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Die Nachricht, dass Dumbledore sowie Hagrid, und noch dazu beide in derselben Nacht, die Schule verlassen hatten, machte schnell die Runde und sorgte damit bei den meisten für große Bestürzung. Ginny bekam keinen Bissen mehr hinunter, nachdem sie die Nachricht gehört hatte.
Nur Malfoy schienen erfreut und bei Lockhart war Lily sich nicht ganz sicher, ob sein festgeklebtes Lächeln einfach nur da war, oder ob er es auch auf Grund der Ereignisse aufgesetzt hatte. Beruhigt stellte Lily fest, dass Jasper, der neben Malfoy saß, keinesfalls so glücklich wie er aussah.
Sein Gesicht war fast noch eingefallener, als am gestrigen Abend. Wahrscheinlich hatte er, genauso wie sie, bis in den Morgen grauen nicht in den Schlaf gefunden. Als Jasper bemerkte, dass Lily ihn ansah, drehte er sich weg. Betrübt starrte Lily auf ihren halbleeren Becher Kürbissaft.
Obwohl Lockhart darauf bestand, dass ihnen jetzt keine Gefahr mehr drohte, da der ja Täter gefasst sei, sahen das die übrigen Lehrer anders. Die Vorschriften wurden nicht gelockert und selbst die Stimmen derer, die sich zuvor immer über sie lustig gemacht hatten, waren verstummt.
So ergab sich für Lily keine Möglichkeit, nochmals mit Jasper zu reden. Ihr brannten unzählige Fragen auf der Zunge. Diese Fragen waren seit ihrer ersten Begegnung mit Jasper dagewesen, hatten sich sogar noch verstärkt, als sie mit Jasper und Malfoy zunächst im Duellierklub, dann beim Quidditchspiel gewesen war. Aber Harry und Ron hatten es geschafft, die Blockade zu lösen, die sie zuvor immer daran gehindert hatte, Jasper alle diese Fragen zu stellen.
Bei jedem Essen nahm sie etwas mit und besuchte Abby, um es per Eulenpost zu Hagrids Hütte zu schicken. Sie hoffte, es würde auf irgendeine Art und Weise bei Fang ankommen. Lily wollte sich nicht der Hoffnung hingeben, dass Jasper bei ihm vorbeikommen würde. Die naive Vorstellung der Eulen, wie sie die Fresspakete genau über Fangs Kopf abwarfen, damit er nicht verhungerte, machte Lily nervös, da sie wusste, dass diese Vorstellung definitiv nicht der Wirklichkeit entsprechen konnte.
Erst als die wildesten Gerüchte schon wieder verklungen waren, schaffte sie es, Jasper nach dem Zaubertrankunterricht abzufangen.
„Es tut mir Leid, dass ich letzte Woche keine Zeit hatte." Lily verzog das Gesicht, aber es war ihr einfach keine andere Möglichkeit geblieben. Sev hatte sie fast den ganzen Tag lang als seinen persönlichen Zutatenschnippler in Beschlag genommen.
„Aber dieses Wochenende steht?" „Natürlich.", antwortete Jasper, sein Gesichtsausdruck wirkte gequält. „Ich erwarte keine Erklärung, ich würde mich nur freuen, falls es eine geben würde, Jasper." Er sah zu Boden. „Ja." Sie nickten einander noch kurz zum Abschied zu, dann lief Lily den anderen hinterher.
Fast so als hätten sie sie als Zeit und Ort vereinbart, trafen sie sich vor Hagrids Hütte. Fang kam schon von weitem mit fliegenden Ohren auf sie zu gerannt. „Du bist hier vorbeigegangen?", fragte Lily erstaunt, als sie bemerkte, wie freudig Fang zu Jasper hochschaute.
„Und du hast die Pakete geschickt." Jasper lächelte schief. „Ich habe es versprochen. Du kannst dir gar nicht vorstellen, wie groß mein schlechtes Gewissen war, als ich es die ganze Zeit nicht geschafft habe, runter zu kommen." „Wir haben es beide versprochen. Und jetzt halten wir uns dran." Sie schlugen den normalen Weg zum Königsbaum ein, Claire und Fang folgten ihnen bellend und miteinander raufend.
Erleichtert atmete Lily aus, als sie sich über belanglose Dinge unterhalten konnten, („Hast du gehört, jemand meinte, Dumbledore würde in der Kammer des Schreckens übernachten und das Monster darin sei schon erledigt!" „Ja, also echt. So ein Unsinn!"), so wie früher. Erst als sie in der Krone des Baumes Platz genommen hatten, kehrte Stille ein. Nur in der Ferne hörte man ein gedämpftes Bellen.
Jasper schluckte, dann begann er langsam zu sprechen. „Es tut mir Leid, wie ich mich das letzte Mal verhalten habe. Das war nicht richtig. Es-" Er zog die Beine an und gab dabei ein so mitleiderregendes Bild ab, dass Lily sich dafür schämte, ihn zu dieser Erklärung überredet zu haben.
„Es lag an diesem Brief." „Von deinem Vater?" Jasper zuckte zusammen. „Ja.", gab er dann zu. „Er hat geschrieben, dass meine Mutter in Kanada ist. Das ist ja auch vollkommen in Ordnung, sie ist häufiger mal da. Das ist nichts Ungewöhnliches." Er schwieg. „Und was war das Ungewöhnliche?", fragte Lily leise. „Nichts.", stellte Jasper bitter fest. „Er hat einen ellenlangen Brief geschrieben. So wie immer. Einen ellenlangen Brief, über nichts anderes als sich selbst." Lily war sich sicher, dass Jasper ausgespuckt hätte, hätten sie sich auf einem Quidditchfeld befunden.
„Er hat von seinen Problemen geredet. Und dass Maman schon wieder ihren Aufenthalt verlängert hat. Dass sie zu viel arbeitet, dass sie uns im Stich lässt! Er macht Maman dafür verantwortlich, dass er mit seinen Forschungen nicht vorankommt." Lily schwieg, wusste nicht, was sie darauf antworten sollte.
„Den Umhang hatte er total vergessen. Aber selbst das wäre ja nicht schlimm gewesen. Zumindest nicht so sehr. Aber er hat sich kein einziges Mal erkundigt, gefragt wie es mir geht." Er verbarg seinen Kopf in den Händen, rieb sich die Auge. Als er seinen Kopf wieder hin war eines der feinen Äderchen in seinem linken Auge geplatzt.
„Es war sein erster Brief seit Schuljahresbeginn! Ich weiß ja, dass er viel arbeitet, damit viel zu tun hat. Aber ist es denn zu viel verlangt, dass er mir auf meine Briefe antwortet?" Sie wusste wieder nicht, was sie sagen sollte. Schließlich existierte für Lily ihr außerhalb von Hogwarts lebender Vater in Wirklichkeit gar nicht.
„Wahrscheinlich weiß er noch nicht einmal, ob ich die letzten Prüfungen bestanden habe und in welchem Jahrgang ich bin. Das Einzige, das für ihn zählt, ist, dass ich nicht den Grips hatte, um nach Ravenclaw zu kommen." Jasper blinzelte in die Luft. Es dauerte, bis er Lily wieder in die Augen sah.
„Und dann hat uns auch noch Hagrid gesehen. Ich dachte, so viel Pech kann man gar nicht an einem Tag haben. Als Claire dann verschwunden ist, das hat einfach gereicht."
Jasper Stimme brach und jetzt konnte selbst das Schließen seiner Augen nicht mehr verhindern, dass Lily die Träne sah, die ihm aus seinem Augenwinkel rann. Zögern stand sie auf und setzte sich neben ihn. Ein kleiner Trieb, der gegen die Wuchsrichtung des Baumes rebellierte, bohrte sich zwischen ihre Schulterblätter. Eine seiner Locken kitzelte Lilys Hals.
„Jasper, kanntest du den Mann?" „Mr. Duchess?" Seine Schultern bebten, berührten Lilys Oberarm wie die zitternden Flügelschläge eines neugeborenen Vogels. Sie nickte langsam. „Ja. Kennst du ihn?" Jasper schaute durch sie hindurch, als er ihr antwortete.
„Nein. Aber er ist bestimmt ebenso symphytisch wie Fudge." Seiner Stimme fehlte jegliche Emotionalität. „Wie kommst du darauf dass ich ihn kennen könnte?" Sie zog die Schultern hoch. „Ich weiß es nicht. Es war bloß so ein Gefühl." „Dann hat dich dein Gefühl getäuscht.", sagte Jasper bestimmt.
Lily erwähnte Mr. Duchess nicht mehr, obwohl sie nicht wusste, was sie von Jaspers Antwort halten sollte. „Schreib deinem Vater doch noch einmal.", schlug sie vorsichtig vor. „Um noch so einen Brief zu erhalten?" Jasper schnaubte verächtlich. „Bald sind Ferien. Vielleicht liegen meine Briefe alle bei ihm auf dem Schreibtisch. Ungeöffnet." Lily seufzte „Ich weiß es nicht, Jasper. Ich kenne deinen Vater nicht." Sie holte tief Luft.
„Aber ich weiß, dass Väter ihre Kinder lieben, auch wenn es einem selbst manchmal schwer fällt, das zu glauben. Dem bin ich mir sicher. Nur die wenigsten Väter sagen ihren Kindern, dass sie sie lieben, sobald sie das Alter eines Kleinkindes überwunden haben. Aber das heißt nicht, dass sie es nicht tun. Das heißt es ganz sicher nicht." Jasper lehnte sich gegen ihre Schulter, ihr Kopf berührte seinen.
„Ja, du hast Recht, Jasper. Bald sind Ferien. Vielleicht wird es anders, wenn du ihm gegenüberstehst. Nicht besser, nicht schlechter, aber anders. Ihr werdet miteinander reden können." „Ja, vielleicht. Aber er wird arbeiten gehen, wahrscheinlich bleibe ich alleine zu Hause." „Kommt deine Mutter nicht für die Ferien nach Hause?" „Doch, natürlich. Aber sie arbeitet ja auch."
„Wo verbringst du überhaupt die Ferien?" „In Frankreich, schätze ich. Das ist mein zu Hause. Trotzdem wünschte ich, die Ferien würden nicht kommen, dieses Jahr."
Lilys Blick fiel auf seine vom Wind zerzausten Haare, die zur Fäusten geballten Hände, die Sehnen, die so deutlich wie nie an seinem Hals hervorstachen. Behutsam legte sie ihre Hand auf seine, bis sie wieder flach da lag.
„Ron und Harry haben dir von Draco erzählt, nicht wahr?" Lily schaute verwundert an. „Du bist vielleicht gut im Lügen, aber so wie du ihn über die Haustische hinweg angeschaut hast, konnte jeder sehen, was du plötzlich über ihn denkst." Lily schwieg, sie fühlte sich ertappt. „Ich schlafe mit ihm in einem Schlafsaal. Natürlich weiß ich, was viele Gryffindors, auch zurecht, über ihn denken. Aber sie kennen ihn kaum. Selbst ich würde nicht behaupten, ihn zu kennen."
„Ja, das verstehe ich. Aber Ron und Harry- Hermine ist ihre Freundin, und was er über sie gesagt hat-" Lily schüttelte nur den Kopf. "Malfoys Meinung über diese ganze Muggelstämmigensache, sein Reinblutgehabe... Das ist einfach abstoßend!" Jasper zuckte mit den Schultern.
„Er wurde so erzogen." „Und das rechtfertigt in deinen Augen-" „Jetzt warte doch mal, Aimée! Ich sage nicht, dass es eine Entschuldigung ist, aber du hast Lucius Malfoy doch gesehen! Ron, Harry und Hermine können sich doch noch nicht einmal auch nur vorstellen was es bedeutet, unter so einem Druck aufzuwachsen." „Aber du schon?", rief Lily verärgert aus, nur um es im nächsten Moment schon wieder zu bereuen.
Jasper schaute sie verletzt an. „'Tschuldige, das war nicht so gemeint." „Schon in Ordnung." Er schwieg eine Zeit lang. „Weißt du, wie die Weasleys von den meisten bezeichnet werden?" Lily schüttelte den Kopf. „Als Blutsverräter. Und dass nur, weil für sie die Traditionen nicht an erster Stelle stehen, sondern der Zusammenhalt untereinander. Das ist der einzige Unterschied zwischen uns. Bei den meisten reinblütigen Familien zerfleischen sich alle gegenseitig."
„Das tut mir Leid, Jasper." „Muss es nicht.", winkte er ab. „Meine Familie ist nicht halb so schlimm wie Dracos. Schon alleine, weil Maman aus Kanada kommt und wir lange in Frankreich gelebt haben, war es für meinen Dad viel schwieriger als für Dracos, die Traditionen aufrecht zu erhalten. Auch wenn dadurch sein Stolz nicht weniger geworden ist."
„Aber dein Vater war in Ravenclaw? Ich- nimm es nicht persönlich, aber warum ist er nicht nach Slytherin gekommen?" „Ja, das habe ich mich auch oft gefragt.", antwortete Jasper ihr tonlos. Sie sprachen nicht, bis sie aus der Krone des Königsbaumes hinunter kletterten. Sie gingen den Weg zum Schloss schweigend zurück. Sie verabschiedeten sich mit einem lautlosen Nicken voneinander.
Vielleicht gab es einige Dinge, überlegte Lily, die in der Krone des Königsbaumes besser aufgehoben waren, als in der wirklichen Welt.
Die wirkliche Welt wurde immer düsterer, mit Dumbledore war auch die Hoffnung auf das Fortbestehen der Schule verschwunden, obwohl es keine weiteren Angriffe gegeben hatte. Lily verstand die Entscheidung der Lehrer, dass es unverantwortlich wäre, Hogwarts nicht zu schließen. Aber die Schule war ihr zu Hause, sie konnte es sich einfach nicht vorstellen, im Spinner's End zu wohnen.
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