01. die letzte stadt
DENVER ⸺ Johanna wollte diesen schönen Sonntag eigentlich damit verbringen, gemeinsam mit ihrer kleinen Schwester einen schönen Blumenkranz für ihre Mutter zu basteln, die schon den ganzen Morgen komisch drauf war. Eher ziemlich nervös wirkte. Die zwei dachten, es würde sie vielleicht aufmuntern und besser fühlen lassen. Leider wurde nichts aus diesem wundervollen Plan, den sie sich vorgenommen hatten. Als die Brünette Emma geholfen hatte, ihre grüne Lieblingsjacke richtig anzuziehen, waren die beiden endlich startklar, um in den kleinen Garten zu gehen.
Doch ihre Mutter machte ihnen einen Strich durch die Rechnung.
Die 10-Jährige stöhnte frustriert auf und verschränkte protestierend die Arme vor der Brust. »Aber Mom, wir wollten doch einen Blumenkranz für dich machen«, sprach sie anschließend und wippte mit ihren Füßen auf und ab, während sie ihrer Mutter dabei zusah, wie sie Thomas einen braunen gefüllten Rucksack auf die Schulter auf setzte. Verwirrt zog sie ihre Augenbrauen zusammen und nahm eine normale Position ein.
»Johanna, das ist sehr lieb. Aber wir haben keine Zeit dafür. Ich muss euch woanders hinbringen. Ihr seid hier nicht mehr sicher«, antwortete sie und sagte letzteres mehr oder weniger zu sich selbst, nahm anschließend ihren Sohn auf den Arm. Und bevor ihre älteste Tochter nachfragen konnte, was sie genau meinte, erhob sie noch ein weiteres Mal ihre Stimme: »Holst du bitte deinen und Emmas Rucksack? Sie stehen fertig gepackt im Wohnzimmer«. Sofort nickte das angesprochene Mädchen und flitzte in das Zimmer, um die zwei kleinen Gepäckstücke zu holen, auch wenn sie keinen blassen Schimmer hatte, wo ihre Mutter mit ihnen hin wollte. Im Radio hatte sie zwar schon einiges mitgehört, dass ein Virus ausgebrochen sei.
Doch wirklich mit diesem Thema befasst hatte sie sich nicht. Schließlich war Johanna noch ein Kind und hätte ohnehin mit ihren Zehn Jahren nichts davon verstehen können. Liebevoll nahm sie die kleinere Hand von ihrer Schwester in ihre eigene und während sie in der anderen Hand ihren Rucksack hielt, hatte Emma ihren zuvor aufgesetzt.
Die Mutter öffnete die Haustür und griff danach direkt nach dem Autoschlüssel, welcher auf einer Holzkommode im Flur in einer kleinen, grauen Schale deponiert war. Hinter sich ließ die Frau die Tür anschließend ins Schloss fallen und lief mit ihren Kindern hinüber zu einem gelben Skoda Fabia, der bereits einige Jahre hinter sich hatte. Johanna öffnete die Tür hinter dem Beifahrersitz, nachdem ihre Mutter anschließend das Auto aufgeschlossen hatte und wartete, bis das Braunhaarige Mädchen in ihrem Kindersitz platz genommen hatte, um sie mit dem schwarzen Gurt anschnallen zu können.
Thomas hatte sich neben ihr auf seinen Kindersitz gesetzt und wurde im selben Moment von seiner Mutter angeschnallt, ehe sie die Tür zu machte und vorne auf den Fahrersitz einstieg. Erst, als ihre älteste Tochter die Tür bei Emma geschlossen und ebenfalls sich vorne hingesetzt hatte, startete sie den Motor des Skodas. Hoffentlich würden wir noch rechtzeitig die Tore der letzten Stadt erreichen, dachte sich die Frau und fuhr die Landstraße entlang, die direkt zum Hauptsitz der Organisation ANGST führte.
Sie war sich selbst nicht einmal sicher was genau die Abteilung Nachepidemische Grundlagenforschung, Sonderexperimente Todeszone für Experimente durchführte. Und irgendwie war es ihr auch in diesem Moment völlig egal. Sie wollte nur ihre Kinder schnellstmöglich hinter den hohen, schützenden Mauern bringen, die die letzte Stadt vor den Menschen und den Infizierten verbarg. Man konnte von Glück reden, dass nach dem Ausbruch des Virus das kleine, abgelegene Dorf verschont geblieben war — zumindest bis zu diesem Zeitpunkt.
Abgesehen von ihnen und ein paar weiteren kleinen Familien, waren sie die einzigen, die sich noch dort aufgehalten hatten.
In einem hohen Tempo fuhr sie die Straße entlang, bis zu einer Kreuzung und warf kurz einen Blick auf das Schild am Straßenrand, ehe sie letztendlich nach rechts abog. Es würde allerdings noch eine Weile dauern, bis sie das massive Gebäude erreicht haben. In der Zwischenzeit war die jüngste in ihrem Kindersitz eingeschlafen und hielt die Hand ihres Bruders fest in ihrer, welcher gebannt nach draußen schaute und die vorbeiziehende Landschaft begutachtete. Das tat er immer bei Autofahrten und fragte sich daher auch, warum Emma schlafen konnte, wenn die Außenwelt so faszinierend war.
Vielleicht lag es auch daran, weil er der einzige war, der es so spannend fand, seine Umgebung ausgiebig zu erkunden. Er war einfach die Neugierde in Person und interessierte sich für alles Mögliche, das er in seinem Umfeld erblickte. Mit seinem Daumen strich er beruhigend über die kleine Hand des Braunhaarigen Mädchens, um ihr ein Gefühl von Sicherheit und Geborgenheit zu geben, während sie ihren Traum nachjagte.
Immer mehr zerfallene Häuser zogen an seinem Fenster vorbei und erinnerten daran, dass die Hälfte der Menschheit bereits ausgestorben und vom Virus betroffen war. Es war für Johanna immer noch ein Rätsel, warum ihre Mutter so plötzlich den Drang dazu hatte, das Haus zu verlassen. Aber vielleicht war dieses Virus sehr schlimm, vermutete sie in ihren Gedanken. Und dann auch noch, ohne für sich irgendwelche Sachen zu packen, als würde sie nicht mitkommen, wo sie die Brünette und ihre Geschwister hinbringen wollte. Von weitem erkannte sie bereits ein großes Gebäude, das von Mauern umringt war. Es sah beinahe wie ein Gefängnis aus. Kein Weg rein und keiner heraus.
In Denver war es die letzte intakte Metropole der Erde und der Hauptsitz von der Organisation, die von einer gewissen Ava Paige geleitet wurde. Je näher sie dem Hauptsitz von ANGST kamen, erkannte sie eine Gruppe von Menschen, die einen Gitterzaun umschlossen und versuchten, irgendwie einen Weg hinein zu finden. Hinter diesem befanden sich einige bewaffnete Soldaten, die versuchten, die Menge davon abzuhalten, hinter den Zaun zu gelangen.
Warum nur?
Obwohl sie selbst dann noch von hohen Mauern mit hochentwickelten Abwehrwaffen weiter daran gehindert wurden, in die Stadt vorzudringen. Der Skoda parkte neben einem bereits verrosteten Citroën, welchen man gerade noch so erkennen konnte, vorne an dem Zeichen der Automarke.
Johanna wusste das allerdings auch nur von ihrem Vater, der, bevor er ohne jeglichen Grund gegangen war, einiges über die verschiedensten Autos erzählt hatte. Sie schnallte sich ab und öffnete die Beifahrertür, um anschließend die Tür für ihre Schwester zu öffnen, die durch den vielen Lärm der Menschen nun wach geworden war. Nachdem sie sich abgeschnallt hatte, stieg sie mit der Hilfe ihrer älteren Schwester aus dem Auto. Ihren Rucksack hatte sie fest an den Oberkörper gepresst, aus Angst, sie könnte ihn möglicherweise verlieren.
Sie betrachtete argwöhnisch die große Gruppe am Zaun und versteckte sich leicht hinter der Brünetten. Thomas trat an ihre Seite und legte behutsam seine Hand auf ihre Schulter, um ihr zu zeigen, dass alles okay war und schenkte ihr zusätzlich ein kleines Lächeln.
Es würde schon alles gut werden. Sie war schließlich nicht alleine.
Eine Weile hatte Johanna die vielen unterschiedlichen Menschen beobachtet, ehe sie zusammen mit ihrer Mutter und ihren jüngeren Geschwistern einen Weg durch die Masse nach ganz vorne suchte. Thomas war auf den Armen der Frau, während sie mit der anderen Hand Emma festhielt, damit sie nicht verloren ging und behielt die Brünette fest im Blick, die bereits vor dem Gitterzaun stehen geblieben war und einen Soldaten hinter diesem musterte. Er hatte, wie die anderen auch, eine schwarze Uniform an und trug eine große Waffe bei sich, welche ihr doch schon ein kleines bisschen Angst machte.
Ihr Blick glitt zurück zu ihrer Mutter, die ihren Bruder runtergelassen hatte und sich nun vor ihm auf den Steinboden kniete. »Vergiss nicht, ich liebe dich«, meinte sie zu ihm und ein trauriges Lächeln umspielte ihre schmalen Lippen, das Johanna sofort bemerkt hatte und fragte sich unwillkürlich stumm in ihren Gedanken, warum sie traurig war. »Ich liebe dich, Thomas«, wiederholte sie noch einmal ihre Worte und streichelte zärtlich über seine Wange, bevor sie sich zu ihrer jüngsten Tochter drehte — das traurige Lächeln stets im Gesicht. Sie drückte Emma einen sanften Kuss auf die Stirn und strich ihr eine verirrte Haarsträhne hinter ihr Ohr.
Die Brünette hatte sich inzwischen komplett zu ihrer Mutter gedreht und nahm nur leicht im Augenwinkel wahr, wie ihr Bruder und Emma plötzlich hinter den Zaun gehoben wurden. »Johanna, versprich mir bitte, dass du auf deine Geschwister gut acht gibst, ja?«, meinte sie und legte zärtlich ihre große Hand auf ihre Wange, strich mit ihrem Daumen anschließend über diese. Einen Moment schaute sie ihrer ältesten Tochter noch einmal in ihre bezaubernden, haselnussbraunen Augen und entfernte sich dann auf einmal von ihr.
Zeitgleich spürte sie grobe Hände an ihren Oberarmen und wurde anschließend über den Gitterzaun gehoben. Den Blick stets auf ihre Mutter gerichtet, die immer weiter von den anderen Menschen nach hinten gedrängt wurde, sodass Johanna sie letztendlich aus den Augen verloren hatte. »Mom!«, schrie sie laut und hoffte auf irgendein Zeichen von ihrer Mutter.
Doch sie war weg.
Ihre Mom war weg. Einfach so.
©-FANTASIEWOLKE™ 2023
Bạn đang đọc truyện trên: Truyen247.Pro