18
In den nächsten Tagen blickte Lily immer wieder vorsichtig zu Hermine hinüber, wenn sie ihr in den Gängen oder beim Abendessen begegnete, nur um jedes Mal erschrocken wieder ihren Blick gen Boden zu richten. Lesen schien ihr größtes Hobby zu sein. Schon morgens begann Hermines Tag mit der neusten Ausgabe des Tagespropheten und während der Schulzeit schien ihre Tasche stets vor Büchern überzuquellen, ganz zu schweigen von dem Stapel, den sie in ihren Armen mit sich herum trug. Die Zeit vor dem Abendessen verbrachte sie meist in der Bibliothek oder vor dem Kaminfeuer mit Harry und Ron, Ginnys Bruder.
Aber auch dann lag immer ein Buch in Reichweite. Vielleicht brauchte man das, wenn man mit zwei Jungs befreundet war und sie aus seinem Kopf verbannen wollte. Jetzt saß sie wieder in der Bibliothek, beendete ihr am vorherigen Tage angefangenes Buch und stellte es ordnungsgemäß an seinen richtigen Platz zurück. Es war genau eine Stunde vor dem Beginn der Sperrzeit. Lily fluchte, sie hätte damit rechnen müssen, dass Hermine bald die Bibliothek verlassen würde. Zügig warf sie ihre Sachen in ihre Tasche und sah gerade noch rechtzeitig, wie Hermine nach links, zu den noch funktionierenden Toiletten ohne Myrte hin abbog.
Schnell hastete Lily ihr hinterher, wartete aber trotzdem einige Minuten, bevor sie die Mädchentoilette betrat. Besaß Hermine so etwas wie ein geheimes Untergrundtoilettennetzwerk oder warum verschwand sie dort immer spurlos? Doch noch bevor sie überhaupt die Möglichkeit gehabt hätte in eine der Kabinen zu gehen, trat Hermine hinter der Tür hervor und stemmte sich ihre Hände in die Hüfte. „Du folgst mir. Dachtest du ich würde es nicht bemerken?" Wütend kniff sie die Augen zusammen. „Was willst du von mir?" Lily drückte sich an der Wand entlang, im größtmöglichen Abstand zu ihr. „Ein echt-", sie starrte den Spiegel an, als würde ihr Ebenbild ihr etwas Passendes zuflüstern. „Ein echt komischer Zufall, dass wir uns immer auf den Toiletten begegnen. Aber ich bin nur deinem Rat gefolgt, hier ist es wesentlich..."
Lily suchte nach einem Wort um die Mädchentoiletten möglichst wohlwollend zu beschreiben. „Ähm... schöner als unten" Sie versuchte ein Lächeln, was sich beim Anblick von Hermines Gesicht aber eher in eine Grimasse verwandelte. „Wenn du mir keinen Grund nennen kannst, vielleicht möchtest du Professor McGonagall ja einen verraten?" Ihre Stimme klang wütend, genauso wie ihre Augenbrauen, die ihr beinahe zuschrien sie solle mit der Wahrheit herausrücken. Aber Lily entging ein gewisser Unterton nicht. Angst.
Lily löste sich von der weiß gefliesten Wand und tat einen Schritt auf sie zu. Hermine wich zurück. Sie hatte eindeutig Angst. Angst davor, wieviel Lily wissen konnte, Angst davor wie viel sie anderen bereits erzählt hatte. „Wusstest du, dass einige Zutaten aus Professor Snapes persönlichem Vorratsschrank entwendet wurden?", fragte Lily, einen beiläufigen Plauderton vortäuschend, obwohl sie beide wussten, dass dies keineswegs eine harmlose Toilettenplauderei werden würde. „Snape", sie sprach seinen Nachnamen so aus, dass man sofort merkte, dass sie den Professor mit voller Absicht weggelassen hatte. „Snape redet normalerweise nicht mit mir über die Probleme in seinem Vorratsschrank!" Der versucht schnippische Ton in ihrer Stimme war kläglich.
„Nun, es hätte immerhin sein können, er verdächtigt die Gryffindors des zweiten Jahrgangs." Hermine wurde etwas blasser um die Nase. „Und du bist eine Gryffindor des zweiten Jahrganges." „Es gibt viele Gryffindors im zweiten Jahrgang und alle hätten einen Grund dafür, Snape etwas auszuwischen!" Lily ignorierte das Ziehen, das das Wort Snape immer in ihrer Magengegend auslöste. „Glaubst du wirklich, dass ich es war?" Sie ließ sich Zeit mit ihrer Antwort, bis sie kaum noch eine Armlänge von Hermine entfernt war. Lily lehnte sich vor. „Nein. Ich glaube es nicht, ich weiß es."
Lily Stimme war kaum mehr als ein Flüstern gewesen, aber bei Hermine hatte er seine Wirkung nicht verfehlt. Sie schluckte und schlug die Augen nieder. „Ich möchte wissen, für welchen Trank du die Zutaten gestohlen hast und wofür du ihn benutzen wirst." Sie machte eine kurze Pause. „Und natürlich, wer dir dabei hilft." Lily trat einen Schritt auf Hermine zu. Sie war schon immer groß gewesen, eine weitere Ähnlichkeit mit Sev. Sie musterten sich kurz, wie zwei Tiere die einschätzen, ob sich der Aufwand eines Angriffes lohnen würde.
Hermine senkte ihren Blick zuerst, trat noch einen Schritt zurück bis sie gegen die Waschbecken stieß. „Aber beweisen kannst du es nicht." „Wir können es darauf ankommen lassen, wenn du willst. Es ist kurz vor der Sperrstunde, mit etwas Glück schaffe ich es noch hoch zur Eulerei und dann haben Professor Snape und Professor McGonagall Morgen gute Nachrichten zum Frühstück." Lily schaute ihren Lippen im Spiegel zu, wie sie sich langsam kräuselten. „Die Schule besitzt immer einen Vorrat an Veritaserum. Du weißt hoffentlich, was das ist?"
Hermines rechter Arm zuckte einen Moment, als würde sie sich für eine Antwort im Unterricht melden wollen. Dann ergriff sie den Arm mit ihrer linken Hand und presste ihn an ihren Oberkörper. „Das darf er gar nicht.", knurrte sie und erinnerte Lily dabei an eine in die Ecke gedrängte Raubkatze. Lily war klar, dass sich das 'er' auf Sev bezog. Das Verhältnis zwischen ihm und den Zweitklässlern schien wirklich gestört zu sein.
„Ich möchte mit dir nicht darüber diskutieren. Ich habe dir meine Forderungen gestellt, ob du annimmst oder nicht ist deine Sache. Du hast die Wahl." Hermine schnaubte und Lily unterdrückte ihr schlechtes Gewissen. Sie wusste, dass es keine Wahl war, sondern dass sie Hermine nur ein Ultimatum geboten hatte. „Nun, es ist wohl kein Wunder, dass Snape mit dir über seinen Vorratsschrank spricht. Du würdest gut in sein Haus passen." Hermines Worte waren spitz und kalt wie Eissplitter.
„Ich werde dir deine Wahl abnehmen. Du hast sowieso nie eine gehabt." Hermine widersprach ihr nicht. „Machen wir es also kurz." Lily senkte ihre Stimme, bis sie kaum mehr war, als ein Wispern. „Was macht ihr unten bei Myrte, von dem niemand erfahren darf?" Hermine schaute sie an, dann drehte sie sich langsam um. „Komm mit, ich zeige es dir.", sagte sie tonlos zu ihrem Spiegelbild. Wortlos gingen die Mädchen Seite an Seite die Treppe hinunter. Lily wusste nicht, was sie sagen sollte, auch wenn sie letztendlich triumphiert hatte, es fühlte sich nicht danach an. Natürlich hatte sie rein aus eigenem Interesse gehandelt, sie würde Sev nichts von Hermine erzählen. Und trotzdem hatte Lily ihre Worte so bewusst einschüchternd gewählt.
Du würdest gut in sein Haus passen. Die Worte hallten in ihrem Kopf nach, sie wollte vor ihnen wegrennen und wünschte sich, sie hätte Hermine niemals bei ihrem Diebstahl erwischt. „Hermine, ich-" Sie blieben vor Myrtes Toiletten stehen. Erstaunt drehte Hermine ihr den Kopf zu. „Ich wollte dich nicht bloßstellen. Ich habe noch niemandem etwas von meinen Vermutungen gesagt, ich wollte zuerst erfahren, warum du, oder ihr das macht!" Abschätzig musterte Hermine sie. „Über das warum wirst du von mir nichts erfahren." „Lass mich nur sichergehen, dass der Trank euch wenigstens nicht umbringen wird!" Sie schnaubte. „Glaub mir, Professor Snape mag eine Gryffindor schon nicht ohne Grund. Ich kann euch helfen, ich bin gut in Zaubertränke."
„Euch helfen? Ich mache das alleine." „Ach ja, ich vergaß. Feuerwerkskörper fliegen für gewöhnlich von allein in die Kessel der Slytherins." Hermine kniff die Lippen zusammen und schwieg und wendete sich von ihr ab. Als sie die Tür zu Myrtes Reich öffnete, vernahm Lily sogleich einen eigentümlichen Geruch.
„Vielsafttrank.", sagte sie mehr zu sich selbst als zu Hermine. Diese hatte sie aber gehört und ihrer mürrischen Mine folgte Beeindruckung. „Oh, ich liege richtig." Lily grinste. „Eine ganz schöne Aufgabe für Zweitklässler. Das ist UTZ-Niveau!" Hermine schob trotzig ihr Kinn vor. „Wir haben alles richtig gemacht, der Trank hat genau die richtige Farbe angenommen." „Wir?" Lily zog ihre Augenbrauen bis fast unter die Haarwurzel hoch und konnte ihr Grinsen kaum mehr verbergen. Aber Hermine schien es zum Glück ähnlich zu ergehen.
„Ich- Ich- Man darf sich doch wohl noch versprechen!", rief sie begleitet von einem genervten Stöhnen aus und schritt zu einer Kabinentür. Lily sah Hermines widerstrebendes Lachen im Spiegel. „Keine Sorge, ich werde auch Harry und- wie heißt er noch gleich? Achja, Ron, auch nicht verpfeifen." Hermine gab nur ein resigniertes Seufzen, dass Lily als Signal für die Richtigkeit ihrer Antwort wertete, von sich und gab die Sicht auf das Innere der Kabine frei. Nur wenige Zentmeter des Bodens waren nicht mit sämtlichen kleinen Flaschen und Päckchen zugestellt.
Es herrschte ein Chaos aus eingelegten Florfliegen, gehackter Niesenwurz und Löwenmäulchen. In der Mitte der ganzen Unordnung thronte, auf der kaum zu erkennenden Toilettenschüssel, ein Zinnkessel. Feine Dampfschwaden stiegen von ihm empor und verströmten den einzigartigen Geruch eines unfertigen Gebräus. Sie fächelte sich die Schwaden zu und nahm einen tiefen Atemzug. „Zweite oder dritte Woche?" „Dritte." „Florfliegen?" „Nein, in dem Buch steht..." Lily entkorkte das kleine Fläschchen mit den Fliegen und erhöhte mit der anderen Hand die Temperatur des Feuers, dass Hermine und die anderen schlauerweise in der Schüssel entfacht hatten.
„Du hilfst uns aber, oder? Ich will das nicht alles umsonst gemacht haben!" „Natürlich helfe ich euch, schau! Der Trank verfärbt sich schon leicht grünlich." Hermine schaute noch erstaunter als zuvor und Lily lächelte still in sich hinein. Die Zaubertrankrezepte waren lediglich eine Hilfestellung und mussten stets auf die eigene Situation angepasst werden. Außerdem war manches auch einfach nur veraltet.
Diese Lektion war mit das erste, dass Sev ihr über das Brauen beigebracht hatte. Nur weil du eine Anleitung hast, musst du noch lange nicht deinen Verstand ausschalten! „In etwa drei Tagen könnt ihr beginnen, die grauen Meeresalgen hinzuzufügen. Aber am besten in einer etwas geringeren Konzentration als vorgegeben, die Algen haben in der heutigen Zeit eine deutlich bessere Qualität als im 16.Jahrhundert. Ich nehme an, dass die Anleitung, die ihr benutzt, in etwa aus dieser Zeit stammt." Lily vollführte eine Zauberstabumdrehung. „Bis ein gelblich grünliches Gemisch mit langgezogenen Schwaden entsteht.", murmelte sie. „Jetzt stimmt es sogar mit dem Buch überein!"
Lily lächelte Hermine an. „Jetzt muss er nur noch etwas reifen, dann sollte er gelblich werden. Ich glaube das Verhältnis aus tierischen und pflanzlichen Zutaten war nicht ausgewogen. Meliv-Verhältnis oder so, den richtigen Begriff hab ich leider vergessen, aber jetzt sollte nichts mehr schiefgehen!" Hermine starrte sie mit einer Mischung aus Überraschung, Wut und Anerkennung an. Ihre Augen leuchteten Lily schon fast entgegen. „Woher weißt du das alles? Das ist beeindruckend!" Der freudige Glanz des Gelingens verschwand aus Lilys Augen. „Warum brauchst du einen Viertelliter Vielsafttrank?"
Hermine seufzte. „Stellen wir uns doch bitte keine Fragen, dessen Antworten nur aus Lügen bestehen würden. Du antwortest nicht auf meine Fragen, ich nicht auf deine." Lily senkte ihren Kopf zu einem Nicken. „Akzeptiert." „Wirst du noch einmal herkommen?", fragte Hermine. „Darf ich denn?", Lily zögerte. Es sah tatsächlich so aus, als habe Hermine alles unter Kontrolle. „Du könntest ja zu Beginn der Weihnachtsferien noch einmal vorbeischauen- Nur zur Sicherheit, damit wir uns nicht aus Versehen vergiften." Hermine lächelte zaghaft. „Oder fährst du über die Ferien hinweg nach Hause?" „Nein, das ließe sich einrichten. Ich bleibe im Schloss und stelle mich dem Erben Slytherins als Weihnachtsgeschenk zur Verfügung."
Obwohl es als Scherz gemeint war, lachte Hermine nicht. „Ich glaub nicht, dass Harry Colin und die anderen versteinert hat.", stellte Lily bestimmt fest und Hermine ließ sie Luft, die sie gerade erbost eingeatmet hatte, geräuschvoll aus. „Es ist nicht so leicht, im Moment. Vielleicht werde ich es Harry sagen. Er ist froh um jeden, der nicht glaubt, dass ihm Reißzähne wachsen, wenn er wütend ist." „Oh, ich glaube, du brauchst es ihm nicht zu sagen. Er weiß es schon, ich habe mich vor kurzem erst mit ihm unterhalten."
Hermine schaute sie verdutzt an. Es entstand eine kleine Pause zwischen ihnen. Hermine warf einen kurzen Blick auf ihre Armbanduhr, als würde ihr erst jetzt wieder bewusst werden, wie spät es schon war. „Ich glaube wir sollten uns beeilen, sonst begegnen wir noch jemandem, der uns ganz sicherlich vergiften könnte." „Snape?", fragte Lily, ohne dass ihr auffiel, dass sie gerade zum ersten Mal Sevs Spitznamen verwendet hatte. „Snape.", bestätigte Hermine. Zusammen machten sie sich auf den Weg in den Gemeinschaftsraum.
Als Lily wieder in ihrem weichen Himmelbett lag, beschloss sie, nichts von alledem Sev zu erzählen. Sie spürte ein Ziehen in der Magengegend, aber das ungute Gefühl wurde schnell von der aufkommenden Zufriedenheit und der überwältigenden Müdigkeit verdrängt. Lily schlief schnell ein.
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