
Ich bin bei dir 2.0
Henry
Ich erwachte blinzelnd mit verbundenen Händen und Füßen in unserem Wohnzimmer. Über meinem Mund war eine ordentliche Schicht Tape und verhinderte somit, dass ich sprechen konnte. Geschweige denn schreien.
Noch leicht benommen erkannte ich Piper, die immer noch gefesselt auf dem Stuhl saß. Meine Eltern waren neben mir, ebenfalls geknebelt.
Ray war fort. Wo war er? Ließ er mich im Stich? Piper liefen ununterbrochen große Tränen die Wangen hinunter. Sie hatte Angst, aber ich auch. Das hatte wahrscheinlich jeder in diesem Raum.
Es dauerte etwas, bis ich alles klar und deutlich erkennen konnte. Draußen war es schon dunkel und im Haus brannte ein kleines Licht. Lange Zeit saßen wir alle dort und bewegten uns kein bisschen. Bis ich eine schwarze Gestalt erkannte, die sich mit schnellen Schritten zu uns bewegte. Groß, mit einem schwarzen Mantel um den Körper und einem silbernen Koffer in der rechten Hand. War das der Herrscher des Bösen? Er sah jedenfalls so aus. Der Mann, wie ich annahm, stellte seinen silbernen Koffer neben Piper auf den Tisch. Mom und Dad hatten Herzrasen, das hörte ich, so unmöglich sich das vielleicht anhören mag.
Um Pipers Herzschlag hören zu können, war ich zu weit fort. Doch ich war mir sicher, dass ihr Herz förmlich galoppierte. Der Mann drehte sich endlich um und wir sahen sein Gesicht. Besser gesagt, seine Maske, die er trug.
Mit unfassbar kräftiger und lauter Stimme - gewandt an uns alle - sprach er. «Vielen Dank, dass ihr alle hier seid. Ich habe große Pläne mit ein paar von euch.» Mein Herz schlug nicht mehr und mein Blut floss nicht mehr. Es war als würde ich sterben. Das konnte doch nicht real sein.
«Hat irgendjemand von euch Fragen, bevor ich anfange?», erkundigte er sich. Wie lustig er doch war. «Oh stimmt. Ihr könnt ja gar nicht Reden. » Er lachte ein paar Sekunden, stieß dann ein Seufzen aus und wurde ernst.
Der Mann kam mit großen, bedrohlichen Schritten auf mich zu und kniete sich vor mich. Damit ich ihn ansah, selbst, wenn ich nur eine schreckliche weiße Maske sah und niemanden erkennen konnte. Wie Feige er doch war.
«Fangen wir mit dir an, Henry», flüsterte er und riss mir mit voller Wucht das Klebeband vom Mund, was höllisch weh tat, jedoch ließ ich mir nichts anmerken. Was ich empfand war Wut.
Ich tat einen tiefen Atemzug, bevor ich anfing zu reden. Piper sah mich mit ihren trüben, angsterfüllten Augen an, die sich nach einer Umarmung sehnten. Wie gerne würde ich ihnen diesen Wunsch erfüllen.
Mom und Dad schauten gebannt zu, als könnten sie nicht anders, als zuzusehen.
«Egal was Sie vorhaben, nehmen Sie mich und lassen Sie meine Familie in Ruhe.» Ich funkelte ihn an.
«Ach, Henry, das hatte ich auch vor. Wie mutig du bist. Beeindruckend.» Ich sagte nichts mehr. Ich wollte einfach, dass er es hinter sich brachte und mich tötete, wenn das sein Ziel war.
«Ich erzähl dir mal was über dich. Ich beobachte dich zwar noch nicht lange, doch du beeindruckst mich immer wieder. Es wurde Zeit, dass du mich kennenlernst.» Er machte eine Pause und wir alle hörten im zu, was hätten wir auch sonst tun sollen?
«Du bist unfassbar mutig, du stellst andere vor dich selbst, egal in welcher Situation, auch wenn es dein Leben kosten würde. Dir ist es egal, wie dich jemand und deine Gefühle sieht, da du weißt, dass es einen Grund dafür gibt, dass du sie fühlst. Du bist Intelligent, denn so was denkt nicht jeder. Die meisten schämen sich für ihre Gefühle, selbst wenn es nur Liebe ist. Was ein Glück, dass ich nichts fühle und mich einen Dreck um dich schere.» Er lachte erneut.
«Können wir endlich anfangen?», fragte ich genervt. So wie er einen Dreck um mich scherte, scherte ich einen Dreck um seine Ich-wäre-ja-eigentlich-doch-ganz-gerne-ein-Held-Rede.
Er nickte, grinste mich breit an. «Natürlich. Umso besser, dass du willst, dass deine persönliche Hölle jetzt schon beginnt.» Der Mann stand wieder auf und öffnete seinen Metallkoffer.
Ich erkannte die Form dreier Waffen und zweier verdammt großer Spritzen. Nicht zu vergessen lag noch ein Messer mitsamt Skalpell im Koffer. Was um Himmelswillen hatte er damit vor? Würde ich so qualvoll meinen letzten Lebenstag verbringen? Und müssten Piper und meine Eltern mir dabei zusehen? Er war doch definitiv ein Psychopath und reif für die Klapse. Wer auch immer ihn erfunden hätte - wäre er ein Roboter - müsste genauso eingesperrt werden.
Weil ich von dem aller schlimmsten ausging, rechnete ich in diesem Moment das aller erste Mal damit, dass ich sterben würde. An meine Familie gewandt sprach ich folgendes: «Alles wird gut. Ihr schafft das auch ohne mich.» Sie waren stark, das ging alles schon irgendwie. In ein paar Jahren, erinnerte sie sich an mich nur noch durch die Fotos, die hier herumstanden, wenn sie diese nicht auch irgendwann wegräumen würden.
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