaute sie prüfend an. „Du solltest im Krankenflügel sein!", wiederholte er. „Madam Pomfrey hat eine Salbe auf deine Brandwunden aufgetragen." Lily nickte. „Ja, die wirkt verdammt gut, es sind nur noch kleine Linien zu sehen. Wie Marmor." Sev fing ihren Blick ein.
„Ja, Lily. Aber die Salbe hat Nebenwirkungen wie zum Beispiel Schwindel, Übelkeit-" „Mir geht es gut.", wiederholte sie. „Wirklich. Mir ist es im Krankenflügel nur eindeutig zu langweilig geworden." Sev schüttelte belustigt den Kopf.
„Danke übrigens." „Wofür?" Sev runzelte fragend die Stirn. „Zufälligerweise bin ich als erstes von allen aufgewacht." „Nicht der Rede wert." „Es muss dir ein Einhornhaar gekostet haben.", sagte sie leise. Sev wiegte ab.
„Es soll ein Festmahl geben.", sagte Lily. „Gehst du schon einmal vor, ich komme nach?" „Sicher, ich wollte mich gerade schon dorthin auf den Weg machen. Bis gleich." Lily betete stumm, dass Sev sich nicht noch einmal umdrehen würde.
Aber er tat es nicht, er tat es nie.
Sie hielt den Atem an, bis er hinter nächsten Ecke verschwunden war. Dann drehte sie sich langsam um.
Neville. Sein Name war ihr wieder eingefallen. Eigenartigerweise verspürte Lily keine Angst davor, dass ihr Geheimnis soeben aufgeflogen war. Stattdessen schaute sie ihm fest in die Augen, hielt seinen Blick mit ihrem eigenen fest, während Lily auf ihn zuging. Wenige Meter voneinander entfernt, senkte Neville seinen Kopf. Ansonsten stand er unbeweglich da.
„Was- wie... Ich meine, Iich wwolte ddoch nur-", stammelte er, dann verstummte Neville wieder. Die dicke Kröte die in seinen Händen saß, sprang mit einem lauten klatschen auf den Boden. Neville wagte es nicht, ihr hinterher zu schauen.
„Du." Lily trat einen Schritt auf ihn zu. „Wirst." Sie machte einen zweiten. „Vergessen." Sie war jetzt nur noch eine Armlänge von ihm entfernt. Neville zuckte zusammen, als Lily ihm ihren Zeigefinger auf den Brustkorb legte.
„Du wirst vergessen, was du gesehen hast."
Dabei verstärkte sie den Druck auf seine Brust. Lily konnte seinen Herzschlag spüren. Es pochte schnell gegen seine Rippen. Sie ließ ihre Hand wieder sinken und trat noch näher auf ihn zu. Neville hob seinen Blick, sie war größer als er. „Du hast nichts von alledem gesehen. Verstanden?" Er nickte so schnell, dass seine Wangen auf und ab hüpften.
Lily konnte seinen Atem auf ihrem Gesicht spüren. „Du wirst niemandem davon erzählen. Du hast mich und meinen Vater gerade gesehen. Ich könnte Sev erzählen, dass du von uns weißt. Manchmal ist er sehr empfindlich, du willst doch nicht, dass er da etwas falsch versteht? Er könnte dir das Leben zur Hölle machen, ich könnte dein Leben zur Hölle machen. Ich möchte mich nicht gezwungen sehen, Sev über das zu unterrichten, was du jetzt nun mal leider gesehen hast."
Nevilles Augen weiteten sich. „Willst du, dass er sich der Sache annimmt?" Er schüttelte seinen Kopf. „Gut." Lily warf ihm einen letzten wütenden Blick zu. „Hast du mich verstanden?" „Ja.", brach es hastig aus ihm hervor.
„Gut.", sagte sie wieder und schaute in seine wässrigen blauen Augen. Sie waren immer noch so weit aufgerissen, dass Lily die gesamte Iris sehen konnte. Für ein paar lange Sekunden verharren sie regungslos. Dann drehte Lily sich wortlos um und ging mit langen Schritten den Gang hinunter.
Schon als sie um die Ecke bog, meldete sich ihr schlechtes Gewissen. Aber sie würde sich ihren Vater nichtnehmen lassen, koste es was es wolle.
Bạn đang đọc truyện trên: Truyen247.Pro