
6. Der tragische Unfall
Henry
An diesem Morgen war mir das Klingeln meines Weckers total egal. Nein, eigentlich ganz im Gegenteil, ich freute mich darüber. Heute würde ich zusammen mit Lucy in die Schule gehen. Für die meisten mag es zwar nichts Besonderes sein, doch ihre Anwesenheit war so wunderschön, dass es mir die Sprache verschlug.
Ich schnappte mir meinen gepackten Rucksack und warf ihn mir schwungvoll über die Schulter. Schnell blickte ich noch hinüber in Lucys Zimmer. Sie war nicht dort. Wahrscheinlich würde sie schon auf mich warten. Ein Grund mehr sich mehr zu beeilen.
Wie jeden Morgen verabschiedete ich mich von meinen Eltern und Piper, die mir um den Hals fiel. Überrascht, aber glücklich erwiderte ich ihre Umarmung.
«Bis später, Henry», lächelte Piper mich an, als wir uns von der Umarmung lösten.
«Ich habe dich lieb!», fügte sie noch hinzu.
«Ich dich doch auch!», rief ich so laut ich konnte, damit Piper es auch verstand. Ich bekam nicht jeden Morgen von Piper eine Umarmung. Wir verstanden uns eigentlich gut, klar gab es hin und wieder mal ein paar nicht so schöne Situationen, aber das gehörte auch dazu.
Mir wurde klar, dass die Zeit schneller rennt als man leben könnte. Also verwende ich lieber die Zeit mit schönen Erinnerungen, statt mit Streit.
Lucy stand schon auf unserer Veranda und wie vermutet, wartete sie auf mich. Ich lächelte und streckte meine Hand in die Höhe - als Begrüßung.
«Ich hoffe, du musstest nicht allzu lange warten!»
«Nein, ganz und gar nicht. Ich bin schon früh auf und war im Park spazieren. Morgens ist die frische Luft so entspannend», erzählte Lucy. Es war interessant, dass sie wohl schon so früh auf war. Der Park war also wirklich ihr Lieblingsort. Wie oft sie Nachmittags wohl dort war?
«Dann ist ja gut. Wollen wir losgehen?» ,fragte ich sie mit einem Lächeln im Gesicht.
«Gerne! Wir sind pünktlich, also haben wir genug Zeit zum Reden», lächelte Lucy. Wir liefen gemütlich und unterhielten uns. Lucy warf immer mal wieder einen Blick auf die Uhr, um die Zeit im Auge zu behalten.
«Ich hoffe, du fandest es nicht allzu komisch, dass ich dir einen Brief geschrieben hab. Ich konnte dich wie gesagt leider nicht persönlich fragen, weil ich Zuhause bleiben sollte.»
«Ganz im Gegenteil, ich habe mich sehr über den Brief gefreut, aber warum solltest du Zuhause bleiben?», fragte ich etwas neugierig.
«Ehrlich gesagt, weiß ich es selbst nicht genau. Jedenfalls war es meinem Dad unglaublich wichtig.» Merkwürdig. Was wusste ihr Dad, was ich nicht wusste?
«Sicher gab es einen vernünftigen Grund dafür. Hast du für den Test in der Schule gelernt?», wechselte ich das Thema.
«Sicher doch, ich freue mich sogar drauf, ist mein Lieblingsfach.»
Die Zeit ging furchtbar schnell vorbei und wir waren an der Schultür angelangt.
«Lady's first» Ich hielt Lucy die Tür auf, damit sie als erste hindurch laufen konnte.
«Wie nett von dir, danke» Auch ich lief durch die Tür und weiter in unser Klassenzimmer.
Nach der Schule verabschiedete ich mich von Lucy und machte mich mit Charlotte und Jasper auf den Weg zu Junk-N-Stuff.
In der Schule ist uns dreien nicht wirklich was wichtiges, bezüglich der vermissten Kinder aufgefallen. Vielleicht hatten Ray und Schwoz ja mehr Glück als wir. Hoffte ich zumindest!
Der Test in der Schule verlief bei mir recht gut. Lucy war die beste in der Klasse, was ziemlich beeindruckend war. Dank ihr, hatten wir keine Hausaufgaben.
Unten in der Meanhöhle angekommen, erwartete uns Ray.
«Gut, dass ihr da seid. Wir haben ausgezeichnete Neuigkeiten!», sagte Ray schon fast hektisch.
«Nicht war, was denn?», antwortete ich und stellte meinen Rucksack auf den Boden. Charlotte tat es mir gleich. Jasper blieb oben im Laden und kümmerte sich um die Kunden.
«Wir haben den richtigen Standort der verschwundenen Kinder gefunden. Ich sollte normal jetzt sofort los.» Ich sah Ray ernst an. Was meinte er mit 'ich' ? Gingen wir nicht sonst immer zusammen?
«Du meinst 'wir' sollten sofort los», verbesserte ich Ray.
«Nein, 'ich' sollte sofort los, weil ich Unzerstörbar bin und du nicht. Hör zu Henry, ich will nur, dass dir nichts passiert», verbesserte Ray anscheinend mich. Mir wäre am liebsten die Kinnlade heruntergefallen und Charlotte neben mir bestimmt auch. Doch ich wählte erst sorgfältig meine Worte, bevor ich sie aussprach.
«Ich bin dein Gehilfe, also sollte ich egal wo an deiner Seite stehen. Egal wo, egal gegen wen. Ich weiß, dass ich keine Superkräfte habe wie du, doch ich habe Mut und der gehört genauso viel dazu», sprachlos von meinen eigenen Worten, wartete ich auf eine Antwort von Ray.
«Henry, du weißt, ich will dich nur beschützen! Also, werde ich allein gehen, so leid es mir auch tut», war Rays erbarmungslose Antwort. Ich fühlte mich benutzt und hilflos.
«Du hast ja recht! Ich wäre fast von einer Kugel getroffen worden und gestorben, wenn du nicht gewesen wärst. Also, sag mir was kann ich schon? Eben nichts.»
Ich schnappte mir meinen vor kurzem abgestellten Rucksack, schwang ihn mir erneut über die Schulter und ging. Ich hörte noch letzte Rufe meinen Namen sagen die ich aber genussvoll ignorierte. Ich konnte mich jetzt nicht einfach umdrehen.
Ich war wütend und verletzt, wahrscheinlich mehr verletzt, aber das war mir in diesem Moment völlig egal. Still und heimlich schlich ich mich an Jasper vorbei; der einem Kunden eine Popcornmaschine zeigte. Gedankenverloren lief ich ohne Plan durch die Stadt. Keine Ahnung wieviel Uhr es war, keine Ahnung, wo ich hingehen würde. Bis mir eine Stimme tief in meinem inneren einen Hinweis gab. Lucy. Vielleicht war sie wie die meiste Zeit ihrer Freizeit im Park? In der Hoffnung sie dort zu finden, machte ich mich auf den Weg und auf einmal konnte ich nur noch an sie denken. Der Rest war wie weggeblasen.
Die ganze Zeit über hatte ich keine Ahnung wo ich war, doch als ich an Lucy dachte, viel es mir ein und es waren nur noch ein paar Meter bis zum Ziel. Die letzten paar Meter rannte ich fast schon, so sehr brauchte ich jetzt ihre Anwesenheit, mit ihrer so beruhigenden Stimme. Ich wünschte, ich könnte ihr alles erzählen. Lucy saß auf einer Bank etwas abseits. Sie wirkte so ... traurig und vertieft in sich gekehrt. Große Tränen rannen ihr Gesicht hinunter und sie schluchzte laut. Was mir förmlich mein Herz brach. Was war passiert? Warum weinte sie? Um sie nicht zu erschrecken machte ich mich durch meine Schritte etwas bemerkbar. Sie drehte sich mit ihrem verweinten Gesicht überrascht zu mir um, was sie fast noch bezaubernder wirken ließ.
«Was machst du denn hier?», fragte sie und wischte sich ihre Tränen ab.
«Das gleiche könnte ich dich fragen ... warum weinst du denn?» Vorlauter Mitleid, weil ich ihr so sehr helfen wollte, blendete ich um mich herum alles aus. So gab es nur noch mich und Lucy, sonst niemanden.
«M-Meine Mom h-hatte einen A-Autounfall, in New York. Sie ist T-T-Tod. M-Mein Dad hat e-es mir vorhin erzählt.» Sie stotterte, weil sie vorlauter schluchzen kaum sprechen konnte. Sprachlos setzte ich mich neben sie und schaute sie Traurig an.
Wie gern ich ihr jetzt die Welt zu Füßen legen würde nur, damit ich ihr wunderschönes Lächeln auf ihrem Gesicht sehen könnte.
«Oh, Lucy, das tut mir so leid. Das einzige, was ich dir sagen kann, ist, dass auch Schmerz vorbeigeht. Denk an die Wunderschönen Erinnerungen, die du mit ihr hattest und wie dankbar du ihr bist, dass sie für dich da war. Lerne damit zu leben, du musst sie ja nicht vergessen.»
Weitere Tränen rannen unaufhaltsam ihre Wangen hinunter. «Danke, Henry.» Wenigstens schluchzte sie nicht mehr, denn das verursachte in mir Schmerzen.
«Wenn du willst, lass ich dich allein.» Als ich mich von der Bank erhob, und stand, hielt Lucy mich auf.
«Kannst du nicht bleiben?» Ich drehte mich um und Lucy schlang ihre Arme um mich. Überrascht, weil ich nicht wusste, was ich tun sollte, legte ich meine Arme einfach ebenfalls um sie.
«Ich brauch dich doch ...», flüsterte sie mir ins Ohr. Worauf hin mein Herz fast anfing davon zu schmelzen. Ich brauchte sie doch auch, dass wurde mir an diesem Tag mehr als nur bewusst. Mein ganzer Körper kribbelte vor Glücksgefühlen, sie in meinen Armen zu wissen.
«Und ich dich erst ... »
Diesen Tag würde ich niemals vergessen, diese Gefühle, die ich zum ersten Mal fühlte.
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