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Als Seth den Anruf am darauffolgenden Tag auch beim vierten Versuch nicht annahm, war meine Laune bereits wieder am Tiefpunkt angelangt. Verdammte Scheiße, wieso ging er seit gestern nicht an sein Handy?
Ein flüchtiger Blick auf die Uhr und ich war mir sicher, dass er in keinem Termin mehr saß. Trotzdem hatte er seit gestern Abend keinen meiner Anrufe angenommen oder auf meine Nachrichten geantwortet.
Vielleicht war er mit Freunden aus? Oder bei seinen Eltern?
„Fuck, reiß dich zusammen!", ermahnte ich mich selbst.
Dann geht Seth eben nicht an sein beschissenes Handy! Krieg dich ein!
Ich zwang mich, meine Gedanken auf etwas anderes zu konzentrieren und landete bei dem Gespräch mit Curtis. Die Offenbarung, dass er schwul war, hatte mich doch etwas aus der Bahn geworfen. Wieso war es mir in all den Jahren nicht aufgefallen? Er hatte nie eine Frau mitgebracht oder gar erwähnt und trotzdem war mir nie in den Sinn gekommen, dass er schlichtweg nicht an ihnen interessiert war.
„Alec?", ertönte eine Stimme hinter mir und ich hob den Kopf. Dan stand im Türrahmen, in der Hand hatte er sein Handy. Etwas an seinem Gesichtsausdruck passte mir gar nicht.
„Was ist?", knurrte ich.
„Das solltest du dir ansehen", entgegnete Dan, während er auf mich zuging und mir sein Handy reichte.
Auf dem Display erkannte ich den geöffneten Browser der Austin Chronicle. Was zum Teufel sollte ich mit der Zeitung anfangen? Ich las diese Scheiße erst gar nicht, denn das Leben an sich war schon deprimierend genug. Da musste ich nicht auch noch Berichte über Schießereien in Schulen oder Vergewaltigungen in den Armenvierteln lesen.
Ich war schon drauf und dran, Dan zu fragen, was ich damit sollte, als mein Blick auf die Überschrift des bereits geöffneten Artikels fiel.
Anwalt wegen Mordes angeklagtem Gangoberhaupt in Verkehrsunfall verwickelt
Seth Floyd, einer der bekanntesten Newcomer-Anwälte der Stadt Austin, war am Donnerstagabend in einen Verkehrsunfall verwickelt. Mr. Floyd vertritt im kommenden September den vermeidlichen Mörder und Anführer der Dark Bloods, Alec Jackson.
Derzeit befindet sich Mr. Floyd im Ascension Seton Medical Center in Austin, wo seine Verletzungen behandelt werden. Sein Büro war zu keiner Aussage über seinen derzeitigen Zustand bereit und bittet darum, von diesbezüglichen Anfragen abzusehen.
Mein Herz machte einen Satz und ich hatte das Gefühl, dass man mir den Boden unter den Füßen wegreißen wollte. Um Fassung bemüht, las ich den Artikel noch einmal, bevor ich das Handy mit Wucht gegen die Wand warf.
„Hey!", kam es aufgebracht von Dan, der sein Handy hastig vom Boden aufhob und auf Beschädigungen untersuchte. „Du hast Glück, dass ich eine wurfsichere Hülle habe, Alec. Was sollte das?"
„Wo ist Curtis?", fragte ich, ohne auf seine Worte einzugehen.
„Ich glaube oben", erwiderte Dan.
„Hol ihn her – sofort!", knurrte ich und ein Blick von mir genügte, um Dan in Bewegung zu setzen.
Während ich hörte, wie er die Treppe hinaufeilte, begann ich im Raum auf und abzugehen. Heilige Scheiße, was, wenn er ernsthaft verletzt war? Bilder von Seth, wie er an irgendwelchen Maschinen hing, tauchten vor meinem inneren Auge auf.
„Fuck!", fluchte ich leise.
Bevor ich einen weiteren Gedanken fassen konnte, hörte ich bereits die schweren Schritte von Curtis auf der Treppe. Sein Gesicht war ernst, als er das Wohnzimmer betrat und ich ging davon aus, dass Dan ihm knapp erzählt hatte, um was es ging.
„Ascension Seton Medical Center", sagte ich harsch und mein Bruder nickte. Ich folgte ihm automatisch zur Tür und erst, als Curtis mich fragend ansah, fiel mir wieder ein, dass ich das Grundstück nicht verlassen konnte. Mit fest zusammengepressten Kiefern stand ich da und versuchte Ruhe zu bewahren. Etwas ging gerade mit mir durch und ich hatte keine Ahnung, wieso.
„Ich seh' nach dem Rechten, Alec. Mach dir keine Sorgen", raunte mir Curtis zu und ich nickte.
In jeder anderen Situation hätte ich sofort geleugnet, dass ich in Sorge war, aber momentan war es zwecklos. Ich war mir ziemlich sicher, dass Curtis meine derzeitige Stimmung wahrnahm, und ich war ihm dankbar dafür, dass er keine Fragen stellte.
Während er zusammen mit Dan in den Truck stieg, stand ich einfach nur im Türrahmen und starrte ihnen hinterher. Ich hatte keinerlei Zweifel, dass sie es ins Krankenhaus schaffen würden, doch es war nicht gerade die beste Idee. Für gewöhnlich hielten wir uns von öffentlichen Orten fern, denn auch, wenn niemand von uns dort für Aufruhr sorgen wollte, folgte der Ärger uns meistens von allein.
Frustriert ging ich zurück ins Haus und steuerte direkt in Richtung Küche. Dort holte ich mir aus einem der Schränke eine Flasche Johnny Walker Blue Label heraus. Ich trank nicht oft, doch wenn ich es tat, wollte ich wenigstens etwas Gutes trinken und nicht diese billige Scheiße, die als Whisky verkauft wurde.
Nachdem ich das halbe Glas in einem Schluck runtergestürzt hatte, spürte ich sofort die Wärme des Alkohols in meiner Brust aufsteigen. Mit jeder darauffolgenden Minute, die verstrich, beruhigten sich meine Nerven etwas mehr, bis ich schließlich nach weiteren zehn Minuten wieder einigermaßen klar im Kopf war.
Um mir die Zeit des Wartens zu vertreiben, füllte ich das Glas erneut bis zur Hälfte und ging dann zurück ins Wohnzimmer. Eigentlich hatte ich den Fernseher anschalten wollen, doch ich kannte mich zu gut, um zu wissen, dass es mich nicht ablenken würde. Keine Ahnung, wann ich das letzte Mal auf dieser Couch gesessen hatte, um einen Film anzuschauen, aber in diesem Jahr war es definitiv nicht gewesen.
So verstrich die Zeit langsamer, als je zuvor in meinem Leben und gerade, als ich dachte es nicht mehr auszuhalten, klingelte mein Handy.
„Wurde verfickt auch mal Zeit, Curtis! Du sagst mir jetzt besser, dass es ihm gut geht", knurrte ich, ohne eine Begrüßung.
„Alec?", ertönte Seths raue Stimme und sofort durchfuhr mich Erleichterung.
„Scheiße, du hast mir einen verfluchten Schrecken eingejagt, Seth. Mach das nie wieder, verstanden?", entwich es mir, bevor ich wirklich darüber nachgedacht hatte, was ich da eigentlich sagte.
Ein leises Lachen ertönte und ich spürte, wie mein Herz einen Hüpfer bei diesem Geräusch machte. Man könnte meinen, ich hätte mir den Kopf irgendwo angeschlagen.
Mich innerlich zur Kontrolle zwingend, schloss ich für einen Moment die Augen und sagte dann: „Erzähl mir, was passiert ist."
„Ich – mein Kopf war von der Arbeit so voll, dass ich nach einem Radiosender gesucht habe und dabei völlig vergessen habe, auf die Straße zu sehen. Es hat geschüttet und ich hätte einfach besser aufpassen müssen."
Etwas an dieser Antwort war gelogen, das konnte ich sofort sagen.
„Was hat dich abgelenkt, Seth?", fragte ich ohne Umschweife. Das konnte unmöglich die ganze Geschichte sein.
„Das Radio, hab ich doch -"
„Du lügst. Das letzte, worum du dich im Normalfall kümmern würdest, wäre das Radio. Fuck, als ich das letzte Mal bei dir mitgefahren bin, lief irgendein Oldies-Sender, also wovon wolltest du dich so dringend ablenken, dass du am Radio herumgefummelt hast?"
Für kurze Zeit herrschte Stille am anderen Ende der Leitung. Schließlich war ein Seufzen zu hören und Seth sagte ernst: „Mein Kopf ist einfach zu voll, Alec. Die letzten Wochen waren anstrengend und -" - er stockte, geradeso als ob er überlegte, wie er seine Worte am besten formulieren sollte - „es ist viel passiert. Es war meine eigene Schuld. Der andere Fahrer hat frühzeitig gehupt und ich konnte noch rechtzeitig das Steuer herumreißen. Ansonsten wäre ich ihm frontal reingefahren. Ich bin einfach nur froh, dass ihm nichts passiert ist."
„Ja, was ein Glück", murmelte ich angepisst. „Wann darfst du das Krankenhaus verlassen?", fügte ich schließlich hinzu. In all der Aufregung hatte ich ihn nicht einmal gefragt, wie es ihm ging.
„Der Arzt meinte, es ist nur ein leichtes Schleudertrauma und die Platzwunde am Kopf wurde bereits genäht, also sollte ich morgen wieder raus sein."
Hatte er Platzwunde gesagt?
Mit zusammengepressten Zähnen starrte ich starr auf die Tür, um ja nichts Falsches zu sagen. Im selben Moment sah ich, wie ein weißer Umschlag unter der Tür durchgeschoben wurde und sprang auf.
„Curtis wird dich morgen aus dem Krankenhaus abholen und danach wirst du hier bleiben. Spar dir irgendwelche Ausreden, es ist bereits beschlossene Sache", sagte ich, während ich mit der linken Hand meine Knarre aus dem Hosenbund holte und auf die Tür richtete. „Ich muss jetzt auflegen. Sag Curtis und Dan, sie sollen sofort zurückkommen. Jemand ist hier."
Dann legte ich auf und steckte mein Handy in die hintere Hosentasche. Langsam und leise ging ich zur Tür und spähte durch das Türloch. Ich konnte niemanden davor erkennen und auch die Straße wirkte leer. Ich wusste, dass jemand hier war, denn wer auch immer diesen Umschlag unter der Tür durchgeschoben hatte, konnte unmöglich so schnell zu Fuß verschwinden.
Außer Omar, der sich immer noch von seiner Schusswunde erholte, war niemand im Haus. Bis Curtis und Dan wieder hier waren, würde es dauern. Meine Aussichten waren also beschissen, falls wirklich jemand versuchen sollte, mich umzulegen.
Da allerdings bis jetzt niemand einen Versuch gestartet hatte, lag meine Vermutung eher darauf, dass ich den Brief lesen sollte, den man mir zugeschoben hatte. Mit einem letzten flüchtigen Blick durch das Türschloss hob ich den Umschlag vom Boden auf und zog ein Stück Papier hervor, auf dem ein einzelner Satz stand.
Beim nächsten Mal ist er fällig.
Wut packte mich. Was zum Teufel sollte dieser Scheiß? Mit nur wenigen Schritten war ich wieder an der Tür angelangt, richtete meine Knarre darauf und riss sie auf. Natürlich war noch immer niemand zu sehen, doch das interessierte mich wenig.
„Wenn du was zu sagen hast, dann sag es mir ins Gesicht, Arschloch!", sagte ich laut.
Bis auf einige komische Blicke von der Alten von nebenan, erhielt ich keinerlei Reaktion auf meine Worte. Verdammt, irgendjemand musste hier sein.
„Wenn Sie den jungen Mann von eben suchen, der ist bereits auf seinem Motorrad verschwunden", kam es plötzlich von der älteren Dame und ich horchte auf.
„Welcher Mann?", fragte ich scharf.
„Der junge Mann, der an Ihrer Tür war. Ich dachte zunächst, er wäre ein Besucher ... hat seinen Helm nicht abgenommen ... ein sehr unhöfliches Verhalten, wenn Sie mich fragen ... Zu meiner Zeit -"
„Haben Sie ihn gekannt? Wie sah er aus?", unterbrach ich sie ungeduldig. Ich hatte jetzt wirklich keine Nerven für eine Anekdote aus dem letztem Jahrhundert.
„Nein, ich habe doch gesagt, er hatte einen Helm auf. Hatte es offenbar eilig, von hier wegzukommen ..."
Ich ersparte mir, ihr weiter zuzuhören und ging stattdessen zurück ins Haus. Trotz allem, dass ich mir sicher war, dass es keiner auf mich abgesehen hatte, war es nicht die beste Idee, so offen vor dem Haus zu stehen. Die Message war allerdings klar. Seths Unfall war kein Zufall gewesen und wer auch immer dafür verantwortlich war, würde es wieder tun.
Bei diesem Gedanken schnürte sich meine Kehle zu. Seth war in Gefahr und das, weil er mich verteidigte. Scheiße, das hieß, ich hatte genau zwei Optionen: Entweder ich würde Seth nicht mehr als meinen Anwalt nehmen oder ich behielt ihn und riskierte damit sein Leben.
„Fuck!", schrie ich laut. Es dauerte nicht lange, bis ich Schritte hörte und Omar im Wohnzimmer stand.
„Alec, was ist los?", fragte er verschlafen.
Seine dunkle Haut wirkte blasser als sonst und die dunklen Ringe unter seinen Augen verdeutlichten mir, dass er wegen der Schmerzen immer noch nicht viel Schlaf abbekam. So beschissen ich mich deswegen auch fühlte, ich brauchte jetzt jeden meiner Brüder.
„Ruf Jamal an. Sag ihm, jemand war hier und hat mir gedroht. Er soll die anderen abholen. Die Ruhe ist vorbei, und zwar ein für alle Mal. Ich will diesen Bastard vor mir knien haben, damit ich ihm ins Gesicht sehen kann, wenn ich ihm eine Kugel in den Kopf jage!"
Der müde Ausdruck verschwand sofort aus Omars Gesicht und er zog sein Handy hervor, um meinen Anweisungen Folge zu leisten. Wer auch immer hinter all dieser Scheiße steckte, jetzt war meine Grenze erreicht. Es war eine Sache, mir einen Mord anhängen zu wollen, aber ich würde sicher nicht zulassen, dass jemand wegen mir sein Leben verlor – schon gar nicht Seth.
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