
Kapitel 24
Seit Cassiel weggefahren ist, habe ich nichts mehr von ihm gehört. Ich habe sogar Léon geschrieben, aber auch er weiß nichts Neues. Als wäre er vom Erdboden verschluckt worden.
Sorge lässt mein Herz eng werden, während ich in meinem Zimmer am Fenster sitze und hinaus in die anbrechende Dämmerung starre. Wo bleibt er nur?
Bedächtig klopft es an meine Zimmertür und ich horche auf.
„Herein!"
Neugierig steckt mein Vater seinen Kopf durch die Tür, ehe er sie ganz öffnet und mein Zimmer betritt. Er läuft vorbei an den halb offenen Umzugskartons, die überall in meinem Zimmer verteilt stehen. Mein eigentlicher Plan war mal, dass ich ausziehe, doch dann passierte das mit Alba und alles lief anders als geplant. Jetzt stehen sie, wie dekorative Elemente, als stille Erinnerung an meine Pläne hier.
„Was machst du Schatz?" Sein Blick streicht weich über mein Gesicht. Doch da ist noch mehr. Auch wenn er versucht es zu verstecken, sehe ich seine Besorgnis. Auch wenn ich ihm nichts von meinem Surfunfall erzählt habe.
„Auf Cassiel warten", antworte ich schlicht und er setzt sich neben mich ans Fenster. Seine Anwesenheit ist beruhigend und ich bin dankbar, dass er hier ist.
„Dad?" Als würde das Gewicht der Welt auf mir ruhen, seufze ich und wende ihm mein Gesicht zu. Aufmerksam betrachtet er mich, dann nimmt er meine Hände in seine.
„Ich weiß, dass die letzten Wochen für dich auch hart waren und ich weiß, dass du für mich da sein wolltest. Ich danke dir dafür, auch wenn ich deine Hilfe nicht angenommen habe."
Unergründlich sieht er mich an. „Du bist meine Tochter. Was wäre ich für ein Vater, wenn ich nicht alles für dich geben würde?"
Mein Blick wird von seinen gütigen Augen gefangen gehalten und für einen Moment will ich ihm nur noch alles erzählen. Will meinen Kummer und meine Sorge mit ihm teilen, denn ich weiß, er würde sie für mich tragen. Doch ich darf es nicht. Zu viel steht auf dem Spiel, zu viel, dass wir verlieren könnten.
Als wenn er wüsste, was in mir vorgeht, zieht er mich an sich und mit einem Mal komme ich mir wieder vor wie ein Kind. So viel Liebe und Sicherheit verspüre ich sonst nur bei einem weiteren Menschen.
Cassiel.
Ich gestehe es mir selbst ein, als wäre es das erste Mal. Selbst wenn ich versuche mich vom Gegenteil zu überzeugen, es mir verbiete und jeden Gedanken an ihn aus meinem Kopf verbanne, ich lande immer wieder bei ihm. Alles hat sich geändert, nur dieses Gefühl, dass mich fest im Griff hat und mich nicht mehr loslässt, ist das selbe wie vorher. Ich liebe ihn. Endlich kann ich es wieder zugeben, kann den Konflikt zwischen meinem Herz und meinem Kopf begraben.
„Wollte Cassiel noch vorbei kommen, oder warum wartest du auf ihn?", fragt mein Vater, sein Kopf ruht auf meinem Scheitel.
Erst jetzt fällt mir auf, dass er mich in all der Zeit nicht einmal nach Cassiel gefragt hat, obwohl er bemerkt haben musste, dass ich nicht nur um Alba trauerte. Er verurteilte ihn nicht, war nicht sauer auf Cassiel. Stattdessen konzentriert er sich auf mich und das, was ich glaube, dass mich glücklich macht. Ob das Cassiel ist oder nicht spielt für ihn keine Rolle.
Schwach nicke ich an seiner Schulter. „Er hatte es zumindest vor."
Hoffnung ist inzwischen alles was mir übrig geblieben ist. Also hoffe ich, klammere mich an diesen Strohhalm, wie an mein Leben. Ich hoffe, dass Cassiel zu mir zurückkommt.
Gemeinsam fliegen unsere Blicke aus dem Fenster, folgen den Vögeln, die über den Himmel tanzen. Die Wolken, die zuvor alles verhingen, haben sich verzogen und geben die Sicht frei auf eine orange leuchtende Freiheit. Es versetzt mich wieder in die Zeit zurück, als Cassiel und ich uns die Sonnenuntergänge angesehen haben und wir uns genügt haben. Er flüsterte mir leise Versprechen ins Ohr und ich lächelte und konnte die Erfüllung dieser Versprechen nicht abwarten. Denn eins war bei Cassiel gewiss. Er hielt immer, was er versprach.
Plötzlich zieht ein grelles Aufblitzen meine Aufmerksamkeit auf sich. Mit klopfendem Herzen löse ich mich von meinem Vater und stehe auf um besser sehen zu können.
Die Scheinwerfer von Cassiels Wagen erleuchten die kleine Straße.
Noch bevor mein Gehirn die Information verarbeiten kann, übernimmt mein Körper. Ich renne aus meinem Zimmer, die Treppe runter und aus dem Haus. Cassiel ist gerade dabei auszusteigen, da werfe ich mich ihm auch schon in die Arme.
Der Druck auf meinem Herzen löst sich mit einem Schlag in Luft auf.
„Du hast es geschafft!", hauche ich gegen seine Brust, während er versucht das Gleichgewicht zu behalten.
„Natürlich habe ich es geschafft", antwortet er überrumpelt, doch seine Arme schließen sich trotzdem fest um mich. Seine Wärme hüllt mich angenehm ein.
„Tu nicht so, als wenn es selbstverständlich gewesen wäre! Wir wissen beide, dass dem nicht so ist", motze ich ihn an, verharre aber weiter in seinen Armen. Kein Ärger dieser Welt könnte mich von hier vertreiben. Nicht mehr.
Vorsichtig schiebt er mich an den Schultern ein Stück von sich weg, damit er mir in die Augen sehen kann. Dunkles Blau zieht mich in seinen Bann, weckt das Gefühl von Vertrauen in meinem Herzen.
„Ich habe es gefunden Ivy. Ich habe die Beweise. Jetzt kann ich meinen Vater aufhalten." In dem Meer aus Blau entdecke ich düstere Schlieren. Was auch immer er für Beweise gefunden hat, sie müssen ihn zutiefst erschreckt und schockiert haben. Hinter seiner tapferen, gelassenen Maske erkenne ich einen aufsteigenden Sturm und ich weiß nicht, ob das gut oder schlecht ist.
Tief durchatmend lehnt er seine Stirn sanft an meine, seine Hand streicht sacht über meine Wange.
„Ich habe dir versprochen, dass ich meine Unschuld beweisen werde." Eine kurze Pause entsteht. „Und ich habe mein Wort gehalten."
Mit geschlossenen Augen wartet er auf meine Reaktion. Zwischen uns hängt eine unausgesprochene Frage, die mir fast das Herz wieder bricht.
Die Frage, ob die Beweise ausreichen um meiner Liebe wieder würdig zu sein.
Ohne zu denken, lege ich meine Hände an sein Gesicht. Eine Geste, die ich schmerzlichst vermisst habe.
„Ich war mir unsicher. Ich hatte Angst, dass ich erneut zerbrechen würde. Doch nun brauche ich keine Beweise mehr um mir sicher zu sein." Seine Augen öffnen sich und wie tausende Male zuvor ertrinke ich im tiefen Blau. „Ich liebe dich."
Unter meinen Worten erstarrt er, sieht mich nur an, seine Pupillen ein kleines Stück geweitet. Dann zieht er mich an sich und als sich unsere Lippen treffen, habe ich die Gewissheit, dass uns das alles nicht zerstören konnte und auch niemals wird.
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