
𝟐𝟔│𝑲𝒊𝒆𝒓𝒂
Kiera
Ich habe Colin geküsst. Zweimal.
Zweimal zu viel.
Verdammt.
Ich beiße mir auf die Lippe und stoße einen lauten Fluch aus, als ich mich an der Kante des Pappkarton mit den Leuchtstäben für den Eröffnungstanz schneide. Ein roter Riss ziert die Innenseite meines rechten Zeigefingers. Blut folgt kurz darauf. Ich nehme meinen Finger in den Mund und sauge an der betroffenen Stelle. Ein metallischer Geschmack macht sich auf meiner Zunge breit, den ich zusammen mit einem Schluck Rotwein herunterspüle. Igitt.
Seufzend mache ich mich wieder an die Arbeit. Josh und Kaitlyn haben vor wenigen Sekunden die Tanzfläche eröffnet mit ihrem einstudierten Walzer zu dem Song »A Thousand Years«, was bei mir nur Thousand Tears verursacht hat.
Die Stimmung, das Ambiente, sie- alles war einfach perfekt. Das Licht war gedimmt, die Gäste hatten sich in einen Kreis um das Hochzeitspaar aufgestellt und die Leuchtstäbe in den Händen hin und her geschwenkt, während die beiden die Tanzfläche als Paar erobert hatten. So wie es in Filmen immer der Fall war.
Als Josh vor Kaitlyn danach nochmals auf die Knie gefallen ist und ihr erklärt hat, wie sehr er sie liebte, war es um mich geschehen. Von da an rannen die Tränen meine Wangen hinunter und mein weniges Make-Up war wie weggeschwemmt. Erst recht, als Colins aufdringliche Tante sich neben mich gestellt hatte und mir zu flüsterte, wie sehr sie sich auf unseren Tanz freuen würde.
Ab diesem Zeitpunkt konnte ich den Tränenschwall nicht mehr stoppen. Mich schmerzte diese Lüge mit der Verlobung so sehr. Ich hatte das alles verdammt nochmal satt.
Aber noch mehr schmerzte es mich zu wissen, dass ich das, was Kaitlyn und Josh hatten, nicht habe. Ich habe niemanden an meiner Seite, der mir sagte, wie sehr er mich liebt und vergöttert. Ich habe niemanden, der mit mir so einen Tanz absolvieren würde. Ich bin allein. Single.
Zwar hatte Single-Sein durchaus seine Vorzüge, aber in diesem Moment wurde ich gehörig mit den Nachteilen konfrontiert.
Single-sein ist scheiße. Ich wollte jemanden, der mich auch in den Arm nahm, wenn es mir schlecht ging. Ich wollte jemanden, der mir seine ungeteilte Liebe und Aufmerksamkeit schenkte. Ich wollte jemanden, der mich anschaute als wäre ich die Sonne, um die sich alles drehte. Und ich wollte jemanden, auf den man sich freuen konnte, wenn man nach Hause kam.
Im Nachhinein verbuche ich diese im Selbstmitleid ertränkten Gedanken als Folge eines absoluten Überschusses an Östrogen und den drei Shots Schnaps, die ich vorher heruntergekippt hatte, um eventuell gewisse Dinge oder Personen aus meinem Kopf zu verdrängen. Geklappt hat es nicht. Er ist nach wie vor präsent in meinen Kopf und präsent in diesem Saal, auch wenn ich ihn bislang nicht zwischen den Tanzenden entdeckt habe, spüre ich, dass er hier irgendwo auf der Lauer liegt.
Ich stelle den Karton mit den Leuchtstäben, die ich gerade alle eingesammelt habe, auf einen Stuhl ab und setze mich auf den freien Platz daneben. Mein Blick gleitet zur Tanzfläche. Die anfangs teilweise emotionale Musik wird jetzt abgelöst durch alte Party Klassiker. Das schwarz, leicht metallic schimmernde Parkett der Tanzfläche ist gerammelte voll mit Gästen, die wild umher toben und ihre Körper im Takt der Musik schwingen. Von jung bis alt ist alles dabei.
Mir sticht besonders ein Pärchen am Rand ins Auge, das noch ziemlich frisch verliebt sein muss. Der Junge hat dem blondhaarigen Mädchen schüchtern die Hände um die Taille gelegt und weiß nicht recht, was er mit seinen Füßen anfangen soll, aber das scheint das Mädchen nicht zu stören. Sie hat nur Augen für ihn und schmiegt sich eng an seine Brust.
Frustriert seufze ich auf. Wie gerne würde ich jetzt auch tanzen.
Stattdessen sitze ich am Rand und muss deprimiert mit ansehen, wie ein Pärchen nach dem nächsten ihre Runden vor mir drehen.
»Hey.«
Mein Blick fährt zur Seite. Ich schlucke und wende den Blick sofort wieder nach vorne, als ich sehe, wer da steht.
»Hey«, antworte ich genauso trocken zurück, immer noch fokussiert auf die Tanzfläche vor uns.
Aus dem Augenwinkel nehme ich wahr, wie Colin den Pappkarton hochhebt und den Stuhl darunter näher zu mir heranschiebt, bevor er sein Gemächt darauf positioniert.
Sekunden vergehen. Wir schweigen, beobachten stumm die tanzenden Gäste.
»Kiera...«
Seine Hand ruht plötzlich auf der nackten Haut meines Oberschenkels, weil mein Kleid vom Sitzen hochgerutscht ist. Ich weiß nicht, was das soll.
Bestimmend will ich seine Hand wegwischen, aber er widersetzt sich.
»Sieh mich an, Kiera«, fordert er. Ich sehe ihn an. Er nimmt die Hand weg.
»Ist alles okay? Also zwischen uns, meine ich?«
»Ja, alles cool«, höre ich mich selbst sagen, wobei die Stimme in meinem Kopf nur schrillt: Lüge! Lüge!
»Lass uns einfach vergessen, was vorhin passiert ist. Es hat nichts bedeutet«, schiebe ich mit Nachdruck hinterher und richte den Blick wieder nach vorne.
Gleichzeitig wundere ich mich selbst über meine eigenen Worte. Der Kuss hat mir nichts bedeutet? Ist das so? Ehrlich gesagt, weiß ich es nicht.
Der Kuss war so anders, so verdammt vertraut. Erst war ich unsicher, weil ich wirklich nicht wusste, was ich machen sollte. Doch ich konnte Colin nicht hängen lassen. Wir beide steckten schon viel zu tief drin. Also habe ich ihn geküsst. Das erste Mal. Ich war vorsichtig, wusste nicht wie weit ich gehen sollte und verdammt, es würde Colin den Push seines Lebens für sein Ego geben, wenn er wüsste, was für ein genialer Küsser er ist. Deswegen konnte, nein, musste ich ihn nochmal küssen. Es ist wie bei Schokolade. Hast du erstmal ein Stück gegessen, willst du gleich danach noch ein zweites. Sein leises Stöhnen hat endgültig alle Seile, die mich am Boden der Vernunft gehalten haben, gekappt. Ich war ihm ausgeliefert und er mir.
Ein berauschender Zustand, der mich komplett aus der Bahn gerissen hat und all die Wut gegenüber ihn in Luft aufgelöst hat. Wie als wäre sie verpufft und nun versuche ich verzweifelt, die einzelnen Teile zu fangen, um die alte Ordnung herzustellen, bekommen aber nur laue Luft zu fassen.
Wie soll ich ihn hassen, wenn er solche Geschütze auffährt?
Ich glaube bis jetzt noch, den Geschmack von Minze durch seine Lippen auf meinen zu spüren, kann nicht dieses forsche Verlangen vergessen, mit dem er seine Hände gegen meine Taille gepresst hat, um mich an sich zu ziehen.
Das alles hat sich viel zu gut angefühlt als das es echt ist. Colin würde niemals etwas von mir wollen und ich auch nicht von ihm. Das alles ist nur ein Spiel für ihn, indem ich eine Schachfigur bin, wenn gleich auch die Königin. Ich muss aufhören zu träumen, mir Gedanken über etwas zu machen, in das ich womöglich zu viel hinein interpretieren und am Ende zu sowieso nichts führt.
»Wir haben eine Mission, schon vergessen?«, erinnere ich ihn unverwandt.
»Klar«, kommt es nach einigen quälend langen Sekunden von der Seite. Und danach: »Mission 'ImKOTZible' kann weitergehen.«
Ich unterdrücke ein Grinsen bei dem Klang dieses bescheuerten Namens.
»Wir hatten uns doch auf Mission 'Turteltauben' geeinigt!«, werfe ich vorwurfsvoll ein. Colin schüttelt den Kopf.
»Nein, du hattest dich dafür ausgesprochen. Ich finde nach wie vor meinen Vorschlag um Dimensionen besser« Er lacht und ich merke, wie jegliche Anspannung, die seine Anwesenheit in mir ausgelöst hatte, von mir abfällt.
»Träum nicht, Walker!«, schieße ich hinterher und rolle mit den Augen.
»Oh von sowas träume ich ganz bestimmt nicht, Chiara.«
»Ewww.« Ich verziehe angeekelt das Gesicht, bin aber innerlich glücklich, dass alles wieder beim Alten zu sein scheint. Dass wir die Alten sind.
Mein Blick fällt zurück auf die Tanzfläche.
Josh versucht sich gerade daran, Großmutter zum Tanzen zu bewegen, währenddessen mein Blick zu meiner Mum gleitet, die- woah das glaube ich jetzt nicht!
Himmelherrgott, Loch im Boden tue dich auf! Ich kenne diese Frau nicht!
»Sag mal, tanzt deine Mum gerade mit ner Weinflasche?«, fragt Colin mich verwundert. Er hat den Kopf leicht schief gelegt und betrachtet genau wie ich meine Mum, deren Tanzpartner aus einer Flasche Rotwein besteht, die sie in ihrer Hand hin und her wiegt wie ein Baby. Ab und zu stoppt sie, schraubt den Deckel auf, nimmt einen Schluck, verschließt die Flasche wieder und dreht sich anschließend weiter im Kreis, als wäre es das Natürlichste auf der Welt mit einer Flasche Walzer zu tanzen.
»Jap, das ist meine Mum«, seufze ich nur. Immerhin ist eine von uns beiden glücklich und hat einen Tanzpartner gefunden. Von mir kann man das ja nicht behaupten. Vielleicht sollte ich mich zu ihr gesellen und die Schnapsflasche auf diesem Tisch als meinen persönlichen Tanzpartner missbrauchen?
»Chiara...«
»Mmhh?«
»Hast du vielleicht Lust mit mi-»
Oh, mein Gott! Oh, mein Gott!
»JA!«, sage ich ohne groß zu zögern.
Ich muss Colin in diesem Moment angrinsen wie so ein Honigkuchenpferd. Ich kann es einfach nicht glauben! Wer hätte das gedacht! Also ich nicht.
Colin Walker will mit mir tanzen! Es geschehen noch Wunder!
Ich fackele nicht lange, wer weiß, nicht das er noch sein Angebot plötzlich zurückzieht, und folge Colin, der mit festen Schritten voraus geht- an der Tanzfläche vorbei.
Hä?
»Ehm...Wohin gehst du?« Er stoppt, dreht sich herum.
»Na zur Bar. Du warst doch einverstanden, dass wir einen trinken.«
Trinken? Er will mit mir einen trinken? Nicht tanzen? Oh Gott, wie konnte ich nur ernsthaft glauben, dass er mit mir tanzen würde!
Wie peinlich!
Ich ärgere mich selbst über meine dumme Hinnahme, dass ich dachte, er würde mich zum Tanzen auffordern. Was habe ich mir nur dabei gedacht? Das ist Colin, verdammt nochmal!
»Ich...ehm...« Angestrengt beiße ich mir auf die Lippe, weiß nicht, was ich sagen soll. Ehrlich gesagt, fehlen mir gerade die Worte. Ich will es nicht zugeben, aber ich bin enttäuscht. Nur ein kleines bisschen.
Okay, vielleicht mehr als kleines bisschen, dass er noch nicht mal in Betracht gezogen hat, dass wir...egal.
»Wieso schaust du so...angepisst?«, fragt er. Ich versuche ihn nicht direkt anzusehen, weil ich Angst habe, er könnte ablesen, was in mir vorgeht. Aber anscheinend kommt er von selbst drauf.
»Oh Shit. Du hast doch nicht ernsthaft geglaubt, dass ich dich fragen würde, ob ich mit dir tanze?«
Seine Worte verletzten mich, machen mich mehr als wütend. Es ist wie ein Schlag in die Magengrube, der verdammt weh tut und zwar in meinem Inneren. Nach Außen versuche ich mir meine Enttäuschung nicht anmerken zu lassen, was mir mehr als misslingt.
»Oh Shit«, äffe ich ihn patzig nach, »Vielleicht dachte ich genau das, Colin.«
Beleidigt drehe ich mich um und will einen Abgang machen, als sich eine Hand um meinen Arm wickelt und mich am Gehen hindert.
»Kiera, warte so war das nic-«, versucht er sich zu erklären, aber ich habe genug davon. Genug von ihm. Abweisend hebe ich meine freie Hand.
»Schon gut. Ich hab's verstanden, Colin. Jetzt lass mich los, verdammt!«
»Nein, Kiera. Ich wollte nicht...also...das eben war dämlich. Hätte ich gewusst, dass du wolltest, dass ich dich frage...«
»Vergiss es einfach!«
Ich will mich losreißen von diesem Idioten und mich im Alkohol ertränken, doch er umklammert meine Hand immer noch so stark, dass ich keine Chance habe. Gleichermaßen bin ich gezwungen ihn in die Augen zu schauen. Hätte ich doch weggeschaut! Das hätte es so viel einfacher gemacht, seine Bitte eiskalt abzulehnen.
»Nein, Kiera. Ich war ein Arsch und ich will es wieder gut machen.« Er stoppt und ich frage mich, ob das gerade wirklich passiert.
»Ich frage dich jetzt in aller Förmlichkeit und wehe du sagst »Nein«, dann leg ich dich eigenhändig übers Kreuz und wirble dich hier herum, bis du ein Schleudertrauma hast.« Ein Grinsen schleicht sich auf meine Lippen, das ich schnell wieder verbanne. Ich bin schließlich noch wütend auf ihn.
»Also...Kiera Theodora Anneliese Kathrin McRain...«
»Ich habe gar keine dämlichen Zweitnamen so wie du, Angus.«
»Scheiße, Chiara. Kannst du für einen Moment mal die Klappe halten?«
»Nein.«
Herausfordernd sehe ich ihn an, halte aber meinen Mund. Das Schauspiel will ich unter keinen Umständen nochmal unterbrechen. Dafür ist es viel zu gut.
Colin räuspert sich und fragt in einen höchst formellen Ton, den ich so gar nicht von ihm kenne:
»Willst du mit mir tanzen?«
Ich halte die Luft an, schaue ihn an und scanne sein Gesicht nach Anzeichen einer Verarsche ab, aber er scheint es überraschenderweise mal ernst zu meinen.
Ich zögere und just in diesem Moment ertönt eine weitere Stimme neben mir.
»Wie lustig, dasselbe wollte ich dich gerade auch fragen, Kiera.«
Colins Kopf fährt herum, genau wie meiner.
Vor uns beiden steht Christian und schenkt mir ein unfassbar charmantes Lächeln, das mir warm ums Herz werden lässt. Ich brauche ein paar Sekunden, um seine Worte zu registrieren.
Heilige Scheiße, Christian Marks will mit mir tanzen!
Mein innerliches High School Girl flippt gerade komplett aus, macht mehrere Luftsprünge, dass der von damals angesagteste Baseballspieler und heute so attraktive Mann von sich aus mit ihr tanzen will. Er hat mich ernsthaft gefragt! Ich glaube es nicht! Und ich musste ihn nicht daran erinnern wie Colin. Er kam aus freien Stücken!
»Und? Was sagst du?«, hakt Christian nach, weil ich bis jetzt noch keine Antwort gegeben habe.
Unschlüssig schwanken meine Augen von Schilfgrün zu Rehbraun und wieder zurück.
Colin oder Christian?
Christian oder Colin?
Wenn wir es nach dem Alphabet machen würden, dann wäre es Christian. Wenn es nach Anzahl der Buchstaben gehen würde, wäre es Colin.
Aber mit wem von beiden würde ich lieber tanzen?
Sexy Zahnarzt oder nervigen Verlobten?
Ich weiß es nicht. Himmelherrgott! Ich weiß es nicht!
Vielleicht doch die Schnapsflasche, damit sich keiner benachteiligt fühlt?
Doch meine Entscheidung wird mir abgenommen, als sich ein Arm bestimmend forsch um meine Taille legt und ich unverschämt schnell an eine Muskelfront herangezogen werde. Ich habe gar keine Chance zu protestieren.
Es ist ein purer Zufall oder Wink des Schicksals, dass in diesem Moment der Titelsong »Time of my life« von Dirty dancing einsetzt.
Denn nicht nur mein Gegenüber guckt wie dumm aus der Wäsche, sondern selbst ich muss zweimal hinhören, als mein selbsterwählter Tanzpartner klarstellt:
»Sorry, aber mein Baby gehört zu mir.«
Und ehe ich mich versehe, werde ich auf die Tanzfläche gezogen und von meinem ganz persönlichen Patrick Swayze durch die Gegend gewirbelt.
Das. war. nicht. so. geplant!
Weder das Christian dazu kommt noch, dass dieser legendäre Satz in dem Kapitel fällt.
Aber was soll ich machen🤷♀️😅Die Charaktere-insbesondere Colin-machen in meinen Kopf andauernd, was sie wollen...
Kennt ihr das von euren Geschichten?
Generell: Plant ihr eure Kapitel oder schreibt ihr drauf los?🖊📖
Ich hoffe, ihr hattet Spaß beim Lesen💗
Ciao for now✌🏻
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