39. Kapitel
Die Ringelblume erinnert Clive an eine kleine Version der Sonnenblume, es gibt sie mit gelben und orangen Blüten. Die Wuchshöhe kann bis zu achtzig Zentimeter erreicht werden. Die Calendula officinalis wird nicht nur gerne in den Salat gewürfelt oder für mehr Farbe in den Speisen gewählt, sie ist auch eine Heilpflanze und damit interessant für Clive. Mal davon abgesehen, dass der junge Alchemist die bitteren Salate aus der Küche des Magisterturms nie wohl bekommen sind, arbeitet Clive gern mit der Ringelblume. Das im Magisterturm zubereitete Grünzeug hingegen stellte vielen Alchemisten vor der Herausforderung, es hinunterzuwürgen und in sich zu behalten. An solchen Tagen fühlte sich Clive wie ein Kaninchen, das mit Löwenzahn und anderen Pflanzen gefüttert wurde. Auch der Löwenzahn kann zu Arznei verarbeitet werden, aber gerade jetzt hat Clive nur Augen für die Ringelblume.
Allein bei dem Anblick der hübschen Blüten rattern die Zahnräder in seinem Kopf, listen ihm die Inhaltsstoffe, die Verwendungsmöglichkeiten, seine Erfahrungen mit der Blume und die grauenvollen Erinnerungen an den Salat auf. Clive schätzt die Wirkung der Heilpflanze und jetzt in den ersten Sommertagen beginnt die Blüte-/Erntezeit. Eine Tatsache, die Clive bei all dem Trubel verdrängt hat.
Wäre im Hintergrund nicht die nervtötende Stimme von Jelko, die ihn laufend ermahnt, dass für Pausen keine Zeit bleibt, könnte Clive diesen Fund deutlich mehr genießen. Der Geduldsfaden seines Geisterkumpels ist sehr kurz und die beschwichtigen Worte des Versprechens, die aus seinem Mund kommen, wirken auf Clive falsch. Auch wenn der Alchemist weiß, dass ihm die Zeit fehlt, möchte er verharren und sich den Ort genauestens einprägen. Er muss einem Kräuterhändler zuvor kommen, die Betonung liegt auf muss. Diese prächtigen Ringelblumen sind erntefrisch und warten nur darauf von Clive verarbeitet zu werden. Hier auf dieser Wiese abseits des Dorfes, auf einer Lichtung zwischen den Bäumen, tanken die Blumen Sonne und wurden von der Dürre wie durch ein Wunder verschont. Der Boden hier ist im Gegensatz zu der staubigen Schicht, worauf die Dorfhäuser gebaut wurden, ertragreich und gut bewässert. Ein kleines Paradies hat sich in ihrer Nähe erhoben.
Die Ringelblumen sind zum Greifen nah, gehören jedoch zum Glück nicht der brennenden Geisterwelt. Jelko reicht es, er stampft zu dem Alchemisten wie eine erzürnte Mutter und reißt ihn mit einem kräftigen Ruck hinauf die Beine. Es folgt ein böser Blick und nun wird Clive wie ein Kind fortgerissen, einfach entführt. Statt sich zu wehren, versucht er sich den Fundort einzuprägen. Er muss hierher zurück, an diesen wundervollen Ort.
Schnaubend zieht Jelko ihn tiefer in den Wald, bis der Boden bedrohlich erschüttert. Aus der Ferne nehmen die beiden Geister das Gebrüll eines tobsüchtigen Kindes war.
„Ähm?", mehr kommt aus Jelkos Mund nicht heraus.
„Ein wütender Geist?", grübelt Clive.
Der junge Kommandant betrachtet ihn entgeistert. „Möglich."
Die Stille zwischen den beiden Kerlen beunruhigt Clive mehr als die Geräuschkulisse. Bevor der Alchemist zum Reden ansetzen kann, setzt sich Jelko in gebückter Haltung schleichend vorwärts. Mit jedem weiteren Schritt nimmt Clive seinen steigenden Puls wahr. Die beiden huschen von Gebüsch zu Gebüsch. Sie verstecken sich hinter Baumstämmen und einmal blieb Clives Herz stehen, als ein Fuchs an ihnen vorbei flitzt. Das kleine Raubtier macht Jagd auf einen Hasen und lässt Clive für einen Moment die Bedrohung vergessen. Bis er den nächsten Fund entdeckt.
Bewundernd betrachtet der Alchemist das vertraute Flugobjekt - eine kleine Bastelarbeit mit Rebecca. Die Bombe erzielt den gewünschten Effekt, sie lässt die Luft vibrieren und mit viel Krach explodiert der Behälter in der Luft. Schwarze Rauchschwaden versperren die Sicht. Die Bombe hingegen ist nicht der Auslöser für diese Erschütterungen, wie Clive in den nächsten Momenten feststellen muss. Jelko führt ihn ganz leise zu einem Baum, wo ein Kind angebunden ist. Der kleine Junge mit dem muskulösen Körperbau und dem hochroten Kopf hat eine einschüchternde Wirkung auf den Alchemisten. Das Kind tobt selbst in den Fesseln, es trommelt mit den Beinen pausenlos auf den Boden.
Jelko verlangt das Unmögliche von ihm: „Clive, du musst das Band zerstören, sobald ich seinen Körper übernommen habe."
„Was?" Clive sieht schockiert auf. „Was ist mit dem Jungen?"
„Sagte ich doch bereits." Jelko rollt seine Augen und schnaubt genervt. „Das ist das Werk der Hexe."
Der altbekannte Zank zwischen Rebecca und Cuno lenken den Alchemisten ab. Besorgt blickt er zu seinen Gefährten herüber, die Diebin diskusstiert mit dem Paladin. Aus den Gesprächsfetzen hört er, dass sich Cuno besser fern von der Hexe halten soll.
Jelko handelt, drückt Clive hinunter. Über ihnen surrt etwas hinweg, die Temperaturen steigen. Schockiert beobachtet der Alchemist eine flammende Peitsche, die in Windeseile Bäume umhaut und die bekannte Hexenhütte einreißt. Das gefährliche Werkzeug in Luelas Händen hinterlässt eine Feuerschneise. Mit nur einem Hieb fallen die Bäume hinab und drohen, die Menschen, um Luela herum, zu erschlagen. Cuno handelt und rettet ein bewusstloses Kind. Clive betrachtet staunend das Geschehen, wie das Holz nacheinander zu Boden kracht. Er zählt einige Kinder, die vor der Hütte liegen und erkennt unter den wenigen Dorfbewohnern Feline – die Tochter des Wirts wieder.
Auch wenn Jelko nach Clive ruft, hat dieser nun Augen für die Hexe. Denn Luelas Haare haben sich verändert, die Spitzen glühen in den Farben des Feuers wie ihre Augäpfel. Sämtliche Menschlichkeit sucht der Alchemist vergebens an ihr. Das Teufelsweib verhält sich wie ein wildes Tier, das sich bedroht fühlt. Sie fletscht die Zähne und fixiert Rebecca an, die sich tapfer präsentiert als jene Krieger, den Clive je zu Gesicht bekommen haben. Der Langfinger staunt mit einer großen Bewunderung über die Veränderung. Sie provoziert die Hexe und arbeitet nun mit der Schleuder.
„Sie muss dumm sein, sich Luela in den Weg zu stellen. Das passiert, wenn sich Frauen für Krieger halten!", hört Clive Jelko sagen.
Der Alchemist belächelt diese Aussage. „Sie ist taffer und furchtloser als es je ein Mann es sein könnte."
„Das bezweifle ich."
„Sagt der Krieger, der von einer Hexe getötet wurde."
Die darauffolgende Stille betrachtet Clive als seinen Sieg.
Der Alchemist möchte Rebecca unbedingt helfen. Also dreht er sich entschlossen um.
„Ich schlage vor, du kümmerst dich um das Loch. Sei aber vorsichtig. Ich gehe und helfe ihr."
„Ach ...ist deine Freundin doch nicht so stark, wie du behauptest?", folgt der Spott.
„Gegen Mächte wie diese braucht ein jeder Unterstützung, auch wenn ich nicht an Rebeccas Fähigkeiten zweifle", äußert sich Clive dazu und beobachtet die Hexe. „Außerdem, was wäre ich für ein Kamerad, wenn ich nur hier rumstehe und zuschaue?"
Er bemerkt, wie Jelko sich über ihn lustig macht. Ihn mit albernen Mundbewegungen imitieren möchte. Fast, als würde der Alchemist eine langweilige Predigt halten. Daraufhin werden Clives Augen schmal.
Das scheint Jelko herzlich wenig zu interessieren, denn er streckt den rechten Arm aus. Das tobsüchtige Kind verstummt, lässt plötzlich den Kopf hängen. Clives Nackenhaare sträuben sich, als sich die Augäpfel seines Geisterkumpels drehen und das Weiße der Augäpfel hervortritt. Dann geschieht es von jetzt auf gleich. Als wäre das königliche Kind plötzlich das Zentrum eines Strudels, wirbelt eine gewaltige Macht um den Jungen. Der Königssohn beginnt zu leuchten und der Wind peitscht um ihn herum. Der Windsog greift mit den gierigen Klauen eines Monsters nach Jelko und zieht ihn Stück für Stück näher ins Zentrum. Der junge Kommandant hat es schwer, sein Gleichgewicht zu halten. Helle Lichterbälle so groß wie Spatzen lösen sich von seiner vertrauten Gestalt, immer und immer mehr, bis von Clives Geisterkumpel nichts mehr über bleibt. Als wäre die Macht um das Königskind gesättigt, versiegt der Strudel.
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