∎ 𝐍𝐢𝐜𝐡𝐭𝐬
Mein Laptop hatte schon den Bildschirmschoner durch den Stand-By Modus ausgeschaltet, sodass mich ein scheinbar heruntergefahrener Bildschirm empfang. Ich speicherte nur noch, um ihm dann wirklich herunterzufahren. Mit zwei, drei kurzen Handgriffen raffte ich meine Notizzettel zusammen und klatschte sie unsortiert in ein kleines Fach. Mein letzter Handgriff erlosch noch das Licht.
Ich war immer noch verstört von der kurzen Filmszene, die ich mir nicht länger als ein paar Sekunden angesehen haben musste. Doch trotzdem ließ mich der Gedanke daran immer noch nicht in Ruhe. Meine leise tapsenden Schritte auf den fußbodenheizungswarmen Fliesen im Flur erinnerten mich an die Schläge des Gürtels. Die Zahnbürste hörte sich im ersten Moment an, wie der Beginn des Schreis. Die Dunkelheit vor den Fenstern wurden durch Autoscheinwerfer aus der Ferne zerbrochen und erinnerten mich an das Lichtspiel, welches mich erst in das Wohnzimmer gezogen hatte. Schnell ließ ich die Rollläden im Bad hinunter und flüchtete so schnell wie möglich vor dem Brummen der elektrischen Zahnbürste.
Bettfertig saß ich bereits unter der Decke, als Leander auch ins Zimmer kam. Verwundert, dass ich mal vor ihm fertig war, sah er mich an.
"Alles in Ordnung, Schatz?", fragte er, während er die bis eben noch glatt gestrichene Decke zurückschlug, um sich darunter gleiten zu lassen.
"Alles gut", antwortete ich nur, zwang mich zu einem wohl nicht ganz überzeugenden Lächeln, als ich ihn anblickte.
"Tut mir wirklich leid mit dem Film", entschuldigte er sich erneut.
"Ist doch nicht deine Schuld." Ich legte mich ebenfalls hin und starrte an die hellgrau gestrichene Decke. Kurz herrschte Stille zwischen uns, in der ich mich auf die Seite gedreht hatte und nun zum Fenster hinüber starrte. Durch den Rollladen fiel ganz matt das Licht einer Straßenlaterne hinein. "Gute Nacht", zerriss ich die Stille.
"Gute Nacht", erwiderte Leander. Seine Decke raschelte, ein Schalter klickte und das Licht ging aus, erneutes Rascheln, bis er bequem lag, dann war es erneut leise.
Stundenlang wälzte ich mich schlaflos im Bett hin und her. Leander neben mir war schon lange eingeschlafen. Nicht einmal seine regelmäßigen Atemzüge schläferten mich ein. Die kleine Uhr auf meinem Nachttisch zeigte mittlerweile schon fast vier Uhr. Seufzend drehte ich mich mal wieder auf den Rücken. Im Dämmerlicht konnte ich nur mit Mühe die Konturen der Deckenlampe ausmachen.
Unerwartet fiel Licht in mein Blickfeld, sodass ich ganz genau den einen Kratzer auf dem Lampenschirm sehen konnte, der einmal bei einer Kissenschlacht entstanden war. Wie Leander und ich auf den Gedanken gekommen waren, uns mit Kissen zu beschmeißen, wusste ich nicht mehr. Ich wusste nur, dass der Reißverschluss eines Kissenbezugs die Lampe gestreift, gefährlich zum Wackeln gebracht und schlussendlich diesen Striemen hinterlassen hatte. Auch wusste ich, dass das Licht von der soeben geöffneten Tür kam.
Draußen im Flur brannte Licht, welches durch den Spalt hineinfiel. Mich aufrichtend starrte ich verwirrt auf den Schatten, der sich dem Schlafzimmer zu nähern schien. Mein Blick wanderte neben mich auf die Matratze, um mich zu vergewissern, dass Leander nicht aufgestanden war und gerade vielleicht von der Toilette zurückkam. Doch er lag neben mir, in seine Decke gewickelt und seelenruhig leise vor sich hin schnarchend. Mit wild klopfendem Herzen sah ich auf den Schatten, der hinter der Tür angekommen war. Geräuschlos schwang die Tür auf, gab den Blick auf einen muskulös wirkenden Mann in dunkler Kleidung frei. Kerzengerade saß ich im Bett, zuckte zusammen vor Angst und sah ihm direkt in die Augen. Sah in die Augen des fremden Mannes, den ich erschreckender Weise kannte.
Ein eiskalter Schauer lief mir über den Rücken, brachte meinen Körper zum Beben. Wie gelähmt starrte ich auf seine Hand, die etwas Rundes umklammert hielt. Als hätte er meinen Blick gespürt, ließ er dieses Etwas los. Mehr als auf keuchen konnte ich nicht. Ich wollte schreien, Leander aus dem Schlaf reißen, aufspringen und aus dem Zimmer rennen, vorbei an dem Mann, hinaus aus der Hölle, in der ich mich zu sein glaubte, einfach alles Mögliche gleichzeitig.
Der Gürtel hatte sich ausgerollt und baumelte gefährlich in seiner Hand, als wolle er mir zuwinken, zuwinken und sagen:
"Wir kennen uns doch! Leider nur vom Sehen, aber jetzt kann ich ja endlich persönlich Bekanntschaft mit dir machen!"
"Nein", flüsterte ich tonlos, wollte es schreien, doch meine Stimme versagte. Aus meiner Starre erwacht krabbelte ich gleichzeitig näher an die Wand hinter mir, weg von dem Gürtel, der in der Hand des Mannes bedrohlich knallte, als er ihn schwang, gleichzeitig griffen meine klammen Hände nach Leanders Schulter, rüttelten daran. "Wach auf!", schrie ich, doch wieder gelang es mir nicht. Unwirsch schüttelte ich meinen Mann hin und her, doch nichts passierte. Nur seine leisen Schnarcher verloren etwas an Regelmäßigkeit.
Ein Lachen drang an mein merkwürdig hörendes Ohr. Ein Lachen, voller Schadenfreude. Schadenfreude war doch die beste Freude. Von Lachkrämpfen geschüttelt stützte sich der Mann mit dem Gürtel etwas auf die Türklinke ab.
"Er wird nicht aufwachen, dafür habe ich schon gesorgt", prustete er. Mit einem Mal hatte er sich wieder gefangen, als wäre sein Lachen nur Show gewesen, um mich noch mehr zu verstören. Dies war ihm restlos gelungen: Mein Herz hämmerte so wild in meiner Brust, als wolle es sich hinaus reißen und ohne meinen Körper wegrennen. Immer energischer zog und zerrte ich an Leander, versuchte ihn aufzuwecken.
Bedrohlich klingende Schritte näherten sich unserem Bett, bedächtig und keines Wegs gestresst. Der Mann schien diesen Moment, wo mir der Angstschweiß ausbrach und ich noch weiter zur Wand hin flüchtete, regelrecht in sich aufzunehmen, wie den Duft einer angenehm riechenden Blüte. Die Schritte der schweren Arbeitsschuhe auf dem hellen Parkett näherten sich allmählich dem Fußende des Bettes. Mit dem Rücken an das Kopfende und der dahinter anschließenden Wand gepresst, wartete ich auf den ersten Schlag des Ledergürtels.
"Schau mal dort oben", forderte der Mann plötzlich und deutete gen Decke. Ganz sicher würde ich meinen Blick jetzt nicht von ihm abwenden, würde ihn nicht aus den Augen lassen. Sein ausgestreckter Finger, der selbst nach meinem Zögern immer noch dorthin zeigte, verharrte in Position. Würde er etwa warten, bis ich seiner Anweisung folgte?
"Leander!", schrie ich nur, krallte meine Finger schon schmerzhaft in seine Schulter.
"Er wacht nicht auf. Das habe ich doch schon gesagt", wiederholte er sich.
"Was hast du ihm gegeben?", fuhr ich ihn an. Erschrocken von mir selbst, schlug ich mir meine Hand vor den Mund.
"Nichts", antwortete er, als sei es offensichtlich.
"Wie, nichts?!", schrie ich ungehalten.
"Er ist tot."
"Er atmet!", widersprach ich ohne zu zögern.
"Tut er das?" Diese Frage sprengte mein Denken, machte es mir unmöglich den Sinn der Frage zu verstehen. Nur eins hatte ich verstanden: Die Stille würde mir Gewissheit geben, ob ich eine Leiche versuchte wach zu schütteln, wie ein Kind nicht wahrhaben wollte, dass seine Mama tot war. Ich schrie. Mehr konnte ich im Moment nicht. Meine Augen schlossen sich. Ich versuchte mehr als nur meine Augen vor der Wahrheit zu verschließen, versuchte in eine andere, selbst erfundene Welt zu fliehen, meinetwegen auch in die meines neuen Buches.
Für einen kleinen Moment gelang es mir. Nur der Schrei, der in meinen Ohren hallte und unangenehme Kopfschmerzen verursachte, schien für einen Augenblick zu existieren. "Willst du nicht nachsehen?", holte mich die tiefe Stimme des Mannes am Bettende wieder zurück in die Wirklichkeit, die so weh tat, dass es mir unmöglich war, meine Augen zu öffnen. Mein Schrei verstummte. Die Stille machte sich augenblicklich so unerträglich breit im Raum, verdrängte jeglichen Sauerstoff und Platz, dass ich keine Luft mehr bekam. Von allen Seiten wurde ich bedrängt, bis ich zusammengekauert auf der Matratze lag, mit meinem Kopf auf Leanders Oberkörper.
Unregelmäßige, hektische, nach Luft hechelnde, ängstliche Atemgeräusche drangen an mein Ohr, erfüllten die so beängstigende Stille mit etwas, an dem ich mich festklammern konnte. Er atmete! Falsch, er rang um Luft, als ginge es um Leben und Tod.
Es war mir ein Rätsel, wie er so schnell von tief und fest schlafend in Angst und Schrecken versetzt worden war. Mein Blick traf seine immer noch so friedlich geschlossenen Augen. Seine schmalen Lippen waren geschlossen. Nichts deutete darauf hin, dass er Not hatte, Luft zu holen. Nur das Keuchen in meinen Ohren ließ mich zweifeln. Sein Oberkörper hob sich nicht, senkte sich nicht, obwohl er es schnell hätte tun müssen.
Ich atmete. Ich keuchte nach Luft. Ich hatte gedacht, er wäre es.
Mit Tränen in den Augen hielt ich die Luft an. Um nicht auch nur das leiseste Geräusch zu verpassen, presste ich mein Ohr regelrecht auf sein Herz und lauschte. Nichts als Stille kam mir alarmierend laut entgegen. Kein Schnarchen, kein Atmen, kein Herzschlag, nichts.
Die Luft wich aus meinen Lungen, als hätte jemand den Knoten an einem Luftballon abgeschnitten. So unerträglich schnell fiel ich in mich zusammen, flog wie ein Luftballon unkontrolliert durch den Raum. Meine Gedanken gaben mir wirklich das Gefühl Achterbahn zu fahren. Die Gewissheit schmerzte mehr, als tausend Schläge mit dem Gürtel des bekannten Fremden. Die Gewissheit darüber, dass der geliebte Mensch unter mir keinen Funken Leben mehr in sich trug. Sein Licht war erloschen, konnte mich nicht mehr aus der tiefen Dunkelheit des Raumes hinausholen.
Die Tür war zugefallen, ohne dass ich es bemerkt hatte. Dunkelheit umgab mich, fast noch bedrohlicher als die verräterische Stille. Meine Stimme versagte mir, bei dem Versuch Leander anzuschreien, er solle aufwachen, wieder auferstehen, wenn so etwas überhaupt möglich war. Endgültig brach ich in Tränen aus. Klappte unter dem Druck der Stille zusammen. Heulte mich an Leanders Brust aus, wie ich es schon mehrfach zuvor getan hatte. Nur dass dies das letzte Mal sein sollte. Gleichzeitig das erste Mal, dass mich seine ruhige Stimme und seine beschützenden Arme nicht zu beruhigen versuchten. Ich hielt ihn so fest umklammert, dass er wohl unter anderen Umständen keine Luft mehr bekommen hätte, sich gegen meine Umarmung, wenn man das überhaupt so nennen konnte, gewehrt hätte.
Meine Ohren nahmen erneute Schritte wahr. Wieder kamen sie von der Tür und hielten auf uns, auf mich, zu. Ich spürte, wie die Matratze am Fußende nachgab, als sich etwas Schweres darauf sinken ließ. Es musste der Fremde sein. Eiskalte Finger erreichten zielstrebig meinen Nacken, als würde er mehr in der absoluten Finsternis sehen können als ich. Mein Zucken war nicht erkennbar. Mein Körper zuckte sowieso schon ununterbrochen unter der Trauer, nie wieder von Leander in die Arme geschlossen zu werden. Schluchzer zerrissen die Stille, die schon bald ein Ende finden sollte. Etwas Spitzes streifte an meiner Haut vorbei. Dann hörte ich den Stoff meines Oberteils den Rücken hinunter zerreißen. Das Shirt verrutschte, bis es wie eine falsch herum angezogene Jacke von meinen Schultern fiel.
Dann holte er aus. Ein unbeschreiblicher Schmerz ließ mich vergessen, wer ich war.
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