7. Kapitel
London: Platform 9 3/4
𝔊enau das sahen wir in weiß geschrieben auf einem schwarz lackierten Eisenschild, als wir hinausschauten, um zu sehen, wo wir diesmal angehalten hatten. Jemand hatte sich bestimmt einen Spaß daraus gemacht, das Gleisschild mit 3/4 zu verzieren, um Touristen zu verwirren, denn wie jeder wusste, gab es nur Gleise mit ganzen Zahlen. Als ich aus dem Fenster mit den lustig bestrickten Gardinen, die aussahen, als wären sie von Ömchens Nachbargarten gestohlen worden hinausspähte, entdeckte ich mindestens ein Dutzend Kinder, die auf dem Gleis standen. Jeder von den Kindern schob einen Wagen mit ein paar Koffern und Tieren in Käfigen oder Boxen.
"Komm, lass uns nach draußen gehen.", sagte Jacob und machte Anstalten seine restlichen Sachen zusammenzupacken.
"So?", fragte ich ungläubig und zeigte auf meine viel zu weite Kleidung, "Also das kannst du vergessen. Außerdem können wir nirgendswo hin. Nicht zu unseren Eltern, denn die würden uns trotz verblüffender Ähnlichkeit niemals abkaufen, dass wir deren Kinder sind und das wir auf magische Art und Weise verjüngt wurden und auch zu niemandem sonst. Wir sind Minderjährige, rotznäsige Teenager, hast du das schon vergessen? Außerdem würde ich keine fünf Minuten in diesem nackten Fummel überleben, ohne begrapscht zu werden oder schlimmeres." Bei letzterem lief mir ein kalter Schauer über den Rücken.
"Na gut, dann ziehst du dich jetzt noch schnell um und dann gehen wir hier raus. Mir egal wohin, ich will nur keine Minute länger in diesem Scheißzug bleiben. Du ziehst dich im Bad um und ich räum hier noch die restlichen Sachen zusammen, aber beeil dich. Du weißt hoffentlich, dass bei einem Halt jeder Langstreckenzug nur 15 Minuten am Bahnhof bleibt, bevor er sein neues Ziel anfährt."
Daraufhin schenkte ich ihm einen vielsagenden Blick, weil er doch mittlerweile wissen müsste, dass ich, was das betraf, nun wirklich nicht von gestern war. Dann schnappte ich mir eines meiner Oversize T-Shirts mit hochgeschlossenem Ausschnitt, das musste doch passen, und verschwand noch mit einem Gürtel im Schlepptau im Bad. Ich zog meine viel zu große Hose und mein viel zu weites T-Shirt aus und wechselte es gegen das Oversize T-Shirt aus. Dann schnallte ich mir den Gürtel um meine Hüfte und betrachtete mich im Spiegel, eine Hose hatte ich diesmal nicht angezogen, denn die wäre mir sowieso viel zu lang gewesen. Als ich mich später im Spiegel betrachtete, musste ich mir eingestehen, dass ich gar nicht mal so schlecht aussah. Mein dunkelgrünes Oversize T-Shirt reichte bis fast zu den Knien und passte perfekt zu meinen Augen. Auch der Gürtel sah aus, wie von einer Fashionweek gekauft, mit seinen zwei silbernen Schlangen, die die Schnalle prunkvoll verzierten. Um ehrlich zu sein, war die Länge des T-Shirts ein wenig zu kurz für meinen Geschmack, aber da mir nun mal keine meiner Hosen passen würde, konnte ich ja auch keine anziehen und um ehrlich zu sein gefiel mir diesmal genau das, ich sah irgendwie attraktiver aus. Als ich aus dem Bad hinaustrat, um meine restlichen Sachen noch schnell in den Koffer zu stopfen und aus dem Abteil hinauszugehen, hatte ich das Gefühl, dass Jacob mich von der Seite aus merkwürdig betrachtete. Nach einer Weile fragte ich ihn dann ein wenig genervt von seinen Stalker ähnlichen Blicken: "Gibt es irgendetwas, was du mir sagen möchtest Jacob oder warum habe ich das Gefühl du stalkst jeden meiner Bewegungen, das wird mir langsam echt unheimlich mit dir. Habe ich irgendetwas falsch gemacht?"
"Äh...ähm, nein...gar nichts eigentlich. Du siehst nur ein wenig anders aus, ja." Versuchte er etwa gerade mir ein Kompliment zu machen oder beleidigte er mich?
"Also du siehst gut aus, Ellie, keine Frage, einfach nur anders." Dann fasste er sich am Kopf und warf einen flüchtigen Blick nach draußen. "Ach egal, komm wir müssen uns beeilen, sonst lässt uns dieser Zug niemals gehen."
Ich klappte meinen Koffer zu, lief schon mal aus dem Abteil und steuerte geradewegs die Waggontür an, als mich jemand am Arm packte.
"Was ist nun schon wieder?" fragte ich jetzt deutlich angegriffener.
"Warte mal kurz...", begann er und zögerte, "es könnte sein, dass wir hier gerade vor dem Abenteuer unseres Lebens wegrennen, und vielleicht werden wir nie wieder zu unserem alten Ich, wenn wir jetzt den Zug verlassen, oder vielleicht werden wir ab dem Zeitpunkt, wenn wir den Zug verlassen, wieder so alt."
"Worauf warten wir dann noch?" Ich verstand nicht wirklich, warum er sich gerade genau den Moment ausgesucht hatte, um jetzt noch irgendwelche Theorien aufzustellen, anstatt einfach auszuprobieren, was passieren würde. Außerdem war dieses Abenteuer nicht unbedingt das Ansprechendste und auch, wenn er irgendwo Recht hatte, war das meiner Meinung nach, nicht unbedingt der richtige Zeitpunkt.
"Man, Ellie, wir wissen doch gar nicht genau, was passieren wird und was nicht. Allein in den letzten Tagen ist mehr sonderbares passiert, als sonst in meinem restlichen Leben, und wenn ich das sage, muss das schon was heißen."
Das konnte ich bestätigen und auch gerne zurückgeben, aber ich hielt besser meinen Mund, sonst würde das alles hier noch länger andauern. "Und jetzt?", fragte ich stattdessen. Worauf wollte er denn bitte hinaus, konnte er sich nicht einmal klar ausdrücken?
"Ach, vergiss es." Jetzt war er derjenige, der mit den Augen rollte. Er biss sich auf seine Lippen und machte mir zu verstehen, ich sollte weiterlaufen, bis zur Waggontür. Das tat ich auch und wir rollten unsere Koffer hinter uns her und irgendwie tat mir jetzt ein wenig leid, dass ich Jacob so vor den Kopf gestoßen hatte und ihn nicht richtig ernst genommen hatte. Er war nur besorgt um uns beide und ich bin in meiner Ungeduld einfach unhöflich gewesen.
Wir erreichten die Waggontür und ich drückte nun mit einem leichten Kribbeln im Bauch die Türklinke herunter. Ich spürte schon die Freiheit, doch dann merkte ich, dass die Tür verschlossen war. Sie ließ sich nicht öffnen, egal was ich auch tat und egal, wie lange ich an ihr herumrüttelte, es geschah nichts. Ich drückte noch ein paarmal auf die Klinke, um zu überprüfen, ob sie sich einfach nur verhakt hatte, doch nichts änderte sich, sie blieb verschlossen. Innerlich musste ich ein wenig in mich hineingrinsen, da das hieß, das Jacob und ich uns noch ein wenig Gesellschaft leisten müssten, aber keine Sekunde später wich das Grinsen von meinen Lippen, da das auch hieß, dass wir hier eingeschlossen waren und vielleicht nie wieder aus diesem Waggon herauskommen würden.
"Sieht so aus, als würden sich unsere Wege doch nicht so schnell trennen", seufzte Jacob. Jetzt war ich ein wenig enttäuscht. Nur weil wir uns eben in unserer Gereiztheit gerade bisschen in die Haare gegangen sind, war er mich leid und seufzte? Wir trotteten beide zurück in unser Abteil und schmissen uns auf sein Bett, ich vertraute meinem Bett immer noch nicht. Ich spürte, wie der Zug sich wieder in Bewegung setzte und starrte vorwurfsvoll die Wand an, aber dann musste ich ein wenig schmunzeln, da mir das alles einfach so unwirklich und abwegig vorkam. Wie oft passierte einem schon so etwas, dass zwei volljährige Jugendliche in einen angeblich gewöhnlichen Waggon steigen, um ganze vier Jahre verjüngt werden und dann noch als Kirsche auf dem Sahnehäubchen von dem Waggon höchst persönlich eingeschlossen werden und von der restlichen Welt ausgesperrt, das war doch einfach nur kompletter Wahnsinn.
Diese Fahrt dauerte nicht allzu lange, nach nur fünf Stunden erreichten wir glücklicherweise unser unfreiwilliges und gottverdammtes Ziel. Zwischendurch hatte es nur noch einen kleinen Zwischenfall gegeben, der vermutlich für jeden anderen todesbeängstigend gewirkt hätte, aber wir waren mittlerweile schon so ausgelaugt und abgehärtet, dass uns all das kalt ließ. Ich glaube sogar, wenn der Sensenmann höchstpersönlich vor uns gestanden hätte, hätten wir nicht mal mit dem kleinen Finger gezittert, sondern ihn stattdessen mit einem Tee und Kaffee und Kuchen begrüßt. Das sagte bestimmt eine Menge über unsere geistige Verfassung aus.
Langsam war ich echt genervt von diesen andauerndem stoppen und fahren, da das nun schon vierte Mal insgesamt war, dass er anhielt. Diesen Zug musste man mal dringend auf Fehlfunktionen überprüfen lassen. Zuerst flackerten die Lichter bedrohlich mehrere Male auf und plötzlich fielen sie komplett aus, dann wurde es entsetzlich kalt und dunkel in unserem Waggon und jemand oder etwas rüttelte ziemlich stark an der Tür, doch wer auch immer es war, er kam genauso wenig bei uns rein, wir heraus. Nur dieses eine Mal war ich der Tür irgendwie dankbar dafür, dass sie dieser Person nicht nachgegeben hatte, denn ich wollte ungern diesem Türrüttler da draußen begegnen. Nach einer Weile verschwand die Kälte aber genauso plötzlich, wie sie gekommen war und prompt flackerten die Lampen wieder auf und leuchteten. Kurz vorher hatte ich sogar noch eine schwarze Gestalt am Fenster gesehen, aber vermutlich hatte ich mir das bloß eingebildet.
Der Name des Ortes, wo uns dieser Höllenzug letztendlich hinfuhr, hieß Hogsmeade, wie ich auf einer Tafel erkennen konnte, als ich aus dem Fenster schaute. Nun musste die Tür doch zu öffnen sein, oder nicht? Jacob und ich sprinteten zu Tür und probierten es aus.
"Fehlanzeige", sagte er schließlich und wir seufzten erneut. Shit, sie ließ sich immer noch nicht öffnen, was war nur mit dieser Tür los, warum ließ sie uns nicht einfach passieren? Meine Vermutung, dass dieser Zug dringend auf Fehlfunktionen getestet werden müsste, brannte sich noch einmal mehr in meinen Kopf. Aber plötzlich hörten wir Schritte näherkommen und prompt reagierte ich. Es war mehr aus einem Instinkt heraus als geplant, aber im Endeffekt war es doch eine kluge Idee von mir gewesen. Ich dachte nicht länger nach, hämmerte mit voller Wucht gegen die Tür und rief um Hilfe.
"Hilfe, bitte helfen Sie uns, Sie müssen uns die Tür aufmachen oder dem Lokführer Bescheid sagen, Sie müssen uns helfen, bitte!", brüllte ich aus Leibeskräften. Ich hatte langsam genug von diesem Abenteuer und das war kaum zu überhören. Bestimmt hätte ich sogar geweint, aber ich war nun mal nicht allein und ich wollte jetzt nicht schon wieder vor Jacob weinen, einmal war schließlich schon zu viel gewesen.
"Bist du verrückt, was ist, wenn das ein Wahnsinniger, ein Verbrecher oder schlimmer ein Mörder ist?"
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