Prolog
„Die Realität ist eine Illusion, allerdings eine sehr hartnäckige."
- Albert Einstein -
Die letzten Schatten der langen Fichten fielen über den Dachfirst der alten Villa und die verwilderten Gärten. Efeu schlängelte sich durch die Ritzen geborstener Parkbänke und mühte sich nach Kräften, deren Reste zu überwuchern. Kurz danach schluckte der Horizont die schwachen Strahlen der Wintersonne, während die Finsternis noch darauf wartete, endgültig die Herrschaft zu übernehmen. Erste Nebelschwaden waberten über die von Militärübungen malträtierten Böden der nahe gelegenen Annaburger Heide. Mit dem schwindenden Licht verzogen sich auch die restlichen, lästigen Wanderer aus den renaturierten Wäldern und überließen das Feld den nächtlichen Jägern. Der einsame Ruf eines Uhus erklang, um die braunen Feldmäuse vorzuwarnen: Die Zeit des Fressens und Gefressenwerdens begann.
Die Villa war wie eine alte Dame: Recht betagt, aber immer wieder aufgehübscht. Bereits 1883 als Kurhaus erbaut, danach in den Diensten der Nationalsozialisten und zum Schluss bei der Stasi, hatte sie schon sehr lange keinen offiziellen Besuch mehr erhalten. Zumindest keinen menschlichen.
Hundert Jahre später stand sie jedoch für wenige Tage im Rampenlicht der Öffentlichkeit. Das ausladende Gebäude mit seinen über hundert Zimmern wurde von Dr. Karl Müller, seines Zeichens Dosenfabrikant, ein letztes Mal aufgemöbelt, um seinem Stand gerecht zu werden. Dieser hatte nach der Wende dank staatlicher Subventionen und maroder Staatsbetriebe, die neue Besitzer suchten, ein Vermögen verdient. Doch das war es nicht, was die landesweite Aufmerksamkeit auf das Anwesen lenkte.
Exakt zum einhundertsten Jahrestag der Grundsteinlegung, am 25. Dezember 1993, feierte Familie Müller in familiärer Runde den ersten Weihnachtstag. Der Herr Doktor mit seiner Gemahlin und den beiden Kindern sowie ihrer gesamten Verwandtschaft. In Summe dreizehn Menschen begingen fröhlich lachend und nichts ahnend eine Familienfeier. Ihre letzte.
In der Ecke des feudalen Speisezimmers thronte am frühen Abend eine drei Meter hohe Nordmanntanne mit rot glänzenden Kugeln und silbrigem Lametta. Rund um den Tisch, auf dem die Haushälterin in weißem Ornat gerade die Weihnachtsgans platziert hatte, jagten sich die Kinder. Fein herausgeputzt in ihren winzigen Anzügen und Rüschenröckchen. Die Erwachsenen standen lachend vor dem Porträt des Großvaters und prosteten sich mit Eierlikör in glockenblumenförmigen Gläsern zu.
Im Kamin prasselten die Flammen fröhlich über Holzscheite. Unwissentlich waren sie die Diener des sich nähernden Todes. Unsichtbar und geruchlos schlich der Sensenmann in Form aufsteigenden Kohlenmonoxids heran. Nichts ahnend verbrannten die Scheite rasant den Sauerstoff in der Luft. Gleichzeitig erhob sich vom Boden die tödliche Gasschicht wie das Wasser in einer Badewanne, das immer höher stieg.
Anfangs waren es nur die fröhlich spielenden Kinder, die müde wurden und über Kopfschmerzen klagten. Auch die feiernden Erwachsenen merkten die Übelkeit und fragten sich, ob eventuell der selbst gemachte Eierlikör schuld war. Noch während sich eine angeregte Diskussion entfaltete, fielen die Kleinen bereits in ihren endlosen Schlaf der Gerechten. Rollten sich friedlich mit dem Daumen im Mund am Boden zusammen und hauchten ihren letzten Atemzug. Der Opa stützte sich müde mit den Ellenbogen auf die Tischkante und ließ ein langgezogenes Gähnen erklingen. Kurz darauf zerschlug sein Gesicht den Teller mit der abgenagten Entenkeule in zwei exakt gleichgroße Teile, als hätte er gezielt. Ehe die Oma sich wundern konnte, erschlafften auch ihre Glieder. So kippten sie einer nach dem anderen wie Dominosteine von den bequemen Stühlen. Mit einem Lächeln auf den Lippen rollten sie sich zusammen und gesellten sich zu den Jüngsten, die schon längst ihren letzten Atem ausgehaucht hatten.
Fröhlich pfeifend schlich der Sensenmann heran und schnitt geschickt die Seelen von den erkalteten Körpern. Von Oma, Opa, dem Herrn Doktor und seiner Frau Gemahlin. Selbst die Kleinsten, mit ihrem unbeschriebenen Lebensbüchlein, entgingen ihm nicht. Nicht umsonst trug er den Beinamen des Gleichmachers.
Ein tragisches Unglück, wie es später in den Nachrichten hieß, aber nicht ungewöhnlich. Ein offensichtlicher Baumangel bei der Renovierung des Kamins. Trotzdem fand sich bis heute kein Käufer für das wunderschöne Grundstück mit der alten Villa. Dabei war das renovierte Hauptgebäude mit allen Finessen der damaligen Zeit ausgestattet: zehn Schlafzimmer, Indoor-Pool, Sauna, Fitnessstudio, Panikraum, Partykeller, Parkanlage und jedes erdenkliche Extra, das man für Geld erwerben konnte.
Nur, wer wollte schon ein Haus betreten, geschweige denn in einem wohnen, in dem dreizehn unschuldige Seelen ihre Leben ausgehaucht hatten?
Zumindest eine Person schien damit kein Problem zu haben ...
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