⌒ ☆・:.,;* 𝑪𝑯𝑨𝑷𝑻𝑬𝑹 𝑶. 𝑯𝑶𝑾 𝑰𝑻 𝑨𝑳𝑳 𝑩𝑬𝑮𝑨𝑵
DECEMBER 5TH 2010
— THE DAY, KAIN WILBURN DISSAPEARED
10 years ago...
,,Kain!" rief das kleine Mädchen mit den großen eisblauen Augen und der weinroten Mütze ihrem Bruder zu, als sie ihn von Weitem im frisch gefallenen Schnee erkannte.
,,Was machst du da? Sei vorsichtig oder du fällst noch." warnte die junge Erin ihren gleichaltrigen Bruder, der gefährlich nah am Rand des tiefen Abgrunds der riesigen Bergklippe balancierte.
Der 9 Jährige ignorierte die Worte seiner besorgten Schwester gekonnt und setzte einen Fuß vor den anderen auf dem gefroreren Stein, nur wenige Zentimeter von seinem sicheren Tod entfernt.
,,Kain! Komm da bitte runter." sie wurde schnell panisch, wenn ihr Bruder so leichtsinnige und gefährliche Dinge tat.
Der Junge in der türkisblauen Skijacke drehte sich zu seiner Schwester um und lachte belustigt, als gäbe es keinen Grund zur Sorge.
,,Sei nicht lächerlich, Erin." rief er ihr zu, seine Stimme hallte als Echo von den Bergen wieder. Er hielt provokant ein Bein über den Rand der Klippe und lachte über den panischen Ausdruck im Gesicht seiner Schwester.
Seine kalten Augen schauten monoton hinunter in den Abgrund, der mehrere hunderte Meter tief war. Der riesige Fluss, der sich weit unten im Tal erstreckte, war zugefroren. Die Klippe auf der er sich gerade befand, war mehr als 900 Meter vom Erdboden entfernt und wenn er nur einen einzigen Schritt machen und sein Gleichgewicht verlieren würde, würde er in die Tiefe stürzen und seine Knochen würden in Milliarden kleine Stücke zerbersten. Es war gefährlich hier zu sein, nur einen Augenblick von einem tödlichen Fall entfernt, aber Kain liebte die Gefahr.
Er hatte noch nie in seinem Leben Angst verspürt, geschweige denn überhaupt irgendein Gefühl, weshalb er auch keine Furcht hatte in den Abgrund zu fallen.
Sein Blick fiel auf die Stelle, an der sich gerade noch seine Schwester befunden hatte, doch sie war fort wie der Wind.
Im nächsten Moment vernahm er auch schon die aufgebrachte Stimme seines Vaters von Weiten und drehte seinen Kopf mit einem finsteren Funkeln in den Augen zu diesem. ,,Komm da sofort herunter, Junge!" Erin kehrte mit seinem Elternteil an der Hand in seine Richtung zurück und seine Augen verengten sich zu Schlitzen. Sie hatte ihn verpetzt. Sein Körper versteifte sich, als seine Augen auf die wutentbrannten seines Vaters trafen. Das war so dumm von ihr. Erin würde die Konsequenzen noch früh genug erfahren.
Sein Blick fiel auf seine Schwester, seine süße kleine Schwester, welche sich an die Beine ihres Vaters klammerte, als könnte er sie so beschützen. Als ihre Augen aufeinader trafen, zuckte Erin wie ein aufgescheuchtes Reh verängstigt zusammen und klammerte sich fester an ihren Vater. In Kain's kalten Augen war pure Finsternis. Schnell schaute das junge brünette Mädchen weg. Ihr kleiner Körper zitterte ununterbrochen von der bibbernden Kälte und vor Angst. Angst vor ihren eigenen Bruder.
,,Ich habe gesagt, sofort!" kommandierte sein Vater jetzt lauter, als sein Sohn sich noch immer nicht von der Stelle rührte. ,,Oder willst du, dass ich dich diszipliniere, mein Junge?" Der ehemalige Polizei Officer biss die Zähne fest zusammen. Erin konnte die Aufregung ihres Vaters deutlich spüren. Kain starrte die beiden nur an und trat einen winzigen Schritt vom Klippenrand zurück.
Der Vater der Geschwister bebte und ließ seine Tochter für einen Moment los, ehe er zu dem Jungen lief, ihn gewaltsam am Arm packte und von der Klippe wegzerrte. Kain wehrte sich nicht. Der Ton seines Vaters war streng und man konnte seine Authorität deutlich heraushören.
,,Mein Junge, das gibt Zimmerverbot bis zum Ende der Weihnachtsferien. Weihnachten wirst du ganz alleine in deinem Zimmer verbringen und über dein respektloses und dummes Verhalten nachdenken."
Er schnaufte verächtlich.
,,Und wehe ich höre noch einmal, dass du deiner Schwester Angst gemacht hast."
Er drängte seinen Sohn in die Richtung des Ski Resorts. Kain's reglose Augen lagen den ganzen Rückweg auf seiner Schwester, welche den Beiden mit gesenktem Kopf ins Haus folgte.
Er konnte ihre Furcht spüren, wie ihr Herz immer schneller schlug, je näher sie der gigantischen Lodge kamen, die ein Winterhotel darstellen sollte.
Sie ahnte schon, was aufgrund ihrer Tat passieren würde und sie fürchtete sich vor ihren Bruder nur umso mehr. Sie würde versuchen ihm aus dem Weg zu gehen, aber früher oder später würde er sie kriegen, so wie immer.
Er konnte sich schon ihr verängstigtes Gesicht vorstellen, ihre angsterfüllten verheulten Augen, ihre schmerzerfüllten Schreie,
wenn er es ihr heimzahlen würde.
Ein zufriedenes Grinsen schlich sich auf seine Lippen, während er sich schon seine Rache überlegte. Es war ein Leichtes seine Schwester zu erschrecken und er liebte es mit ihr zu spielen.
•••
Zur Mittagszeit saßen sie alle am riesigen Tisch im Esszimmer des Winter Resorts. Ingrid Henderson, die Köchin des Etablissements und private Haushälterin der Wilburns hatte eins ihrer berühmten skandinavischen Gerichte gekocht. Während des Essens unterhielten sich ihre Eltern mit ihrer Tante Eleonor und ihrem Onkel Jim, welche diesen Morgen mit ihren Cousins aus Edmonton angereist waren, über ihre Pläne für Weihnachten. Erin' und Kain's Baby-Cousins schliefen oben in ihren Babykrippen.
Kain zeigte nicht viel Interesse am Gespräch der Erwachsenen, stattdessen lagen seine Augen die ganze Zeit auf seiner Schwester, welche sich gegenüber von ihm befand.
Erin fühlte sich sichtlich unwohl, als sie seinen bohrenden Blick auf ihr spürte. Sie zuckte zusammen als ein schrilles Geräusch von seiner Seite ertönte.
Es war das Kratzen von einem Messer gegen die Oberfläche eines Porzellantellers. Das Mädchen schaute nicht auf, doch sie wusste, dass er sie schadenfroh angrinste. Das Geräusch sendete eiskalte Schauer über ihren Rücken.
Erin hasste Kain und versuchte ihm immer aus dem Weg zu gehen, doch er schaffte es immer wieder ihr Angst einzujagen, sogar vor Erwachsenen. Nirgendwo war die 9 Jährige vor ihrem psychopathischen Zwillingsbruder sicher. Nicht einmal in ihrem eigenen Zimmer, denn Kain hatte seine Geheimgänge und besuchte sie nicht selten mitten in der Nacht, wenn sie nicht damit rechnete. Er war ihr größter, zum Leben erweckter Albtraum.
Erin's Appetit war vergangen, dabei hatte sie ihre Fleischbällchen kaum angerührt. Sie fragte ihre Eltern, ob sie schon aufstehen konnte und erhob sich von ihrem Platz ohne ihrem Bruder einen letzten Blick zu würdigen, ehe sie den Gemeinschaftssaal betrat und sich vor dem Kamin setzte, um sich etwas aufzuwärmen. Sie waren erst seid einer Woche in Norwegen und sie würden bis Neujahr bleiben.
Das Mädchen mit den unschuldigen Augen so blau wie gefrorenes Eiswasser, der schneeweißen Haut, den wenigen Sommersprossen auf der Nase, den kirschroten Wangen und den langen welligen haselnussbraunen Haaren liebte Weihnachten mehr als jeden anderen Feiertag im Jahr. Sie liebte die magische und gemütliche Atmosphäre, die langen kalten Nächte, Weihnachtsbäume zu dekorieren und natürlich die vielen Geschenke. Winter war ihre Lieblingsjahreszeit. Sie liebte es aus dem Fenster zu schauen, wenn kleine kristallene Schneeflocken vom Himmel fielen und die Welt um sie herum in einem Mantel aus schimmerndem weiß gehüllt wurde. Erin schloss ihre Augen und lauschte ,tagträumend, dem beruhigenden Knistern des Feuers.
Schritte, die über das hölzerne Parkett hallten und sich ihr näherten, rissen sie aus ihren Gedankenstürmen. Sofort drehte sich das junge Mädchen um, nur um festzustellen, dass Kain ihr gefolgt war.
Augenblicklich war sie in Alarmbereitschaft, da sie wusste, dass er sich bei ihr rächen würde, weil sie ihn bei ihrem Vater verpetzt hatte. Ihr Bruder folgte ihrem panischen Blick und war sichtlich vergnügt, wie seine bloße Präsenz sie einschüchterte.
Er setzte sich neben sie und hielt seine Hand viel zu nah an die Flammen. Seine Gesichtszüge blieben emotionslos. Erin konnte sich nicht bewegen, sie war wie eingefroren, starr vor Angst. ,,Es war echt dumm von dir, mich bei Dad zu verpetzen."
Er hatte seinen Blick auf die Flammen gerichtet. Sein Ton war kalt, monoton. Seine Schwester schwieg, ihre Augen waren vor Furcht geweitet, ihr Herzschlag überschlug sich. Sie wollte, dass er ging und sie endlich in Ruhe ließ.
,,Du hättest das nicht tun sollen, Schwester. Du weißt, was passiert, wenn du zu Mom oder Dad gehst." Seine Stimme war ruhig, doch ein Hauch von Bedrohung schwebte in ihr mit. ,,Schau mich an, Erin!" Sie zuckte bei seinem lauteren Tonfall zusammen und schaute langsam auf in die kalten gefühllosen Augen ihres Bruders. Ein unheimliches Grinsen zierte seine Lippen, während die Schatten des Feuers seine dominanten Gesichtszüge umrahmten. ,,Ich könnte dein schönes Gesicht wie das deiner Puppen verbrennen, wenn ich es will." Seine Worte ließen ihr Blut gefrieren. Sie wusste nur zu gut wozu ihr Bruder in der Lage war. ,,Lass mich in Ruhe, Kain." wehrte sie sich, wobei sie nicht wusste woher ihr Mut auf einmal kam, sich ihm zu wiedersetzen.
,,Oder ich erzähle Dad, dass du mich bedroht hast." Sein Ausdruck verfinsterte sich, Dunkelheit trat in seine Augen. Erin lernte nie aus ihren Fehlern, aber er würde ihre sturköpfige kleine Seele noch brechen.
,,Weißt du noch, was mit Angel passiert ist?" erinnerte er seine kleine Schwester. Seine kalten Augen trafen auf ihre. Erin's Augen vergrößerten sich bei der Erwähnung ihres ersten Haustieres. ,,Ich könnte mit dir das Selbe machen und du würdest es nicht kommen sehen, wenn ich mich heute Nacht in dein Zimmer schleiche.." Er schaute ihr fest in die vor Angst geweiteten Augen, ein düsteres Grinsen auf den Lippen. ,,und meine Hände um deinen kleinen Hals lege und zudrücke, während ich dabei zusehe, wie dir langsam die Luft ausgeht, geliebte Schwester." Tränen glitzerten in ihren Augen und auf ihren Wangen. Kain erhob sich und verschwand die Treppen hinauf. Seine Worte verletzten sie wie scharfe Klingen, auch wenn sie die grausame Wahrheit längst kannte. Sie wusste, was er getan hatte und sie hatte es ihren Eltern erzählt, aber niemand hatte ihr je geglaubt. Leise weinte das Mädchen, welches ihre kindliche Unschuld zu früh verloren hatte, im Licht des Kaminfeuers, bis sie nicht mehr weinen konnte.
Am Nachmittag hatten die Wilburns einen Ski-Ausflug mit ihren beiden Kindern zur nord-östlichen Seite des Glittertind Berges geplant. Ihre Tante und ihr Onkel blieben im Resort, um auf ihre zwei Monate alten Cousins aufzupassen. Sie hatten geplant um zwei Uhr nachmittags loszugehen und um Acht pünktlich zum Abendessen zurückzukehren.
Die Luft war eiskalt und Erin konnte ihren eigenen Atem sehen, als sie ihren Eltern einen schmalen dichten Waldpfad hinunter folgte. Die riesigen von dicken Schichten Schnee bedeckten Nadelbäume ragten weit über dem Mädchen in den grauen wolkenlosen Himmel hinauf. Erin vernahm die Stimme ihres Bruders hinter ihr, als er sie einholte, wie er erzählte, dass Bären in diesen Wäldern lebten - ein Versuch ihr Angst zu machen. Aber sie wusste genau, dass es hier keine Bären gab, zumindest glaubte sie es. Die einzigen Tiere, denen sie begegnen könnten, waren Elche, Hasen, Rentiere und eventuell Wölfe. Aber es war unwahrscheinlich, dass sie letzterem tagsüber begegnen würden. Sie schaute in den grauen Winterhimmel hinauf. Es dämmerte bereits, da die Winter in Skandinavien lang, kalt und dunkel waren.
Erin konnte das Gewicht ihrer Skiausrüstung auf ihren Schultern spüren, was sie erschöpfte, so dass sie nach einer Weile eine kurze Pause machen musste. Ihre Eltern hatten nicht mitbekommen, dass sie stehen geblieben war und waren ihnen weit vorraus. Kain, der ein Stück hinter seiner Schwester war, nutzte seine Chance und formte einen Schneeball aus dem umliegenden Schnee, den er ihr ins Gesicht schleuderte, als sie es nicht kommen sah. Erin schrie so laut auf, dass sie den ganzen Wald hätte wecken können. Ihre Eltern kehrten um und eilten ihr zur Hilfe. Während Alan Wilburn seiner Tochter, die ihren Eltern alles erzählte, den Schnee von der Jacke klopfte, schaute Rachel Wilburn ihren Sohn herabwürdigend an. Ihr Vater sagte, dass er Kain zu Hause bestrafen würde. Sie setzten ihren Weg fort, aber Erin lief jetzt neben ihren Eltern, während Kain ihnen dahinter folgte.
Die Temperaturen waren unter null gefallen, als sie den berühmten Ski-Spot am Rande des Berges erreichten. Diese Stelle war äußerst beliebt unter Touristen und wurde in den Broschüren des Kundencenters des Jotunheimen-Nationalparks oft erwähnt. Der Berg ging steil hinunter in den Fichtenwald hinein, welcher sich zur Mitte hin zu einer klaren, weiten Winterlandschaft öffnete. Von oben hatte man einen unglaublichen Ausblick auf die weite Berglandschaft des Nationalparkes. Die Wilburns kamen hier immer zum Ski-fahren her, wenn sie im privaten Ski Resort auf dem Gipfel des Berges Urlaub machten. Das Wilburn Winter Resort gehörte ihrer Mutter, welche es von ihrer Urgroßmutter, die gebürtig norwegisch war, vererbt hatte. Es war ein öffentliches Ski-Resort die meiste Zeit des Jahres. Es hatte immer ab Mitte April bis Ende November auf. Ski-Urlauber mieteten sich hier in den kalten Monaten für mehrere Tage oder Wochen ein Zimmer, in der Jagdsaison war es besonders anspruchsvoll für Jäger, aufgrund der Lage zur unberührten Natur. Aber immer wenn die Wiburns vor Weihnachten anreisten, war es nur für Familienmitglieder zugängig. So war es immer jedes Jahr, eine Art Familientradition.
•••
Es wurde dunkel, als Erin zum gefühlt-hundertsten Mal den Gipfel erklam.
Der Himmel hatte sich abgedunkelt und die Nordlichter wurden von dunklen Sturmwolken verschlungen. Stunden waren vergangen und sie war unzählige Male hinunter gefahren.
Sie war ziemlich gut im Ski-Sport
für ihr Alter.
Doch jetzt fühlte sie sich einfach nur erschöpft und hungrig und wollte nach Hause zum Abendessen.
Das Mädchen schaute zu ihren Eltern, welche an einem kleinen Pickniktisch, nicht weit von ihr saßen und redeten. Sie hatten ihre Tochter noch nicht bemerkt. Als sie sich in ihre Richtung bewegte, spürte sie auf einmal eine Präsenz neben ihr .
Sie schaute zu ihrem Bruder.
,,Hey Erin, lass uns im Wald fangen spielen. Du fängst an."
Bevor sie antworten konnte, gleitete er den Hügel hinunter und verschwand im Dickicht des stillen Waldes.
,,Kain! Warte!" rief sie ihm nach, bevor sie den schneebedeckten Hügel hinab fuhr und ihrem Bruder ohne nachzudenken in den dichten Pinienwald folgte.
Adrenalin pumpte durch ihre Venen, als sie seinen Kopf hinter einer alten Fichte hervorschauen sah.
,,Warte! Kain, ich will jetzt nicht."
Das Mädchen war nicht wirklich in der Stimmung mit ihrem psychisch kranken Bruder zu spielen.
Sie war müde und hungrig und ihr war mittlerweile etwas kälter geworden. Sein Lachen durchbrach die Stille des Waldes.
,,Sei keine Spielverderberin. Du bist dran! Fang mich du lahme Schnecke!"
Mit diesen Worten rutschte Kain einen weiteren schmaleren Hügel hinunter und verschwand aus ihrem Blickfeld.
Erin seufzte und dachte für einen Moment darüber nach zu ihren Eltern zurückzukehren,
doch sie wollte nicht, dass ihr Bruder in Schwierigkeiten geriet.
Also folgte sie ihm und fand sich bald darauf in einem Gebiet wieder, welches ihr unbekannt war.
Sie konnte Kain nirgends entdecken und der Wind war stärker und kälter geworden und peitschte ihr bedrohlich ins Gesicht. Ihre Nase und ihre Wangen waren rot angelaufen von den nordischen Minustemperaturen. ,
,,Kain!" rief sie in die Stille des Waldes hinein. Sie wollte wirklich nicht mehr spielen.
,,Komm und hol mich doch!" Seine Stimme kam jetzt von nicht weit von ihr. Er konnte nicht weit sein. Augenblicklich fing es an zu schneien und ihre Sicht wurde ein wenig verschwommen. Das Mädchen spürte die feuchte Kälte auf ihrem Gesicht, als sie in die Richtung glitt, von der sie seine Stimme vernommen hatte. ,,Erin!" hörte sie erneut. ,,Ich bin hier!" Sie erkannte seine türkisblaue Skijacke hinter einer großen Tanne und beschleunigte ihr Tempo. Er hatte sie noch nicht bemerkt, da er mit dem Rücken zu ihr stand.
Sie berührte seine Schulter und der Junge drehte sich überrascht zu ihr um.
,,Du bist. Können wir jetzt bitte zurück gehen? Mom und Dad machen sich sicher schon Sorgen um uns." Sie schaute ihn flehend an. Kain dachte für einen Moment über die Bitte seiner Schwester nach, dann erschien ein triumphierendes Grinsen auf seinen Lippen.
,,Nein, noch nicht. Jetzt bin ich dran, dich zu kriegen." Seine Worte wurden von den schwerer werdenden Windböhen davon getragen.
Erin versuchte ihrem Bruder zu entkommen, doch sie war zu langsam. Er ergriff ihre Arme und stieß sie mit voller Kraft rückwärts eine steile Waldebene hinunter. Seine Schwester torkelte und verlor ihr Gewicht in ihren Skiern, ehe sie herunterrutschte, an sämtlichen Dornenbüschen hängen blieb und letzendlich mit dem Gesicht unten im kalten Schnee landete.
Langsam schaute sie auf und blinzelte den Schnee von ihren Wimpern, ehe ihr Blick auf Kain fiel, der hoch oben auf dem Abhang stand und lachend zu ihr hinunter schaute. Das Mädchen spürte die ergreifende Kälte unter ihrem Oberkörper. Die schadenfrohe Stimme ihres Bruders hallte durch die Bäume.
,,Das hast du davon, so eine kleine hinterhältige Ratte zu sein."
Die Eiseskälte betäubte ihren Körper, sie konnte sich nicht bewegen.
,,Tu das nie wieder oder schlimmere Dinge werden geschehen." drohte ihr Bruder und drehte sich um und verschwand aus ihrem Sichtfeld, seine Schwester im Schnee und der kommenden Dunkelheit alleine lassend. Es waren die letzten Worte, die Erin je von ihm hören würde.
Sie war allein und sie konnte ihre Beine nicht mehr spüren. Dicke Schneeflocken segelten vom Himmel hinab und landeten in ihrem dunklen Haar, auf ihrer roten Skijacke, sammelten sich am vereisten Waldboden. Der Wind hatte zugenommen und wehte ihre feinen Haarsträhnen in alle Richtungen. Ihre Handschuhe und ihre Hose sogen sich mit nassem Schnee voll. Hatte Kain ihren Eltern gesagt, wo sie war? Würden sie kommen, um sie zu holen? Sie lauschte auf ihre Stimmen oder Schritte im Schnee, aber die Wälder waren bedrückend still und sie konnte nur ihren verschnellten Herzschlag und das Heulen des Windes hören. Würden sie sie zurück lassen?
Erin versuchte aufzustehen, doch ihr rechtes Bein steckte fest. Sie versuchte ihren Kopf zu drehen, um die Ursache zu finden. Ihr linker Skier war ziemlich stark in den abgestorbenen Zweigen eines Dornenstrauches verheddert. Sie versuchte ihr linkes Bein von ihrem Skier zu trennen, doch verzog ihr Gesicht, als ein pochender Schmerz ihren Körper durchzuckte. Ihr Skier hatte sich fest um dieses umschlungen und ihr Knöchel war im Fall verrenkt worden. Die Dornensträucher hatten ihre Hose an den Knöcheln und Knien zerfetzt und ihre Haut darunter zerkratzt. Sie kam an ihren Fuß und dem Dornentrauch in ihrer Position nicht ran. Sie steckte hier fest und es war inzwischen stockdunkel. Langsam bekam sie es mit der Angst zu tun. Was wäre wenn ein Rudel hungriger Wölfe sie vor ihrer Familie finden würde? Sie konnte nicht kämpfen. Was auch immer sie finden würde, wäre klar im Vorteil. Sie war hier gefangen, sie hätte nicht einmal den Hauch einer Chance gegen ein wildes Tier. Sie zappelte und versuchte sich los zu kriegen, den Schmerz in ihrem Bein ignorierend, doch sie machte diesen nur schlimmer. Sie wollte nach Hause. Sie wollte nicht von Wölfen gefressen werden. Die 9 Jährige versuchte ihre kommenden Tränen zu unterdrücken.
,,Ich hasse dich, Kain." murmelte das brünette Mädchen, doch ihre bläulichen Lippen gefroren beim Sprechen.
Ihr Atem war in der Dunkelheit sichtbarer als am Tag, weiße Nebelwolken in der eisigen Nachtluft. Der heulende Wind war jetzt lauter als zuvor und es fühlte sich an, als würde ein Sturm aufziehen.
,,Erin!" vernahm sie die Stimme ihres Vaters auf einmal von Weitem. ihre Augenlieder fühlten sich schwer an, so schwer, Sie versuchte etwas zu sagen, aber ihre Lippen waren zugefroren. Der Wind war so laut, es war schwer, etwas zu verstehen. ,,Erin, wo bist du?"
diesmal war es die Stimme ihrer Mutter, Sie waren jetzt näher am Abhang. Das Mädchen versuchte sich zu bewegen, aber ihr Körper war eine Eisskulptur. Schneeflocken verbogen sich unter dem Druck des starken Windes und peitschten ihr gewaltsam ins Gesicht. Es schmeckte salzig. Endlich erschien eine große schattenhafte Silhouette im Dunkeln oben am Fuße des Abhangs. Erleichtert stellte Erin fest, dass es ihr Vater war, der jetzt zu ihr hinunter lief, ihre Mutter folgte ihm. Ihr Vater befreite ihren Fuß aus den Zweigen und dem Skier und half ihr auf die Beine. Das Mädchen konnte ihre Beine vor Unterkühlung kaum spüren, aber sie konnte trotz dem Schmerz in ihrem linken Fuß noch halbwegs gehen.
Die Wilburn bemerkte jetzt erst, dass ihr Bruder nicht dabei war, aber sie dachte, dass er schon bei den Picknicktischen auf sie wartete. Sie schaute in die geröteten Augen ihrer Mutter, welche geweint hatte. Der Rückweg zum Picknickplatz kam ihr vor wie eine Ewigkeit. Der Sturm tobte noch immer und verbog die Bäume über ihren Köpfen gefährlich in alle Richtungen.
,,Ich will nach Hause." sagte Erin, deren linkes Bein noch immer schmerzte. Es war wahrscheinlich verstaucht.
Endlich erreichten sie den Skiplatz, von dem sie gekommen waren, aber etwas war merkwürdig. Wo war ihr Zwillingsbruder? Sie wandte sich ihren Eltern zu und brach endlich das Eis. ,,Mom, Dad? Wo ist Kain?" Ihre Mutter schluckte und sofort verstand Erin die Situation.
,,Das wissen wir nicht." Ihr Vater schaute sie verzweifelt an. ,,Wir haben ihn überall gesucht. Wir dachten, er wäre bei dir."
Kain war weg. Dieser Gedanke war fast schon beruhigend, aber wo war er? War ihm etwas zugestoßen? Erin erzählte ihren Eltern alles was passiert war und wo sie ihren Bruder zuletzt gesehen hatte. Ihre Mutter bittete sie, dass sie bei den Picknickbänken auf sie wartete, bis sie aus den Wäldern zurückkehrten. Ihre Eltern gingen ihren Bruder an den Orten suchen, an denen Erin ihn zuletzt gesehen hatte.
Es wurde kälter und ein verheerender Schneesturm zog auf. Erin konnte spüren, dass etwas Schlimmes geschehen war, es lag in der Luft. In dieser Nacht würde sich alles ändern. Das Mädchen konnte die Stimmen ihrer Eltern nur vage zwischen dem kreischenden Sturmböhen hören. Sie riefen immer wieder verweifelt den Namen ihres Bruders, immer und immer wieder. Es fühlte sich an, als wäre sie in einer Zeitschleife.
Ihre Mutter hatte ihr eine dicke Wolldecke um die Schultern gelegt, welche sie etwas aufwärmen sollte. Die Nadelbäume knarzten laut und wogen sich bedrohlich in den Sturmböhen. Es war jetzt so laut, dass sie ihre Eltern nicht mehr hören konnte.
Das 9 jährige Mädchen erhob sich langsam von der hölzernen Bank, die warme Decke noch immer um ihre rote Jacke hängend. Langsam machte sie sich auf dem Weg dem verschneiten Hügel hinunter und betrat den Wald. Ihre Skier hatte sie an der Bank lehnend oben zurückgelassen. Sie rief einige Male nach ihrem Bruder, aber sie ging nicht tief in den Wald, da sie sich nicht im Schneesturm verlaufen wollte.
,,Kain!" rief Erin so laut sie konnte, doch ihre Stimme ging im tosenden Sturm verloren. Es ergab keinen Sinn. Vielleicht war er ja schon vor ihnen zur Lodge zurückgekehrt? Er kannte den Weg gut genug, er musste einfach schon im Resort sein und auf sie warten.
Auf einmal stach ihr etwas ins Auge. Es war nicht weit von ihr, halb vergraben im gefallenem Schnee.
Am Rand einer Schlucht mitten im Wald und es sah aus wie etwas aus blauem Plastik. Aus Neugier bewegte sich das Mädchen, entgegen des Windes, noch immer mit der Decke um die Schultern geschlungen, auf das merkwürdige Ding zu. Jetzt erkannte sie auch was es war. Ein blauer Skier. Kain's Skier. Er musste ihn verloren haben. Sie hob ihn auf und ging einige Schritte auf den Rand der felsigen Schlucht zu.
Sie schaute in die schmale, aber tiefe dunkle Schlucht hinab. Sie war vorsichtig, denn sie wollte nicht 7 oder 8 Meter in die Tiefe stürzen.
,,Kain?" fragte Erin vorsichtig, als sie in die Dunkelheit spähte. Sie holte eine Taschenlampe aus ihrem Rucksack. Etwas war da unten, sie hatte es für einen Augenblick gesehen. Es war kein Tier.
Sie leuchtete mit dem Licht ihrer Taschenlampe in das tiefe Loch. Die Wände waren aus gefrorenem Stein. Es ging mehrere Meter ziemlich steil nach unten. Man konnte leicht hineinfallen. Doch da war noch etwas oder besser gesagt, jemand.
Er lag unten am Boden und bewegte sich nicht. Seine türkisblaue Jacke leuchtete im Licht der Taschenlampe auf wie das Warnlicht eines Straßensperre-Schildes. Es war die selbe strahlende Farbe, wie die des Skiers, den sie noch immer in der anderen Hand hielt. ,,Kain?" fragte seine Schwester vorsichtig, als sie das Licht auf ihren Bruder hinunter scheinte. Er schien nicht bei Bewusstsein zu sein. Oder am Leben. Eine dunkelrote Pfütze hatte sich unter dem Jungen ausgebreitet und färbte den heruntergefallenen Schnee unter ihm blutrot.
Sie konnte sein Gesicht nicht sehen, da dieses von seiner Kaputze verdeckt wurde. Vielleicht waren seine Augen weit geöffnet. Leblos. Leer.
,,Kannst du mich hören?" Ihre Stimme hallte von den engen Steinwänden wieder. Sie wartete auf eine Regung von ihm, doch nichts passierte. Vielleicht war er verletzt, fiel ihr ein, oder tot.
Er ist gefallen und hat sich das
Genick gebrochen.
Es ergab Sinn. Sie konnte seinen anderen Skier neben ihm ausmachen. Seine Beine waren seltsam ...
verdreht.
,,Erin? Wo bist du?" Sie vernahm die Stimme ihrer Mutter von hinter ihr und drehte sich zu ihr um.
Dabei berührte sie ausversehen den Skier ihres Bruders, welchen sie auf dem Boden gelegt hatte und hörte wie er unten auf dem steinigen Boden aufschlug.
,,Mom, Ich bin hier!" rief das Mädchen und warf einen letzten Blick in die dunkle Schlucht.
Dann stolperte sie zurück und direkt in die schützenden Arme ihrer besorgten Mutter.
,,Oh mein Gott, Schatz, geht es dir gut?" fragte Rachel Wilburn und schaute besorgt in das Gesicht ihrer Tochter. Ihr Blick wanderte hinüber zu der Schlucht.
,,Was machst du hier draußen? Du solltest doch auf uns warten." Sie atmete tief aus, erleichtert, wenigstens eines ihrer Kinder, unbeschadet gefunden zu haben.
,,Hast du etwas gefunden, Erin?" Ein Schwal von Hoffnung schwang in ihrer Stimme mit, als sie abwartend zu ihrer Tochter schaute.
Erin musste erst einmal verarbeiten, was sie dort unten in der Schlucht gefunden hatte.
War ihr Bruder wirklich tot? Würde sie nie wieder seine kranken Spiele ertragen müssen? Waren all die Jahre der Qualen, die sie ertragen musste, endlich vorbei?
Sie schüttelte fast schon automatisch ihren Kopf.
Der Licht erlosch in den Augen ihrer Mutter.
,,Nein, Mommy. Da ist nichts." Mrs Wilburn nickte traurig und drückte ihre kleine Tochter fest an sich. Dann löste sie sich von ihr und Erin ergriff ihre Hand. Kain war weg.
Kain war tot.
,,Lass uns nach Hause gehen. Du zitterst schon vor Kälte." erwiederte ihre Mutter und brachte Erin weg von der Schlucht, in der sich ihr bewusstloser Bruder befand - und zurück zu dem Picknickplatz, wo ihr Vater schon auf die beiden wartete.
,,Habt ihr ihn-" fragte ihr Vater, als sie ihm entgegen kamen und atmete erleichtert aus, als er Erin neben ihrer Mutter erblickte.
,,Oh Gott sei Dank, geht es dir gut. Tu sowas bitte nie wieder. Ich möchte dich nicht auch noch verlieren, Erin."
Langsam machten sich die drei auf den Weg zurück zum Resort.
,,Keine Sorge, wir werden deinen Bruder finden." erwiederte der Officer und schaute seine Familie aufbauend an.
,,Wir müssen es der Bergwache melden, Alan." sagte ihre Mutter und legte eine Hand um ihre Tochter, welche neben ihr her lief.
,,Sie müssen nach ihm suchen. Vielleicht ist er in eine Schlucht gefallen, ich meine es wäre möglich." fuhr sie fort und wischte sich eine Träne von der Wange.
Der Schneesturm war verheerend und ließ ihren Rückweg viel länger erscheinen. Es war schwer etwas in dem heftigen Schneefall zu erkennen. Ihr Vater wiederholte, dass sie ihn wiederfinden würden, doch ihre Mutter hatte Schwierigkeiten seinen Worten Glauben zu schenken.
•••
Als sie das Wilburn Winter Resort erreichten, kam ihre Tante sofort den Dreien entgegen und ihre Mutter erzählte ihr unter Tränen sofort alles was passiert war.
Schon bald erschienen die Bergwache, die Polizei und sämtliche Feuerwehr- und Krankenwagen auf dem Gipfel des Berges. Sämtliche Rettungshubschrauber und Rettungssuchteams mit Hunden wurden in die Wälder geschickt, um den vermissten Jungen zu finden.
Während schon die ersten Drama-hungrigen Journalisten vor dem Ski Resort auftauchten und die Polizisten ihre Eltern nach wichtigen Details ausfragten, konnte Erin nur an ihren Bruder denken, welcher leblos am Boden einer dunklen Felsenschlucht irgendwo in den Wäldern lag, während rote und blaue Sirenenlichter auf ihre Haut trafen.
Sie hatte alles vor Augen. Die türkisblaue Jacke und wie er sich nicht regte. Der blutrote Schnee. Seine unnatürlich verdrehten Beine. Die Chancen waren gering, dass sie ihn in dieser abgelegenen engen Schlucht finden würden, aber wenn er wirklich tot war, war es sowieso für jegliche Rettung zu spät.
Erin beobachtete wie die Polizisten und Journalisten hin und her liefen und alle Anwesenden über dem Abend des 5. Dezembers ausfragten. Ein seltsamer aber beruhigender Gedanke kam ihr in den Sinn.
Kain wird ihr nie wieder
weh tun.
Noch wusste sie nicht, wie töricht dieser Gedanke war, dass ihr Bruder im Sturz gestorben war. Noch wusste sie nicht, dass Kain ganze 10 Jahren im Keller des Resorts leben würde, bis er sich eines Tages an ihr rächen kann für den größten Fehler ihres Lebens, als seine Schwester 10 Jahre später mit ihren Studentenfreunden in jenes Resort zurückkehren würde.
Bạn đang đọc truyện trên: Truyen247.Pro