06. Von Dieben und Herren
Kaum ließ ich die letzten Treppenstufen hinter mir, umschlossen mich die reichen Gäste erneut wie Wassermassen, während eines Bades im Meer. Aber sie hatten nichts von diesem befreienden, erfrischenden Gefühl. Stattdessen stieg in mir erneut Beklemmung auf, die ich mühsam hinunterschlucken musste. Diese wunderschönen Kleider und edlen Anzüge. Die glitzernden Perlenketten und glänzenden Schuhe. All diese Pracht hätte ich genießen können, wenn ich nicht ganz genau wüsste, woher ihr Reichtum stammte. Sie stützten sich auf blutigen Terror und den langsamen Zerfall meiner Heimat. Und dafür hatte ich keine Bewunderung, sondern nur Abscheu übrig.
,,Dieser Prosecco schmeckt wirklich hervorragend", mit einem strahlenden Lächeln schnappte ich mir erneut eines der Weingläser vom Tablett eines vorbeilaufenden Kellners, der mein Lachen höflich erwiderte. Ich prostete ihm zu, bevor ich das Glas an meine Lippen setzte. Der kalte, etwas bittere Alkohol prickelte auf meine Lippen. Immerhin boten die Mafiosi ihren Gästen einen guten Wein an. Den hatten sie höchstwahrscheinlich ebenfalls nicht selbst gemacht, sondern den ausgebeuteten Bauern abgenommen. Sofort bekam der gute Prosecco einen üblen Beigeschmack.
Mein Blick schweifte über die fremden Gesichter, suchte nach einer Vertrautheit, von der ich wusste, dass ich sie in dieser Gesellschaft nicht finden würde. Ich hielt inne, als ich den Mann entdeckte, der sich in einigen Metern Entfernung angeregt mit zwei seiner Gäste unterhielt. Die Ähnlichkeit mit seinem Sohn war unverkennbar. Obwohl das Haar von Signor André bereits grau war, hatte er das gleiche ovale Gesicht wie Edoardo und die gleichen großen, tief liegenden Augen. Ich wandte mich von dem Hausherren ab. Ihm wollte ich nicht über den Weg laufen, denn er wusste genau, dass keine Sofia De Giudice auf seiner Gästeliste stand. Erneut stieg ein beklemmendes Gefühl in mir auf und lähmte mich für einen Moment förmlich. Hoffentlich hatte ich mich nicht bereits zu tief in diesen Geflecht aus oberflächlichen Lügen verstrickt.
,,Was zum Teufel-?", eine laute, polternde Stimme ließ mich zusammenzucken. Einen Augenblick lang war ich so tief in meinen Ängsten versunken, dass ich in meiner Fantasie bereits eine grobe Hand auf meiner Schulter spürte, die mich mit sich reisen würde. Doch nichts geschah. Ich holte tief Luft und wandte mich dem Tumult zu, der sich an der Treppe gebildet hatte.
,,Papà!", Edoardos aufgeregt Stimme schallte durch den Raum und übertönte das laute Murmeln der Gäste, ,,Bitte machen Sie Platz!" Endlich teilte sich die Menge ein wenig und ich konnte einen besseren Blick auf das Geschehen werfen. Edoardo und zwei weitere Männer hielten einen hochgewachsenen Mann grob an den Armen fest, der sich verzweifelt aus dem Griff zu befreien versuchte. Der lange Mantel kam mir bekannt vor. Noch immer trug der Fremde eine Kapuze, die sein Gesicht bedeckte. Offensichtlich hatten sie den Eindringling auch ohne meine Hilfe geschnappt.
Im letzten Moment schob ich mich zwischen zwei Frauen, die zurückgewichen waren, um Signor André Platz zu machen, der mit langsamen Schritten auf die Szene zusteuerte. Von dieser sicheren Deckung beobachtete ich weiter das Geschehen. Die Gäste machten dem Hausherren respektvoll Platz. Tock. Tock. Signor André hielt einen dunklen, polierten Gehstock mit der rechten Hand umklammert. Das Geräusch, welches dieser verursachte, wenn er auf dem Boden aufkam, hallte durch den mittlerweile stillen Raum und jagte mir einen Schauer über den Rücken. Die Szene hatte etwas Bedrohliches an sich.
Der Mann hatte aufgehört, sich gegen seinen Angreifern zu wehren. Er hielt den Kopf hoch erhoben. Noch immer war sein Gesicht verhüllt, aber seine aufrechte Haltung strahlte Trotz und Stolz aus. Signor Andrè blieb knapp vor dem Eindringling stehen. Er hob seinen Gehstock und für einen Moment befürchtete ich, er würde auf dem Mann einschlagen. Doch stattdessen schob er ihm nur sanft mit der Spitze des Stocks die Kapuze vom Kopf. Und plötzlich hatte die tiefe, etwas raue, sarkastische Stimme auch ein Gesicht. Die dunklen Locken stachen mir als erstes ins Auge. Sie waren zu lang, reichten ihm bis zu den Schultern. Diese Frisur passte nicht in diese moderne Gesellschaft, die immer noch in ihren Traditionen gefangen war und sich vor jeglichen Veränderungen fürchtete.
,,Du hast meine Warnung wohl immer noch nicht ernst genommen", zischte Signor Andrè mit zusammengebissenen Zähnen. In seinen braunen Augen glomm unterdrückter Zorn. Erneut hob er seinen Gehstock, um ihn den Mann grob gegen die Brust zu drücken.
,,Du findest dein Leben wohl nicht sonderlich wertvoll."
,,Aber Paolo. Begrüßt man so etwa einen alten Freund?", mit einer übertrieben enttäuschten Geste legte sich der Mann die Hand auf sein Herz. Obwohl sein Tonfall bedrückt war, funkelte in seinen dunklen Augen Spott. Trotz der üblen Situation umspielte ein provokantes Lächeln seine Lippen.
,,Du erbärmlicher Dieb! Willst mir meinen Besitz klauen! Wie tief willst du noch sinken?", aufgebracht schlug Signor Andrè mit dem Gehstock grob auf dem Boden, nur Zentimeter von dem Mann entfernt. Dieser ließ sich nicht aus der Ruhe bringen. Nein, er hatte sogar den Mut, dem Hausherren frech ins Gesicht zu lachen.
,,Ich habe noch etwas Spielraum, bevor ich mit Ihnen auf einem Niveau stehe", entgegnete er grinsend. Augenblicklich schnellte Edoardos Faust nach vorne und traf ihn mitten ins Gesicht. Ich zuckte unwillkürlich zusammen. Ich wusste nicht, ob der Grund der Schlag war oder diese plötzliche Kälte, die sich über Edoardos Augen legte. Doch ich wusste, zu was dieser Mann fähig war.
,,Und Ihr Geld ist im Grunde auch nur gestohlen", fuhr der Mann gelassen fort, ohne mit der Wimper zu zucken. Der Schlag musste geschmerzt haben, doch erneut verzogen sich seine nun aufgeplatzten Lippen zu einem blutigen Lächeln. Kopfschüttelnd beobachtete ich das Geschehen. Dieser Mann musste lebensmüde sein. Er nahm mir die Worte aus dem Mund, die Wahrheiten, die ich mir jedes Mal verkneifen musste, wenn ich einen dieser verlogenen Mafiosi in die Augen sah. Der fremde Mann und ich gingen völlig verschieden an die Sache ran. Er sprach seine Gedanken ungeniert aus, während ich meine Maske trug und mich immer noch an die naive Hoffnung klammerte, die Festung der Mafiosi zum Einsturz zu bringen.
,,Bring ihn weg, du weißt wohin", Signor Andrè wandte sich an seinen Sohn, der langsam nickte. Ein Funken Hoffnung flammte in mir auf. Wenn ich mich Edoardo und dem Dieb an die Fersen haftete, würde ich vielleicht endlich erfahren, wohin sie ihre Gefangenen brachten. Geschickt schlängelte ich mich durch die schaulustigen Gäste, um näher an das Geschehen zu kommen. Signor Andrè wandte sich wieder an die Besucher, die mittlerweile begonnen hatten, leise miteinander zu tuscheln.
,,Dieses Problem wird mein Sohn aus der Welt schaffen. Die Störung tut mir sehr leid, aber ich hoffe, Sie können Ihren Abend trotzdem genießen", obwohl Signor Andrès Stimme einen beruhigenden, beinahe warmen Tonfall aufwies, entging mir nicht, wie abfällig er den Eindringling als 'Problem' bezeichnet hatte.
Unauffällig drängte ich mich durch die Gäste, um Edoardo und seinen Wächtern zu folgen, die zielsicher auf einen Gang zusteuerten, der sich genau auf der gegenüberliegenden Seite des Einganges befand. Ich folgte der Truppe tiefer in das Gebäude, hoffte innerlich, dass sich keiner von ihnen umdrehen würde. Der dunkelrote Teppich dämpfte glücklicherweise die Geräusche meiner Absätze. Die Menschen wurden immer spärlicher, bis ich mit Edoardo und seinen Gehilfen alleine war. Wir liefen einen schmalen, aus Steinmauern bestehenden Gang entlang, an dessen Seiten Holztüren in allen Richtungen abzweigten.
,,Seid ihr auf der Suche nach einem Ort, wo ihr meine Leiche verschwinden lassen könnt", der unbekannte Mann hatte aufgehört sich zu wehren. Stattdessen schlenderte er neben seine Wächter her und hatte einen lockeren Plauderton angeschlagen. Kopfschüttelnd beobachtete ich das Geschehen. Verfolgte dieser Mann mit dieser Taktik irgendeinen Plan oder war er einfach nur lebensmüde?
Als ich mich dieses Mal auf die Gegenwart meiner Pistole konzentrierte, verspürte ich nicht mehr diese verhängnisvolle Zerstörung, sondern nur noch ihre Macht. Es war ein beinahe beruhigendes Gefühl. Ein Versprechen, dass ich nicht ganz alleine war. Ich musste sie nicht benutzen, um jemanden zu töten, aber mit ihrer Hilfe, würde Edoardo mich zu Irene Romero führen müssen.
Ein siegessicheres Lächeln umspielte meine Lippen, als ich einige Sekunden vor der Tür wartete, die am Ende des Ganges auftauchte, bevor ich vorsichtig hinter den Wächtern hinaus in die milde Nachtluft schlüpfte.
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