
𝗗𝗜𝗘 𝗧𝗔𝗚𝗘 𝗗𝗔𝗡𝗔𝗖𝗛
Plötzlich wird es still. Viel zu still. Wir trauen uns nicht, uns zu bewegen und stehen aneinandergeklammert in der hintersten Ecke, um zu lauschen.
Um irgendeinen weiteren gellenden Laut zu horchen, der uns in der Hölle Willkommen heißt, bevor uns das Fleisch vom Körper gerissen wird und unsere Knochen zersplittern wie Glas.
Die Ruhe um uns herum ist so bedrohlich, dass ich glaube meinen viel zu schnellen Herzschlag hören zu können. In jedem Fall höre ich Steve's leises Weinen. Natürlich weint er. Er hat auch begriffen, dass wir draufgehen werden.
Es ist so lange ruhig, bis sich die Tür mit einem Ächzen öffnet. Zentimeter für Zentimeter. Ich kann ihr Quietschen wie ein Klingeln in meinen Ohren hören. Dann ein Räuspern, gefolgt von einer lispelnden Stimme, die durch den Raum schallt.
"Hat einer von euch ein Taschentuch dabei?", fragt Dustin und als ich meinen Tränennassen Blick hebe, stehen sie alle im Türrahmen.
Dustin, Mike, Lucas, Max, Robin und ein Mädchen, der ein vereinzelter Bluttropfen unter der Nase entlang läuft.
Sie alle sehen schockiert und überfordert mit der Situation aus. Und ich bin es auch. Obwohl ich eigentlich nicht vorgehabt habe zu sterben, wünsche ich mir in diesem Moment nichts Sehnlicheres.
Genau das, wovor ich Angst gehabt habe, ist eingetreten. Sie alle wissen von meinem Schicksal und sehen mich mit einer Mischung aus Mitleid und Verzweiflung an. Ich hasse es jetzt schon.
Ohne ein Wort an sie zu richten oder Steve überhaupt anzusehen, löse ich mich von ihm und dränge mich zwischen ihnen hindurch.
Ich schlucke schwer, als ich den leblosen Körper einer Kreatur neben mir auf dem Boden liegen sehe. Sie sieht grausam aus. Mit ihrem weit aufklaffenden Maul, dass mich an eine fleischfressende Pflanze erinnert.
Es stimmt also. Alles davon.
Unter anderen Umständen hätte ich mir einen Moment genommen, um das Wesen richtig anzusehen. Mich an seinem Ekel zu laben, gleichermaßen fasziniert wie angewidert. Unter anderen Umständen wäre ich ausgerastet. Vor Entsetzen und vor Aufregung.
Meine kühnsten Sciene-Fiction-Träume werden hier gerade war. Und ich tue nichts anderes als schnellstens das Weite zu suchen.
Von meinen schlurfenden Schritten und einem immer wieder kehrenden Schluchzen begleitet, das aus meinen Lippen tritt, gehe ich den Weg zurück, den wir vorhin entlang gegangen sind.
Und irgendwie hoffe ich, dass noch so ein Viech auf mich wartet und mich aus der Situation befreit.
Natürlich tritt dieser Fall nicht ein. Warum sollte es auch einmal nach meinen Wünschen laufen?
Das war es nicht in der Vergangenheit, in der sich mein Vater immer wieder an mir vergangen hat und das war es auch nicht, als ich nach seinem Tod gezwungen wurde, bei den Harringtons einzuziehen.
Ich bin glücklich Steve an meiner Seite zu haben, weil er für mich immer mehr Familie gewesen ist, als alle anderen zusammen. Ja, auch, wenn er mir auf die Nerven gegangen ist.
Aber genauso sehr gleicht es für mich einen Höllenritt, bei Peter zu sein. Er sieht meinem Erzeuger einfach zu ähnlich.
Peter ist ein schrecklicher Vater, der schreckliche Worte zu seinem Sohn sagt, wenn er denn überhaupt mit ihm spricht. Aber er ist kein Mensch, der sein eigenes Kind missbraucht. Das ist das einzig Gute an ihm.
Trotzdem macht es mir das unheimlich schwer, bei ihnen zu wohnen. Die Erleichterung, als sie zu einem Kurzurlaub aufgebrochen sind, war so immens, dass ich selbst erschrocken darüber war.
Ich habe wirklich gedacht das alles verarbeitet zu haben ohne es zu verarbeiten. Verdrängung as it's best.
"Charly!", ruft eine vertraute Stimme und ich höre ihre unbeholfenen Schritte, die über den Betonboden traben.
Robin. Nein.
Ich kann ihr unmöglich unter die Augen treten. Keinen von ihnen. Ich würde wegziehen müssen, auswandern, mich informieren wie weit sie mit dem Leben auf dem Mond gekommen sind.
"Charlotte!". Steve. Nur er nennt mich bei meinem vollen Namen und eigentlich nur dann, wenn er mich ärgern will. Oder wie jetzt meine Aufmerksamkeit erregen will.
Weil ich nicht weiter das bockige Kind spielen will, drehe ich mich seufzend um und wische mir die neuen Tränen aus dem Augenwinkel.
Ich sehe Robin einige Meter von mir entfernt stehen, sie geht langsam auf mich zu, wird aber von Steve aufgehalten, der sie sanft doch bestimmt wegschiebt.
Dann eilt er mit schnellen und langen Schritten auf mich zu. Als er vor mir zum Stehen kommt, sieht er mich eine unerträgliche Ewigkeit lang still an.
Sein Blick ist dabei so intensiv und mitfühlend, dass ich gleich wieder weg will. Genau das kann und will ich nicht ertragen. Ich will kein Opfer sein. Ich will nicht gebrandmarkt davon sein, dass mir Schlimmes passiert ist. Das macht mich nicht aus.
Mein Lachkoffer, bestehend aus diversen Lacharten, macht mich aus. Die Fähigkeit mich wie eine Nutte zu stylen und dabei trotzdem halbwegs intellektuell zu wirken, macht mich aus. Meine sarkastische Ader macht mich aus. Von meinem Vater missbraucht worden zu sein, nicht.
"Ich bin froh, dass er sich selbst umgelegt hat mit dem Brand. Sonst hätte ich ihn hiermit umbringen müssen.", Steve deutet auf seinen mit Nägeln behangenen Baseballschläger. "Und ich bin eindeutig zu hübsch für den Knast.", legt er mit einem Grinsen auf den Lippen nach.
Ich atme erleichtert aus und werfe mich ein zweites Mal in seine Arme. Nicht, weil ich den Trost brauche. Sondern, weil ich so dankbar bin, wie er die Situation handhabt.
"Können wir bitte hier verschwinden?", bitte ich flehentlich und löse mich langsam von ihm. Er nickt unentschlossen.
"Möchtest du mit keinen von ihnen reden? Auch nicht mit Robin?", fragt er vorsichtig, woraufhin ich eindringlich mit dem Kopf schüttele.
Bloß nicht. Sie würden mir beteuern, wie leid es ihnen tut und das würde mich noch unwohler fühlen lassen.
Ich kann eh nicht aufhalten, was bereits im Gange ist. Ein unsichtbarer Schleier, der sich um mich gelegt hat und immer, wenn sie mich ansehen werden, davon singen wird was ich durchgemacht habe.
Naiverweise habe ich gehofft, dass Hawkins hinsichtlich meiner Vergangenheit ein kleiner Neuanfang werden könnte. Vor allem, weil kein anderer aus meiner Familie je Kenntnis von den Gräueltaten meines Vater gehabt hat.
Steve würde es nicht seinen Eltern erzählen. Oder? Ich will es mir nicht einmal ausmalen. Peter würde mir nie glauben. Und das wäre ein weiterer Kampf, den ich nicht bereit bin, zu kämpfen.
"Warte bitte kurz. Ich...ich sage ihnen Bescheid.", murmelt Steve und wartet auf eine Reaktion von mir. Aber ich gebe ihm viel zu lange keine.
Weil sich mein Blick, trotz der Entfernung in Robin's Kornblumenblaue Augen brennt und mich aus dem Hier und Jetzt reißt.
Ich denke an Steve's Offenbarung von vorhin und wieder strömt eine Vielzahl an Schmetterlingen durch meinen Bauch. Sie flattern aufgeregt umher, so sehr, dass ich meine Aufregung noch in meinem Hals pulsieren spüre.
"Charles?", holt mich Steve in die Gegenwart zurück. Ich blinzele einige Male und wende meinen Blick von Buckley ab. Dann sehe ich ihn an, nicke zögerlich und drehe mich von den anderen weg.
Ich würde ihnen gerne Tschüss sagen, zumindest mit einem kleinen Winken, aber ich schaffe es nicht. Ich möchte einfach so tun, als ob nichts gewesen ist. Den Rest des Tages überstehen, die nächsten zwei und mich dann in den Sommerferien in meinem Leid suhlen.
Nur meinen neuen Bikini würde ich ausführen. Im Garten der Harringtons, am Hauseigenen Pool. Ich würde mich von der Menschheit abschotten und Lory dazu zwingen, mir Cocktails zu machen.
Vielleicht würde ich ungerecht sein und sie bestechen müssen, aber das würde schon klargehen. Leonora hat ein Gespür dafür, wenn es mir schlecht geht. Sie ist immer Schwester, beste Freundin und Mutter in einem gewesen. Oder zumindest etwas, das dem sehr nahe kommt.
"Geh nur.", flüstere ich kraftlos, sehe zu wie er zu ihnen geht und warte darauf, dass er zu mir zurückkommt.
Unruhig werfe ich einen Blick auf meine digitale Armbanduhr. Sie hat einige Kratzer abbekommen und das Plastik ist an manchen Stellen eingerissen, aber sie funktioniert noch.
Die Schule ist längst vorbei und ich habe nicht eine einzige Sekunde davon mitbekommen. Grandios. Ich würde also den Rest des Tages damit verbringen, mir eine passende Ausrede einfallen zu lassen, weshalb ich in keinem einzigen Kurs aufgetaucht bin.
Als Steve endlich wieder zu mir stößt, atme ich erleichtert aus. Ich ertrage gerade keine Nähe, aber mit Steve ist es anders. Ich bin mir sicher - oder zumindest zu großen Teilen - , dass er mich nicht mehr darauf ansprechen wird.
Wir gehen stumm nebeneinander her und weil uns jetzt hoffentlich keine Bedrohung mehr erwartet, nehme ich mir die Zeit und betrachte den dunklen Gang genauer.
Immer wieder ist die Betonmauer durch Krallenspuren unterbrochen, sie sind so tief, dass ich mir unweigerlich vorstelle wie es sich angefühlt hätte, hätte uns eines der Monster damit erwischt.
Das Brennen meiner Wunde am Knie ist ein Zuckerschlecken dagegen. Da bin ich mir sicher. Trotzdem ist es ein unangenehmes Gefühl, dass das getrocknete Blut hinterlässt. Mit jedem Schritt spüre ich die angetrocknete Oberfläche ein bisschen mehr einreißen.
Wenn der Weg von vorhin mir schon lang vorgekommen war, so ist er jetzt vergleichbar mit einer dieser nervigen Schulwanderungen, zu denen man jährlich gezwungen wird. Unendlich und an den Nerven zerrend.
Nicht zuletzt, weil wir immer noch kein Wort miteinander gesprochen haben. Aber ich weiß auch nicht, was ich sagen soll.
Bin ich sonst immer perfektioniert darin, die Themen zu wechseln, sodass kein Gesprächspartner mir folgen kann, ist es nun eine Ratlosigkeit, die Besitz von mir ergreift. Ich weiß nicht, was ich erzählen soll.
Also gehen wir schweigsam weiter und als wir nach einer noch stilleren Autofahrt endlich an unserem Haus ankommen, springe ich noch während Steve einparkt aus dem Auto und verschwinde in meinem Zimmer.
Ich brauche dringend etwas Zeit für mich. Weine Tränen über Tränen, malträtiere mein Kissen bis es kaum noch Volumen besitzt und sehe mir dreimal hintereinander Zurück in die Zukunft an.
Zusammengefasst tue ich alles, um die Zeit bis zum nächsten Morgen irgendwie zu überstehen. Und auch dann mache ich nichts großartig anderes.
Mühselig überstehe ich die vielen Schulstunden, bin überrascht darüber, dass niemand nach meiner Abwesenheit fragt (vielleicht ist es wirklich so, dass es so kurz vor den Ferien niemand interessiert) und bin noch überraschter darüber, dass Robin in keinem meiner Kurse ist. Ich hätte darauf gewettet, dass wir uns in mindestens einem über den Weg laufen. Wenigstens in Spanisch.
Aber ich sehe weder sie, noch jemand anderen. Aus der Entfernung erblicke ich ab und an Eddie oder Billy. Ersterem werfe ich ein schüchternes Lächeln zu, bei letzterem verdrehe ich einfach nur genervt die Augen.
Eines der Kinder sehe ich überhaupt nicht. Sie sind alle gegenüber in der Mittelschule. Zumindest Max hätte ich erwartet. In einem weiteren Versuch ihrem Idioten von Bruder den Arsch zu retten. Aber auch das passiert nicht.
Steve und ich leben die nächsten zwei Tage in einer mehr oder weniger unliebsamen Koexistenz. Er bemüht sich sehr, will locker mit mir umgehen und mich ablenken. Aber ich liege lieber in dem Kingsizebed und schaue den immer gleichen Film, den ich eh schon seit Jahren mitsprechen kann.
Normalerweise hasse ich den Prunk im Haus der Harringtons, aber momentan kommt mir der Luxus eines eigenen Fernsehers mehr als gelegen.
Der letzte Schultag ist die Krönung einer beschissenen Woche. Ich erhasche einen viel zu langen Blick auf Robin in ihrer Elmo-Kermit-Uniform und als ich mich selbst dabei erwische, schaue ich schnell wieder weg.
Ich nehme wie in einer Hülle lebend die laute Musik der Schulband wahr, mein Kopf ist überall, aber nicht in der Turnhalle. Als alle zum Beginn der Ferien zu Jubeln beginnen, tue ich es ihnen gleich. Einmal um den Schein zu wahren und weil ich wirklich glücklich darüber bin, die nächsten 3 Monate nicht hier sein zu müssen.
Auf dem Rückweg bitte ich Steve darum, kurz bei einem kleinen Elektronikladen zu halten. Er wird von einem so alten Mann geführt, dass ich bei seinem Anblick Angst habe, dass er über seinen überdimensional große Krückstock stolpert.
Das tut er nicht und er ist auch erstaunlich schnell für sein gebrechliches Alter. Mit einem Herzerwärmenden Lächeln übergibt er mir die Polaroids, die ich ihm gestern überlassen habe. Ich wollte, dass sie eine bessere Qualität besitzen als die Ergebnisse, die direkt aus meiner Kamera gekommen waren.
Die Fotos, die ich jetzt in den Händen halte sind so viel farbintensiver und schöner. Und obwohl ich eigentlich nicht an die letzten Tage denken will, lächele ich bei ihrem Anblick. Sie würden ein eigenes Album bekommen. Das mussten sie einfach.
Nur wenig später finde ich mich indem selben Bett wieder, in dem ich auch die letzten qualvollen Tage verbracht habe. Mit der gleichen Bettwäsche, die Lory schon eine Millionen Mal waschen wollte. Doch ich habe es nicht zugelassen.
In mir tobt ein Kampf. Die Entscheidung, ob ich nochmals Michael J. Fox dabei zusehen soll, wie er in die Vergangenheit reist oder ob ich mit dem Fotoalbum anfange.
Ich entscheide mich für letzteres und krame aus meinem Rucksack (ja ich lebe immer noch daraus) die Fotos. Sticker und Marker lasse ich vorerst weg. Ich will die Polaroids erst einmal einfach nur einkleben.
Das ist sie also. Meine erste Woche in Hawkins. Der Anblick der Momentaufnahmen entlockt mir ein trauriges Lächeln. Seufzend lasse ich mich nach hinten fallen und schließe die Augen. Würde ich neue Erinnerungen schaffen können? Ich weiß es nicht.
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