𝐈𝐗
Eigentlich hatte Luc heute Abend Spaß im Pool und mit seinen Freunden haben wollen. Nun saß er zusammengedrängt in einem Kreis Jugendlicher und beobachtete die sich drehende grüne Glasflasche. Etienne war Feuer und Flamme gewesen, als er sie zum Spielen seines absoluten Lieblingsspiels aufgefordert hatte. Luc hatte nicht Nein sagen können, was eine seiner Schwächen war. Er dachte immer, er verletzte Menschen, wenn er sie oder ihre Ideen ablehnte. Sein Ziel war es immer alle möglichst glücklich zu machen. An sich selbst dachte er selten, was nicht unbedingt positiv war.
„Noelle! Wahrheit oder Pflicht?" Die angesprochene Blondine neben ihm kicherte leise. Sie war unfassbar aufdringlich, das hatte Luc schon nach den ersten Minuten des Spiels gemerkt, als sie angefangen hatte, den Abstand zwischen ihnen immer weiter zu verkleinern. Körperkontakt auf Krampf war nicht gerade eine Vorliebe von Luc. „Pflicht", giggelte sie und wickelte sich eine Strähne ihres platinblonden Haares um den Zeigefinger. „Okay", begann Adéle zu überlegen, „Schicke dein zuletzt gelöschtes Bild an deinen letzten Chat." Diese Aufgabe wäre für Luc kein Problem gewesen, da er seinen Papierkorb regelmäßig leerte. Ob es Noelle genauso ging, wusste er nicht. „Mein letztes Bild...", erwiderte sie, während ihre langen Gelnägel auf das Displays ihres Handys klackerten.
„Hier" Noelle hielt ihr Handy hoch und präsentierte der Gruppe einen Screenshot von Pinterest. Ihre Wangen verfärbten sich rot, als einige aus der Gruppe begannen zu lachen. Auf dem Foto befand sich ein Spiegelselfie eines Typens, der sich im Fitnessstudio fotografiert hatte. „Und mein letzter Chat ist...meine Mutter", stöhnte sie. „Na dann mal los", wurde Noelle von Adéle aufgefordert. Luc konnte auf ihr Handy schauen und sah, wie sie WhatsApp öffnete, den Chat mit ihrer Mutter auswählte und ihr mit verzogenen Gesicht den Screenshot zuschickte. „Luc, du kontrollierst, ob sie es auch wirklich gemacht hat", trug Etienne ihm auf. „Hat sie", bestätigte er, ehe Noelle nach der Glasflasche griff und sie zu rotieren begann.
Unterdessen ließ Luc seinen Blick schweifen, bis er schließlich an einer Blondine hängenblieb, die ihm direkt gegenübersaß. Aurelie. In ihrem oversized Flanellhemd sah sie wunderschön aus und die dünnen Strähnen, die sich aus ihrem Dutt gelöst hatten, fielen ihr sanft ins Gesicht. Plötzlich verspürte Luc eine ungewohnte Anziehung zu Aurelie, die er sich nicht erklären konnte. Bis jetzt hatte er sie immer nur als Bekannte, höchstens Mitschülerin angesehen, doch jetzt – es war irgendwie anders. Schon als sie angeboten hatte, sich „einfach mal so" mit ihm zu treffen, hatte es in seiner Brust undefinierbar gekribbelt. Luc glaubte nicht, dass Aurelie mit ihm flirten wollte, allerdings hatte das sich vorhin ganz anders angehört.
Plötzlich spürte Luc eine Hand auf seinem Oberschenkel, die langsam auf und ab strich. Noelles Hand, die sich dorthin verirrt hatte. Er verstand nicht, warum sie versuchte, gezwungene Aufmerksamkeit von ihm zu bekommen. Waren seine Signale von Desinteresse nicht deutlich genug? Energisch schob er ihre Hand von seinem Bein herunter, was sie mit einem enttäuschten Gesichtsausdruck quittierte. Und da war wieder das Schuldgefühl, welches sich in Lucs Brust breitmachte. Er hatte jemanden enttäuscht – genau das, was er nicht wollte. Du musst mehr auf dich selbst und nicht nur auf andere achten, machte eine Stimme ihm klar. Diese Stimme kam aus seinem Kopf, doch es war nicht die seine – es war Aurelies Stimme, die ihm da gerade einen Ratschlag gegeben hatte. Es kam ihm so vor, als hätte sie diesen Satz schon tausendfach gesagt, allerdings konnte er sich nach intensiverem Nachdenken an kein passendes Szenario erinnern.
„Luc!", wurde er von Adéle aus den Gedanken gerissen. Er hatte ein gutes Stück des Spiels verpasst, denn inzwischen hatten Henry und Lamya Klamotten getauscht (was zugegebenermaßen ziemlich seltsam aussah: Henry trug nun einen viel zu kleinen Bikini und Lamya eine Badeshorts mit einem übergroßen T-Shirt) und ein paar der Mitspielenden hatten sich in den Pool verabschiedet. „Hm?", antwortete er und drehte sich in Adéles Richtung. „Du bist dran! Wahrheit oder Pflicht?" Erst jetzt fiel sein Blick auf die längst gestoppte Glasflasche, deren Hals genau auf ihn zeigte. Na wunderbar...
„Pflicht", seufzte Luc. Auf irgendwelche dummen Fragen über seine peinlichsten Situationen und Kindheitscrushes hatte er jetzt echt keine Lust. „Gute Wahl", entgegnete Etienne, unterdessen er sich nachdenklich durch seine langen Locken strich. Er tat so, als würde er angestrengt überlegen, dabei sah man ihm an, dass er schon einen genauen Plan hatte, welche Aufgabe er Luc aufzwängen wollte. „Okay, du darfst jemanden küssen", begann er und Luc stöhnte genervt. Im Allgemeinen hatte er kein Problem damit Menschen zu küssen, nur war er sich ziemlich sicher, wen Etienne auswählen würde. Es hatte sicherlich jeder Lucs Desinteresse gegenüber Noelle mitbekommen, die beste Möglichkeit ihn zu ärgern war also, ihn sie küssen zu lassen.
Ein allgemeines Raunen ging durch die Runde. Etienne, der in der Vergangenheit schon einige gewagte Aufgaben gestellt hatte, grinste breit. „Gut. Dann..." Er hielt inne und sah sich um, als ob sie nach der perfekten Herausforderung suchte. „Du musst Aurelie küssen." Max starrte sie an, die Überraschung in seinen Augen deutlich zu sehen. Damit hatte er absolut nicht gerechnet. Aurelie hielt seinen Blick, den er ihr zugeworfen hatte, stand und ein flüchtiges Lächeln spielte um ihre Lippen. Fast provokativ, so wie er es von ihr kannte. Ihre Freunde begannen zu kichern, doch Luc konzentrierte sich nur auf Aurelie. Was sollte er jetzt tun?
„Ernsthaft?" fragte Luc, seine Stimme unsicher, allerdings konnte man bei genauem Zuhören auch etwas Neugier heraushören. Etienne nickte langsam. „Ernsthaft." Luc stand auf und ging auf Aurelie zu, seine Hände nur leicht zitternd vor Nervosität. Was konnte schon schiefgehen, dachte er sich, als er sich vor ihr positionierte, senkte er langsam den Kopf. Aurelie erwiderte seinen Blick, und die Welt um sie herum schien für einen Moment stillzustehen. Ihre Augen trafen sich, und in diesem Augenblick schien die Ungezwungenheit der Spielrunde auf die Intensität eines tiefen, persönlichen Moments zu treffen. Ihr Augen loderten auf und Luc konnte das Entzücken und die Sehnsucht darin erkennen. Es war wie eine Zustimmung und ein Startsignal gleichzeitig.
Langsam und zärtlich berührten ihre Lippen sich, der Kuss begann sanft, beinahe schüchtern. Die Berührung war warm und überraschend intim, als ob sie die ungesagten Gefühle zwischen ihnen offenbaren würde. Luc schloss die Augen und ließ sich ganz auf den Moment ein, während Aurelie ihre Hand an seine Wange legte, um ihn näher zu ziehen. Alles in ihm begann zu kribbeln und ihre Berührung setzte eine Wärme frei, die Luc noch nie zuvor gespürt hatte. Von ihren Differenzen der letzten Wochen war nichts mehr übrig. Im Augenblick zählte nur der jeweils andere und Lucs Herz, was einen gefährlichen Sprung machte.
Die Umstehenden verstummten, der Kuss dauerte nur wenige Sekunden, aber es fühlte sich an wie eine Ewigkeit. Als sie sich schließlich voneinander lösten, waren ihre Gesichter beide leicht gerötet, und sie sahen sich mit einer Mischung aus Verwirrung und neu entdecktem Verständnis an. Es war, als hätte er ihr gerade seine, über den Abend angesammelten, unentdeckten, Gefühle gestanden.
„Wow," murmelte Luc, als er sich zurücklehnte und versuchte, seine Gedanken zu ordnen, „das war... unerwartet." Etwas Besseres brachte er gerade nicht zustande. Der Kuss war unbeschreiblich gewesen. Nur kurz hatte er den Augenkontakt zu Aurelie unterbrochen, da flackerte ihn ihren Augen etwas wie Panik auf. „Sorry", hauchte sie, bevor sie von ihrem Kissen aufsprang und aus dem Garten rannte. Verdattert sah er ihr hinterher. Er hatte mit allem gerechnet, aber definitiv nicht mit einem Abgang ihrerseits.
„Aurelie, warte!" rief Luc ihr hinterher. Er hatte sofort gemerkt, dass etwas ernsthaft nicht stimmte, und war aufgestanden, um ihr zu folgen. Die protestierenden Rufe seiner Kumpels, als er ihre Biergläser umstieß, nahm er schon fast nicht mehr wahr. „Bitte, warte!" Lucs Stimme war voll von Verzweiflung und Besorgnis, als er sie bis auf die Veranda des Hauses verfolgte. Sie überquerte die Straße, während er versuchte, den Abstand zwischen ihnen zu verkürzen. „Aurelie, bitte, ich wollte dich nicht überfordern!" Aurelie blickte nicht zurück. Seine Gedanken wirbelten durcheinander – die Gefühle, die Feindschaft, die Zukunft. Er wusste nicht, was er tun sollte. Die parkenden Autos erschwerten die Verfolgungsjagd zusätzlich.
Die laue Nachtluft brannte in seinen Lungen und so langsam machte seine Kondition schlapp. Wie konnte Aurelie nur so lange und schnell rennen? Ihr schien es sehr wichtig zu sein möglichst schnell von ihm weg zu kommen. Keuchend bog er in die Seitengasse, in die Aurelie vermutlich eingebogen war. Sie war nirgends zu entdecken. Vom Erdboden verschluckt. Kopfschüttelnd betrachtete er die steinernen grauen Wände der anliegenden Häuser, bis sein Blick auf etwas buntes fiel. Es lag zwischen ein paar Abfällen und etwas Erde. Ein selbstgeknüpftes Freundschaftsband. Aurelies selbstgeknüpftes Freundschaftsband...
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